43

Mitten auf der Main Street in May, Oklahoma, lag ein Toter. Nick war nicht überrascht. Er hatte viele Tote gesehen, seit er Shoyo verlassen hatte, aber er vermutete, daß er nicht einmal ein Tausendstel der Leichen gesehen hatte, an denen er vorbeigekommen war. Stellenweise war der Geruch des Todes so schwer und dicht, daß er einem das Bewußtsein zu rauben drohte. Ein Toter mehr oder weniger spielte da keine Rolle. Aber als der Tote sich aufrichtete, explodierte ein solches Entsetzen in Nick, daß er wieder die Kontrolle über das Fahrrad verlor. Es schwankte, wackelte, dann kippte es um, und Nick stürzte heftig auf das Pflaster der Oklahoma Route 3. Er zerkratzte sich die Hände und schürfte sich die Stirn auf.

»Du lieber Himmel, Mister, Sie sind ja ganz schön hingefallen«, sagte der Tote und kam in einem Tempo zu Nick herüber, das man bestenfalls als hilflos eifriges Taumeln bezeichnen konnte. »Stimmt doch, oder? Meine Güte!«

Nick bekam nichts davon mit. Er blickte auf den Asphalt zwischen seinen Händen, auf jene Stelle, auf die das Blut von seiner aufgeschürften Stirn tropfte, und fragte sich, wie schlimm er verletzt war. Als ihn eine Hand an der Schulter berührte, fiel ihm der Tote wieder ein, und er krabbelte auf Handflächen und Schuhsohlen davon; das Auge, das nicht von einer Klappe bedeckt wurde, war vor Entsetzen weit aufgerissen.

»Nur keine Bange«, sagte der Tote, und Nick sah, daß es überhaupt kein Toter war, sondern ein junger Mann, der ihn strahlend ansah. Er hatte eine Flasche Whiskey in einer Hand, und jetzt begriff Nick. Kein Toter, sondern ein Mann, der sich betrunken hatte und mitten auf der Straße umgekippt war.

Nick nickte ihm zu und machte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. In diesem Moment rann ihm ein Tropfen Blut in das Auge, das Ray Booth bearbeitet hatte, und es tat weh. Er hob die Augenklappe und strich mit dem Unterarm darüber. Heute war auf dieser Seite wieder eine leichte Besserung eingetreten, aber wenn er das gesunde Auge schloß, verwandelte sich die Welt um ihn herum noch immer in bunte, verschwommene Schlieren. Er brachte die Augenklappe wieder an, ging langsam zum Straßenrand und setzte sich neben einen Plymouth mit einem Nummernschild aus Kansas; der Wagen war fast schon bis auf die Felgen abgesenkt. Nick konnte das verzerrte Spiegelbild der Stirnverletzung auf der Stoßstange des Plymouth sehen. Die Kratzer und Schnitte sahen häßlich aus, waren aber nicht tief. Er würde die hiesige Apotheke suchen, die Wunde desinfizieren und ein Pflaster draufkleben. Er müßte eigentlich, dachte er, noch genügend Penicillin in sich haben, daß sein Körper mit praktisch allen Erregern fertigwerden konnte, aber die Erfahrung mit dem Streifschuß am Bein hatte ihm höllische Angst vor Infektionen eingejagt. Er zupfte mit verzerrtem Gesicht Gesteinssplitter aus den Handflächen.

Der Mann mit der Whiskeyflasche hatte das alles ausdruckslos beobachtet. Hätte Nick den Kopf gehoben, wäre ihm das gleich seltsam vorgekommen. Schon als er sich abgewandt hatte, um seine Wunde in der Stoßstange zu betrachten, war alles Leben aus dem Gesicht des Mannes gewichen. Es wurde leer und stumpf und völlig nichtssagend. Der Mann trug eine verblichene, aber saubere Latzhose und schwere Arbeitsschuhe. Er war ungefähr einsfünfundsiebzig groß und hatte so hellblondes Haar, daß es fast weiß wirkte. Seine Augen waren von einem hellen, klaren Blau, und wegen des strohigen Haares war seine schwedische oder norwegische Herkunft unverkennbar. Er sah nicht älter als dreiundzwanzig aus, aber später stellte Nick fest, daß er Mitte Vierzig sein mußte oder nahe dran, denn er konnte sich noch an das Ende des Koreakriegs erinnern und wie sein Daddy einen Monat später in Uniform nach Hause gekommen war. Unmöglich, daß er das alles erfunden haben konnte. Phantasie war nicht Tom Cullens starke Seite.

Er stand da, mit leerem Gesicht, wie ein Roboter, dem man den Stecker rausgezogen hat. Dann kam ganz allmählich wieder Leben in sein Gesicht. Er blinzelte mit whiskey-roten Augen. Er lächelte. Er wußte wieder, was die Situation erforderte.

»Du lieber Himmel, Mister, Sie sind ja ganz schön hingefallen. Stimmt doch, oder? Meine Güte!« Er blinzelte, als er das viele Blut auf Nicks Stirn sah.

Nick hatte einen Notizblock und einen Bic in der Hemdtasche; sie waren beim Sturz nicht herausgefallen. Er schrieb: »Sie haben mich erschreckt. Ich hielt Sie für tot, bis Sie aufgestanden sind. Mir ist nichts passiert. Gibt es hier einen Drugstore?«

Er zeigte dem Mann in der Latzhose den Block. Der Mann nahm ihn. Betrachtete das Geschriebene. Gab den Zettel zurück. Er sagte lächelnd: »Ich bin Tom Cullen. Aber ich kann nicht lesen. Ich bin nur bis zur dritten Klasse gekommen, aber da war ich sechzehn, und mein Daddy hat mich rausgenommen. Er sagte, ich wäre zu groß.«

Geistig zurückgeblieben, dachte Nick. Ich kann nicht sprechen, und er kann nicht lesen. Einen Augenblick war er völlig ratlos.

»Du lieber Himmel, Mister, Sie sind ja ganz schön hingefallen!« rief Tom Cullen. Irgendwie war es für beide so, als hätte er es jetzt zum ersten Mal gesagt. »Stimmt doch, oder? Meine Güte!«

Nick nickte. Steckte Block und Kugelschreiber wieder ein. Legte eine Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf. Hielt die Hände auf die Ohren und schüttelte den Kopf. Hob die linke Hand an den Hals und schüttelte den Kopf.

Cullen grinste verwirrt. »Zahnschmerzen? Hatte ich auch mal. Tat böse weh. Stimmt doch, oder? Meine Güte!«

Nick schüttelte den Kopf und wiederholte seine Pantomime. Diesmal tippte Cullen auf Ohrenschmerzen. Nick winkte resigniert ab und ging zu seinem Fahrrad. An manchen Stellen war Farbe abgeschürft, aber sonst schien es unbeschädigt zu sein. Er stieg auf und fuhr ein Stück die Straße entlang.

Ja, es war in Ordnung. Cullen lief neben ihm her und lächelte glücklich. Er ließ Nick nicht aus den Augen. Er hatte seit fast einer Woche niemanden mehr gesehen.

»Haben Sie keine Lust zu sprechen?« fragte er, aber Nick drehte sich nicht um, schien ihn nicht gehört zu haben. Tom zupfte ihn am Ärmel und wiederholte seine Frage.

Der Mann auf dem Fahrrad hielt wieder die Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf. Tom runzelte die Stirn. Jetzt war der Mann abgestiegen, hatte sein Rad auf den Klappständer gestellt und betrachtete die Schaufenster. Er schien gefunden zu haben, was er suchte, denn er trat auf den Bürgersteig und dann zu Mr. Nortons Drugstore. Pech, wenn er da reinwollte, denn die Drogerie war zu. Mr. Norton hatte die Stadt verlassen. Fast alle hatten Häuser und Geschäfte zugemacht und die Stadt verlassen, wie es schien, außer Mom und ihrer Freundin Mrs. Blakely, aber die waren beide tot. Jetzt versuchte der nichtsprechende Mann, die Tür aufzumachen. Tom hätte ihm sagen können, daß das zwecklos war, obwohl ein GEÖFFNET-Schild an der Tür hing. Das GEÖFFNET-Schild war ein Lügner. Wirklich schade, denn Tom hätte zu gern ein Ice Cream Soda gehabt. Das war viel besser als der Whiskey, der ihm zuerst geholfen, ihn dann müde gemacht und ihm zum Schluß schlimme Kopfschmerzen beschert hatte. Er war eingeschlafen, um die Kopfschmerzen loszuwerden, aber er hatte eine Menge verrückte Träume von einem Mann in einem schwarzen Anzug gehabt, wie ihn Reverend Deiffenbaker immer trug. Der Mann im schwarzen Anzug verfolgte ihn in seinen Träumen. Ein sehr böser Mann, fand Tom. Er hatte überhaupt nur getrunken, weil er das nicht durfte. Sein Daddy hatte ihm das gesagt und auch Mom, aber jetzt waren sie alle weg, und darum konnte er jetzt trinken, wenn er wollte. Aber was machte der nichtsprechende Mann jetzt? Nahm den Abfallkorb vom Gehweg hoch und wollte... was? Mr. Nortons Fenster einschlagen? KLIRR! Pest und Hölle, er hatte es schon getan! Und jetzt griff er hinein und machte die Tür auf...

»He, Mister, das dürfen Sie nicht!« schrie Tom mit vor Aufregung und Wut zitternder Stimme. »Das ist böse! M-O-N-D, und das buchstabiert man böse! Wissen Sie denn nicht...«

Aber der Mann war schon drinnen und drehte sich nicht einmal um.

»Sind Sie vielleicht taub, oder was?« rief Tom empört. »Meine Fresse! Sind Sie...«

Er verstummte. Alles Leben wich aus seinem Gesicht. Er war wieder der Roboter mit herausgezogenem Stecker. Im Mai war es nicht ungewöhnlich gewesen, den Tumben Tom so zu sehen. Er ging die Straße entlang, schaute mit diesem ewig glücklichen Ausdruck in seinem etwas rundlichen skandinavischen Gesicht in die Schaufenster, und plötzlich blieb er stehen und schaltete ab. Jemand rief vielleicht: »Da kommt Tom!«, und es wurde gelacht. Wenn Toms Daddy dabei war, runzelte dieser die Stirn, rempelte Tom mit dem Ellenbogen in di e Rippen oder klopfte ihm vielleicht sogar auf die Schulter oder den Rücken, bis Tom wieder zum Leben erwachte. Aber Toms Daddy war seit Anfang 1988 immer seltener in der Nähe gewesen, denn er ging mit einer rothaarigen Kellnerin aus, die in Boomer's Bar & Grille arbeitete. Ihr Name war Dee Dee Packalotte (über diesen Namen wurden nicht wenige Witze gerissen), und sie und Don Cullen waren vor etwa einem Jahr zusammen aBgehauen. Man hatte die beiden nur einmal gesehen, in einer billigen Absteige nicht weit entfernt, in Slapout, Oklahoma. Seither hatte man nichts mehr von ihnen gehört.

Die meisten Leute sahen in Toms häufigen Blackouts einen weiteren Beweis für seine geistige Zurückgebliebenheit, aber in Wahrheit waren es Momente fast normalen Denkens. Der menschliche Denkprozeß basiert (behaupten jedenfalls die Psychologen) auf Deduktion und Induktion, und ein zurückgebliebener Mensch ist nicht imstande, diese deduktiven und induktiven Sprünge zu vollziehen. Irgendwo im Hirn sind kaputte Leitungen, Kurzschlüsse, fehlerhafte Schalter. Tom Cullen war zwar zurückgeblieben, aber nicht debil; er konnte einfache Zusammenhänge herstellen. Gelegentlich war er - während seiner vermeintlichen Blackouts - imstande, auch komplexere induktive oder deduktive Schlüsse zu ziehen. Immer dann stand er kurz vor der Schwelle, einen solchen gedanklichen Zusammenhang herzustellen, wie ein normaler Mensch manchmal das Gefühl hat, daß ihm ein Name »auf der Zunge liegt«. Wenn Tom dies spürte, zog er sich aus der wirklichen Welt, die für ihn nörmalerweise nichts weiter als ein konstanter Zustrom an Sinneswahrnehmungen von Augenblick zu Augenblick war, in seinen Verstand zurück. Dann war er mit einem Mann in einem dunklen, fremden Zimmer zu vergleichen, der den Stecker einer Lampenschnur in der Hand hält, über den Boden kriecht und immer wieder Gegenstände umstößt, während er versucht, mit der freien Hand die Steckdose zu ertasten. Und wenn er sie fand - er fand sie nicht immer -, kam die Erleuchtung, und er sah das Zimmer (oder den Gedanken) deutlich. Ansonsten war Tom ein auf äußere Sinneseindrücke reduziertes Wesen. Auf eine Liste der Dinge, die er besonders gern mochte, hätte auch ein Ice Cream Soda aus Mr. Nortons Laden gehört, der Anblick eines hübschen Mädchens im Minirock, das an der Ecke daraufwartete, über die Straße zu gehen, der Geruch von Flieder und das Gefühl, über Seide zu streichen. Aber mehr als das alles liebte er das Ungreifbare, liebte er jene Momente, wenn ein Zusammenhang hergestellt wurde, wenn der Schalter funktionierte (wenigstens für den Augenblick) und das Licht in dem dunklen Zimmer aufflammte. Das geschah nicht häufig; oft entging ihm der Zusammenhang. Diesmal nicht.

Er hatte gesagt: Sind Sie vielleicht taub, oder was?

Der Mann hatte nicht so reagiert, als hätte er gehört, was Tom sagte; er hatte ihn nur direkt angesehen. Ja, der Mann hatte überhaupt nichts zu ihm gesagt, nicht einmal »Hi«. Manchmal antworteten die Leute Tom nicht, wenn er eine Frage stellte, denn etwas in seinem Gesicht verriet ihnen, daß er nicht ganz richtig im Oberstübchen war. Aber immer wenn das geschah, sah derjenige, der Tom nicht antworten wollte, wütend oder traurig oder hektisch drein. Bei diesem Mann war es anders - er hatte Tom einen Kreis mit Daumen und Zeigefinger gezeigt, und Tom wußte, das bedeutete »alles in Ordnung«... aber der Mann hatte nichts gesagt.

Hände auf den Ohren und Kopfschütteln.

Hände vor dem Mund und dasselbe.

Hände vor dem Hals und noch einmal dasselbe.

Im Zimmer wurde es hell, der Zusammenhang war hergestellt.

»Meine Güte!« rief Tom, und sein Gesicht wurde wieder lebendig. Seine blutunterlaufenen Augen glühten. Er rannte in Nortons Drugstore und vergaß ganz, daß das M-O-N-D war. Der nichtsprechende Mann spritzte etwas, das wie Steryllium roch, auf Watte und wischte sich mit der Watte über die Stirn.

»He, Mister!« sagte Tom und rannte auf Nick zu. Der nichtsprechende Mann drehte sich nicht um. Tom war für einen Moment verblüfft, aber dann erinnerte er sich wieder. Er tippte Nick auf die Schulter, und Nick drehte sich um. »Sie sind taub und stumm, richtig? Können nicht hören! Können nicht sprechen! Richtig?«

Nick nickte. Toms Reaktion war höchst erstaunlich für ihn. Er sprang in die Luft und klatschte ausgelassen in die Hände.

»Ich bin draufgekommen! Hurra! Ich bin selber draufgekommen!

Hurra für Tom Cullen!«

Nick mußte grinsen. Er konnte sich nicht erinnern, daß sich schon einmal jemand so über seine Behinderung gefreut hatte.




Vor dem Gerichtsgebäude befand sich ein kleiner Platz, und auf diesem Platz stand die Statue eines Soldaten mit Uniform und Waffen aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein Schild am Sockel wies darauf hin, daß dieses Denkmal den Jungs aus Harper County gewidmet war, die das LETZTE OPFER FÜR IHR VATERLAND gebracht hatten. Nick Andros und Tom Cullen saßen im Schatten dieses Denkmals und aßen Underwood-Teufelsschinken und Teufelshühnchen auf Kartoffelchips. Nick hatte über dem linken Auge ein X aus Pflaster auf der Stirn. Er las Tom von den Lippen ab (was etwas schwierig war, weil Tom sich unablässig Essen zwischen die Worte stopfte) und stellte fest, daß er es allmählich satt hatte, ständig nur Konserven zu essen. Am liebsten wäre ihm ein großes Steak mit Beilagen gewesen.

Tom hatte, seit sie sich gesetzt hatten, nicht mehr aufgehört zu sprechen. Er erzählte eigentlich immer wieder dasselbe und garnierte es mit zahlreichen Ausrufen wie Meine Fresse! und Stimmt doch, oder? Nick machte es nichts aus. Bis er Tom getroffen hatte, war ihm überhaupt nicht bewußt geworden, wie sehr ihm andere Menschen gefehlt hatten oder daß er insgeheim befürchtet hatte, der einzige Überlebende auf der ganzen Welt zu sein. Einmal war ihm sogar der Gedanke durch den Kopf gegangen, die Seuche könnte alle außer den Taubstummen ausgelöscht haben. Jetzt, überlegte er mit einem inneren Lächeln, konnte er über die Möglichkeit nachdenken, daß nur die Taubstummen und geistig Zurückgebliebenen überlebt hatten. Dieser Gedanke, der um zwei Uhr nachmittags an einem Sommernachmittag eine gewisse Komik hatte, würde in der Nacht wiederkehren, ihn quälen und ganz und gar nicht mehr komisch wirken.

Er fragte sich, was Tom denken mochte, wohin alle Menschen verschwunden waren. Er hatte schon die Geschichte von Toms Daddy gehört, der vor ein paar Jahren mit einer Kellnerin durchgebrannt war, und über Toms Job als Aushilfe auf der Norbutt Farm, weil Mr. Norbutt vor zwei Jahren zu der Überzeugung gekommen war, daß Tom »ganz gut zurechtkam« und man ihm eine Axt anvertrauen konnte, und wie ihm die »großen Jungs« eines Nachts aufgelauert hatten und wie Tom sie »alle windelweich geprügelt« hatte, »bis sie halbtot waren, und ein' hab' ich ins Krankenhaus gebracht mit Blutungen, M-O-N-D und das buchstabiert man Blutungen, das hat Tom Cullen gemacht«, und Nick hatte auch gehört, wie Tom seine Mutter im Haus von Mrs. Blakely gefunden hatte, wo sie beide tot im Wohnzimmer saßen, und wie er sich da einfach davongeschlichen hatte. Jesus kam nicht und holte tote Menschen in den Himmel, wenn jemand zusah, sagte Tom (Nick überlegte, daß Jesus in Toms Augen eine Art umgekehrter Nikolaus sein mußte, der Tote mit durch den Kamin hinaus nahm, anstatt Geschenke hereinzubringen). Aber Tom hatte nichts davon gesagt, daß in May alle verschwunden waren oder die Straße mitten durch den Ort verlief und dennoch kein Fahrzeug fuhr.

Er legte Tom sanft die Hand auf die Brust und unterbrach damit den Wortschwall.

»Was?« fragte Tom.

Nick beschrieb mit den Armen einen großen Kreis, der die Häuser des Innenstadtbereichs einschloß. Er verzog das Gesicht zu übertriebener, burlesker Verwirrung, runzelte die Stirn, legte den Kopf schief, kratzte sich am Hinterkopf. Dann machte er mit den Fingern Gehbewegungen auf dem Gras und sah Tom schließlich fragend an.

Was er sah, war erschreckend. Toms Gesicht war so ausdruckslos, daß er urplötzlich hätte gestorben sein können. Die Augen, in denen noch vor Momenten alles gefunkelt hatte, was er erzählen wollte, waren jetzt umwölkt wie blaue Murmeln. Der Mund war offen, so dass Nick feuchte Kartoffelchipskrümel auf der Zunge sehen konnte. Die Hände lagen schlaff im Schoß.

Nick streckte besorgt den Arm aus, um Tom anzustoßen. Aber bevor es dazu kam, zuckte Toms Körper zusammen. Erregung floß wieder in sein Gesicht wie Wasser in einen Eimer. Er fing an zu grinsen. Eine Sprechblase mit dem Wort EUREKA - ICH HAB'S! - über seinem Kopf hätte das Geschehene nicht deutlicher machen können.

»Sie möchten wissen, wohin alle Leute gegangen sind!« rief Tom aus.

Nick nickte heftig.

»Na. ich glaub', sie sind nach Kansas City«, sagte Tom. »Meine Fresse, ja. Alle haben immer gesagt, was May für eine kleine Stadt ist. Nichts los. Kein Spaß. Sogar die Rollschuhbahn hat zugemacht. Jetzt is' nur noch das Autokino da, aber dort zeigen sie immer nur so Fummelfilme. Meine Mom hat immer gesagt, wer einmal weg ist, kommt nicht mehr wieder. Wie mein Dad, der ist mit 'ner Kellnerin abgehauen, die hat geheißen M-O-N-D, und das buchstabiert man Dee Dee Packalotte. Ja, ja, alle Leute haben die Nase voll gehabt und sind gegangen. Muß Kansas City sein, meine Fresse. Stimmt doch, oder? Dahin müssen sie gegangen sein. Außer Mrs. Blakely und meiner Mom. Jesus wird sie hoch in den Himmel raufholen und in seinen ewigen Armen wiegen.«

Tom nahm seinen Monolog wieder auf.

Nach Kansas City gegangen, dachte Nick. Nach allem, was ich weiß, könnte das stimmen. Alle, die auf diesem armen Planeten geblieben sind, wurden von der Hand Gottes hochgehoben und entweder in Seinen ewigen Armen gewiegt oder in Kansas City wieder abgesetzt. Er lehnte sich zurück, seine Lider flatterten und verwandelten Toms Worte ins Äquivalent eines modernen Gedichts, ohne Großbuchstaben am Anfang, wie ein Werk von e. e. cummings:

mutter hat gesagt


haben kein


aber ich hab' ihnen gesagt paßt lieber auf


nicht herumpfuschen mit



In der vergangenen Nacht, die er in einer Scheune verbracht hatte, waren die Alpträume schlimm gewesen, und jetzt, mit vollem Bauch, wollte er nur...

meine fresse


M-O-N-D und das buchstabiert man


klar wünsch' ich mir das



Nick schlief ein.

Als er aufwachte, fragte er sich als erstes in der benommenen Art, die man hat, wenn man am hellichten Tag fest geschlafen hat, warum er so sehr schwitzte. Als er sich aufsetzte, wußte er es. Es war Viertel vor fünf am Nachmittag, er hatte über zweieinhalb Stunden geschlafen, die Sonne war hinter dem Kriegerdenkmal aufgegangen. Aber das war nicht alles. Tom Cullen hatte ihn in einem wahrhaft orgiastischen Anfall von Fürsorge zugedeckt, damit er nicht fror. Mit zwei Baumwolltüchern und einer Steppdecke. Er warf sie beiseite, stand auf, streckte sich. Tom war nirgends zu sehen. Nick schritt langsam den Hauptzugang zum Platz entlang und fragte sich, was er wegen Tom machen sollte... oder mit ihm. Der geistig behinderte Bursche hatte sich mit Lebensmitteln vom A&P am anderen Ende des Platzes versorgt. Er hatte keinerlei Gewissensbisse, dort hineinzugehen und sich anhand der Etiketten auf den Dosen zum Essen zu nehmen, was er brauchte, denn, wie Tom sagte, die Tür des Supermarktes war offen.

Nick fragte sich müßig, was Tom wohl getan hätte, wäre sie nicht offen gewesen. Er vermutete, daß Tom seine Skrupel vergessen oder aus gegebenem Anlaß einmal außer acht gelassen hätte, wäre sein Hunger groß genug gewesen. Aber was sollte aus ihm werden, wenn die Vorräte aufgebraucht waren?

Aber das bekümmerte ihn eigentlich nicht so sehr an Tom. Vielmehr war es der hilflose Eifer, mit dem der Mann ihn begrüßt hatte. Zurückgeblieben mochte er sein, dachte Nick, aber nicht so zurückgeblieben, daß er keine Einsamkeit verspürte. Seine Mutter und deren Freundin, die sich um ihn gekümmert hatte, waren beide tot. Sein Dad war schon lange abgehauen. Sein Arbeitgeber, Mr. Norbutt, und alle anderen in May hatten sich eines Nachts, während Tom schlief, alle heimlich nach Kansas City davongemacht und ihn, Tom, allein zurückgelassen, damit er wie ein einsamer Geist die Main Street auf und ab gehen konnte. Und jetzt machte er Sachen, die nichts für ihn waren - zum Beispiel Whiskey trinken. Wenn er sich wieder betrank, verletzte er sich vielleicht. Und wenn er sich verletzte und niemand da war, der sich um ihn kümmerte, wäre das möglicherweise sein Ende.

Aber... ein Taubstummer und ein Mann, der geistig behindert war? Welchen Nutzen konnten sie schon füreinander haben? Ein Typ, der nicht sprechen, und einer, der nicht denken konnte. Nein, das war ungerecht, Tom konnte immerhin ein bißchen denken, aber er konnte nicht lesen, und Nick machte sich keine Illusionen, daß er es ziemlich bald satt haben würde, für Tom Cullen Pantomimen aufzuführen. Nicht, daß es Tom satt haben würde. Meine Fresse, nein.

Auf dem Gehweg vor dem Eingang zum Park blieb er stehen und steckte die Hände in die Taschen. Nun, überlegte er, ich kann wenigstens die Nacht über bei ihm bleiben. Auf eine Nacht kommt es nicht an. Ich kann ihm wenigstens was Anständiges zu essen kochen.

Davon ein wenig aufgemuntert, machte er sich auf die Suche nach Tom.




Nick schlief in dieser Nacht im Park. Er wußte nicht, wo Tom schlief, aber als er am nächsten Morgen aufwachte, etwas feucht vom Tau, aber ansonsten in ausgezeichneter Verfassung, sah er, als er über den Platz ging, Tom gleich als allererstes; Tom hatte sich über eine Flotte Corgi-Spielzeugautos und eine große Texaco-Tankstelle aus Plastik gebeugt.

Tom schien zu der Überzeugung gelangt zu sein, daß es nicht schlimm war, wenn er schon in Norton's Drugstore einbrach, auch anderswo einzubrechen. Er saß auf dem Bordstein vor dem Fiveand-Dime und hatte Nick den Rücken zugedreht. Etwa vierzig Modellautos waren an der Bordsteinkante aufgereiht. Daneben lag der Schraubenzieher, mit dem Tom den Schaukasten aufgestemmt hatte. Jaguar, Mercedes Benz, Rolls-Royce, ein maßstabgetreuer Bentley mit limonengrüner Motorhaube, ein Lamborghini, ein Cord, ein acht Zentimeter langer Pontiac Bonneville, eine Corvette, ein Maserati und, Gott behüte und beschütze uns, ein Moon Baujahr 1933. Tom hatte sich gebannt über sie alle gebeugt und fuhr mit einem nach dem anderen in die Tankstelle und wieder heraus, nachdem er sie an der Miniaturzapfsäule vollgetankt hatte. Nick sah, daß sich in der Werkstatt eine funktionsfähige Hebebühne befand; ab und zu schob Tom ein Auto dorthin, hievte es hoch und tat so, als würde er darunter etwas reparieren. Hätte Nick hören können, hätte er in der vollkommenen Stille die Laute von Tom Cullens Phantasie vernommen - das vibrierende brrrrr mit den Lippen, wenn er ein Auto auf den Asphalt von Fisher-Price fuhr, das tschk-tschk-tschk-dinngg! der Zapfsäule, das Ssssssss, wenn die Hebebühne herauf und herunter fuhr. So bekam er nur Bruchstücke der Gespräche zwischen Tankstellenbesitzer und den winzigen Menschen in den winzigen Autos mit: Volltanken, Sir? Normal? Klar doch! Ich mach' Ihnen noch die Scheibe sauber, Ma'am. Ich glaube, es ist der Vergaser. Wollen die Kiste mal hochbocken und den Auspuff nachsehen. Toiletten? Klar doch! Gleich da um die Ecke!


Und darüber, meilenweit in sämtliche Richtungen, der Himmel, den Gott für dieses winzige Stück von Oklahoma erschaffen hatte.

Nick dachte: Ich kann ihn nicht zurücklassen. Das kann ich nicht. Und plötzlich überkam ihn eine bittere und völlig unerwartete Traurigkeit, eine so tiefgehende Empfindung, daß er einen Augenblick fürchtete, weinen zu müssen.

Sie sind nach Kansas City gegangen, dachte er. Du hast recht, Tom. Sie sind alle nach Kansas City gegangen.

Nick ging über die Straße und tippte Tom am Arm. Tom sprang auf und sah über die Schulter. Ein breites, schuldbewußtes Lächeln teilte seine Lippen, Röte stieg aus dem Hemdkragen empor.

»Ich weiß, ist für kleine Jungs und nicht für erwachsene Männer«, sagte er. »Ich weiß, meine Fresse, ja, Daddy hat's mir gesagt.«

Nick zuckte die Achseln, lächelte und breitete die Arme aus. Tom schien sehr erleichtert zu sein.

»Das gehört jetzt mir. Ist meins, wenn ich's will. Wenn du in den Drugstore gekonnt hast und dir was holen, hab' ich auch in 'n Fiveand-Dime gekonnt und mir was holen. Meine Güte, stimmt doch, oder? Ich muß es nicht zurücktun, oder?«

Nick schüttelte den Kopf.

»Meins«, sagte Tom glücklich und wandte sich wieder der Tankstelle zu. Nick stieß ihn wieder an, und Tom sah auf. »Was?«

Nick zog ihn am Ärmel, und Tom stand gehorsam auf. Nick führte ihn die Straße hinunter zu der Stelle, wo sein Fahrrad auf dem Klappständer lehnte. Er deutete auf sich, dann auf das Fahrrad. Tom nickte.

»Klar. Das Rad ist Ihrs. Die Texaco-Tankstelle ist meine. Ich nehm'

Ihr Rad nicht und Sie nicht meine Texaco-Tankstelle. Meine Fresse, nein!«

Nick schüttelte den Kopf. Er deutete auf sich. Auf das Fahrrad. Dann die Main Street entlang. Dann winkte er mit den Fingern: Tschüs. Tom wurde ganz still. Nick wartete. Tom sagte zögernd: »Sie wollen wegfahren, Mister?«

Nick nickte.

»Das will ich nicht!« platzte Tom heraus. Seine Augen waren groß, sehr blau und glänzten von Tränen. »Ich mag Sie! Ich will nicht, dass Sie auch nach Kansas City gehen!«

Nick zog Tom zu sich und legte einen Arm um ihn. Deutete auf sich. Auf Tom. Auf das Fahrrad. Zur Stadt hinaus.

»Kapier' ich nicht«, sagte Tom.

Geduldig wiederholte Nick alles. Diesmal winkte er wieder zum Abschied, packte Toms Hand in einer plötzlichen Eingebung und winkte auch damit: Tschüs.

»Sie möchten, daß ich mitkomme?« fragte Tom. Ein Lächeln ungläubiger Fassungslosigkeit erhellte sein Gesicht. Nick nickte erleichtert.

»Klar!« rief Tom. »Tom Cullen geht mit! Tom...« Er verstummte, der glückliche Gesichtsausdruck wurde unsicher.

»Darf ich meine Tankstelle mitnehmen?«

Nick dachte einen Augenblick nach und nickte dann.

»Meine Fresse!« Toms Grinsen kam zurück wie die Sonne, die durch Wolken bricht. »Tom Cullen geht mit.«

Nick führte ihn zum Fahrrad. Er deutete auf Tom, dann auf das Rad.

»Mit so einem bin ich noch nie gefahren«, sagte Tom zweifelnd und betrachtete die Gangschaltung und den hohen schmalen Sitz.

»Lieber nicht. Von so 'nem tollen Rad würde Tom Cullen runterfallen.«

Aber Nick war ziemlich erleichtert. Mit so einem bin ich noch nie gefahren bedeutete, daß er schon mal mit irgendeinem anderen Rad gefahren war. Er mußte nur ein ganz normales Fahrrad finden. Mit Tom würde er langsamer vorankommen, das war nicht zu vermeiden, aber vielleicht würde es gar nicht so schlimm werden. Und warum überhaupt die Eile? Träume sind Schäume. Andererseits empfand er einen inneren Zwang, sich zu beeilen, so stark und doch so unbestimmbar; ein Befehl seines Unterbewußtseins. Er führte Tom zu dessen Tankstelle zurück. Er deutete darauf und nickte Tom lächelnd zu. Tom hockte sich eifrig hin und wollte nach ein paar Autos greifen, aber dann hielten seine Hände inne. Er blickte besorgt und mit offensichtlichem Mißtrauen zu Nick auf. »Sie gehen doch nicht ohne Tom Cullen, oder?«

Nick schüttelte energisch den Kopf.

»Okay«, sagte Tom und wandte sich beruhigt seinem Spielzeug zu. Ehe er sich zurückhalten konnte, strich Nick dem Mann mit der Hand durchs Haar. Tom sah auf und lächelte schüchtern. Nick lächelte zurück. Nein, er konnte ihn nicht einfach zurücklassen. Das stand fest.




Es war schon fast Mittag, bevor er ein Fahrrad fand, das ihm für Tom geeignet schien. Er hatte nicht erwartet, daß es auch nur annähernd so lange dauern würde, aber überraschend viele Leute hatten ihre Häuser, Garagen und Außengebäude abgeschlossen. In den meisten Fällen war er darauf angewiesen, durch schmutzige, spinnwebverhangene Fenster in dunkle Garagen zu spähen in der Hoffnung, das richtige Rad zu finden. Während seiner Suche war er noch einmal zu Western Auto zurückgegangen, aber das hatte wenig genützt; im Schaufenster standen nur Damen- und Herrenräder mit Dreigangschaltung, alles andere war nicht montiert. Was er suchte, fand er schließlich in einer kleinen, freistehenden Garage am südlichen Stadtrand. Die Garage war verschlossen, aber sie hatte ein Fenster, das so groß war, daß er hineinkriechen konnte. Nick zertrümmerte die Scheibe mit einem Stein und entfernte sorgfältig die restlichen Scherben aus dem alten, brüchigen Kitt. In der Garage herrschten stickige Hitze und ein pelziger Öl- und Staubgeruch. Das Fahrrad, ein altmodisches Schwinn-Knabenrad, stand neben einem zehn Jahre alten Mercedes -Kombi. Bei meinem Glück wird das verdammte Rad kaputt sein, dachte Nick. Keine Kette, platte Reifen, irgend so was. Aber diesmal hatte er tatsächlich Glück. Das Rad lief einwandfrei. Die Reifen waren aufgepumpt und hatten ein gutes Profil; alle Schrauben waren fest angezogen. Kein Gepäckkorb, da würde er Abhilfe schaffen müssen. Aber es hatte einen Kettenschutz, und an der Wand hing zwischen einem Rechen und einer Schneeschippe ein unerwarteter Bonus: eine fast neue Briggs-Luftpumpe.

Er suchte weiter und fand eine Dose Three-In-One-Öl auf einem Regal. Nick setzte sich auf den rissigen Betonboden, achtete nicht mehr auf die Hitze und ölte die Kette und beide Naben. Als er damit fertig war, schraubte er das Three-In-One wieder zu und verstaute es sorgfältig in der Hosentasche.

Er band die Luftpumpe mit einer Strohschnur auf dem Gepäckträger über dem Hinterrad des Schwinn fest, schloß die Garagentür auf und schob es hinaus. So gut hatte frische Luft noch nie gerochen. Er schloß die Augen, atmete tief ein, rollte das Rad auf die Straße, stieg auf und fuhr langsam die Main Street hinunter. Das Rad lief ausgezeichnet. Genau das Richtige für Tom... vorausgesetzt, er konnte überhaupt fahren.

Er stellte es neben seinem Raleigh ab und ging in den Five-andDime-Supermarkt. Hinten im Laden, zwischen den Sportartikeln, fand er einen größeren Drahtkorb, klemmte ihn unter den Arm und wollte gerade gehen, als ihm eine große verchromte Hupe mit einem dicken roten Gummiball auffiel. Nick legte sie in den Korb und ging zur Eisenwarenabteilung, um einen Schraubenzieher und einen verstellbaren Schraubenschlüssel zu besorgen. Dann trat er wieder nach draußen. Tom lag friedlich ausgestreckt auf dem Marktplatz unter dem Zweiten-Weltkrieg-Soldaten und döste.

Nick befestigte Korb und Hupe an der Lenkstange des Schwinn. Er kehrte ins Five-and-Dime zurück, kam mit einer großen Einkaufstasche wieder heraus, ging damit zum A&P und füllte die Tasche mit Dosenfleisch und Obstund Gemüsekonserven. Er packte gerade einige Dosen Chilibohnen ein, als er einen Schatten am Gang vorbeihuschen sah, in dem er stand. Wäre er nicht taub gewesen, hätte er bemerkt, daß Tom inzwischen das Fahrrad entdeckt hatte. Das heisere, langgezogene Hauuu-UUU-Gaaa! der Hupe hallte durch die Straße, begleitet von Toms fröhlichem Kichern.

Nick trat durch die Tür des Supermarkts nach draußen und sah Tom stolz die Main Street entlangsausen; das blonde Haar flatterte, sein Hemd wehte hinter ihm her, und er quetschte die Hupe, als würde sein Leben davon abhängen. An der Arco-Tankstelle am Ende der Ladenzeile wendete er und kam wieder zurückgestrampelt. Er grinste breit und triumphierend. Die Fisher-Price-Tankstelle hatte er in den Korb am Lenker gestellt. Seine Hosentaschen und die Taschen des Khakihemds waren vollgestopft mit maßstabgetreuen Corgi-Spielzeugautos. Die Sonne warf funkelnde helle, drehende Kreise auf die Speichen. Ein wenig traurig wünschte sich Nick, er könnte den Klang der Hupe hören, um festzustellen, ob er ihm genauso gefallen würde, wie er Tom zu gefallen schien.

Tom winkte ihm zu und radelte weiter die Straße entlang. Am anderen Ende des Einkaufsviertels wendete er wieder, drückte dabei aber unablässig auf die Hupe. Nick streckte die Hand aus wie ein Polizist, der jemanden anhält. Tom kam mit dem Rad schlitternd vor ihm zum Stehen. Große Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Der Gummischlauch der Luftpumpe wippte. Tom keuchte und grinste.

Nick deutete zur Stadt hinaus und winkte: Tschüs.

»Kann ich die Tankstelle immer noch mitnehmen?«

Nick nickte und streifte Tom den Henkel der Tasche über den Stiernacken.

»Fahren wir gleich?«

Nick nickte wieder. Machte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis.

»Nach Kansas City?«

Nick schüttelte den Kopf.

»Wohin wir wollen?«

Nick nickte. Ja. Wohin wir wollen, dachte er, aber wahrscheinlich wird es irgendwo in Nebraska sein.

»Mann!« sagte Tom glücklich. »Okay! Klar! Mann!«

Sie radelten auf der Route 283 Richtung Norden und waren erst zweieinhalb Stunden gefahren, als im Westen Gewitterwolken aufzogen. Der Sturm, der auf einem gazeartigen Regenschleier ritt, war rasch über ihnen. Nick konnte den Donner nicht hören, sah aber gabelförmige Blitze aus den Wolken herausschießen. Sie waren so grell, daß sie blau-purpurnes Flimmern vor den Augen hinterließen. Als sie sich dem Stadtrand von Rosston näherten, wo Nick auf der Route 64 nach Westen abbiegen wollte, verschwand der Regenschleier unter den Wolken, und der Himmel nahm eine stille, bedrohliche Gelbfärbung an. Der Wind, der ihm kühl und frisch gegen die linke Wange geweht hatte, flaute völlig ab. Nick wurde von einer extremen Nervosität gepackt, ohne zu wissen warum, und handelte obendrein seltsam ungeschickt. Niemand hatte ihm je gesagt, daß zu den wenigen Instinkten, die der Mensch noch mit den Tieren teilt, genau dies die Reaktion auf ein plötzliches und radikales Absinken des Luftdrucks war.

Dann zupfte Tom ihn am Ärmel, zupfte heftig. Nick blickte ihn an. Er stellte verblüfft fest, daß alle Farbe aus Toms Gesicht gewichen war. Seine Augen waren große, schwebende Untertassen.

»Tornado!« schrie Tom. »Da kommt ein Tornado

Nick suchte nach einer Windhose, sah aber keine. Er wandte sich wieder Tom zu, um ihn zu beruhigen. Aber Tom war schon verschwunden, fuhr mit dem Rad in ein Feld rechts von der Straße und walzte einen ungleichmäßigen, flachen Pfad durch das hohe Gras.

Verdammter Blödmann, dachte Nick wütend. Du wirst eine von den Achsen brechen!

Tom fuhr auf eine Scheune mit Silo zu, die sich am Ende eines etwa eine Viertelmeile langen Feldwegs befand. Nick, der noch immer seltsam nervös war, fuhr mit seinem Rad ein Stück weiter den Highway entlang, hob es über das Viehgatter und strampelte dann den Feldweg zur Scheune hinunter. Toms Fahrrad lag davor im Sand. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Ständer runterzuklappen. Diesen Umstand hätte Nick schlichter Vergeßlichkeit zugeschrieben, hätte er nicht vorher mehrmals gesehen, wie Tom den Klappständer benützte. Er hat vor Angst sein letztes bißchen Verstand verloren, dachte Nick.

Weil er sich aber selbst so unbehaglich fühlte, drehte er sich schnell noch einmal nach Westen um; und als er sah, was sich von dort näherte, blieb er wie erstarrt stehen.

Eine schreckliche Finsternis raste aus westlicher Richtung auf sie zu. Keine Wolke; vielmehr eine vollkommene Abwesenheit von Licht. Das Gebilde hatte die Form einer Windhose und schien auf den ersten Blick dreihundert Meter hoch zu sein. Am oberen Ende war sie breiter als unten; das untere Ende berührte nicht ganz den Boden. Am Gipfel schienen selbst die Wolken davor zu fliehen, als besäße das Gebilde eine unerklärliche, ekelerregende, abstoßende Macht.

Während Nick zusah, berührte der Wirbel etwa eine Dreiviertelmeile entfernt den Boden, und ein langes blaues Gebäude mit Wellblechdach - wahrscheinlich eine KFZ-Werkstatt oder ein Geräteschuppen - explodierte mit einem lauten Knall. Nick konnte es nicht hören, natürlich nicht, aber er spürte die Erschütterung, die seine Beine zittern ließ. Und das Gebäude schien nach innen zu explodieren, als hätte der Trichter sämtliche Luft daraus gesogen. Im nächsten Moment brach das Blechdach in zwei Teile. Die Bruchstücke schössen in die Höhe und wirbelten wie verrückt gewordene Tänzer durch die Luft. Nick beugte sich fasziniert vor und folgte ihrer Bahn.

Ich sehe vor mir das Schlimmste aus meinen Träumen, dachte Nick, und es ist gar kein Mann, auch wenn es manchmal wie ein Mann aussieht. In Wirklichkeit ist es ein Tornado. Ein allmächtiger, großer schwarzer Wirbel, der aus dem Westen herübertobt und alles und jeden verschlingt, der das Unglück hat, in seine Bahn zu geraten. Es...

Dann wurde er an beiden Oberarmen gepackt und buchstäblich von den Füßen gerissen und in die Scheune gezerrt. Er drehte sich zu Tom Cullen um und war einen Moment verblüfft, ihn zu sehen. Er war so von der Windhose fasziniert gewesen, daß er darüber ganz vergessen hatte, daß Tom Cullen überhaupt existierte.

»Runter!« keuchte Tom. »Rasch! Rasch! O meine Fresse, ja! Tornado! Tornado

Jetzt endlich war Nick wieder bei vollem Verstand und hatte Angst, er war aus dem tranceähnlichen Zustand herausgerissen worden, in dem er sich befunden hatte, und wußte wieder, wo er war und mit wem. Während er sich von Tom zu der Treppe führen ließ, die in den Sturmkeller der Scheune hinunterführte, spürte er eine seltsame, trommelnde Vibration. Sie war einem echten Geräusch näher, als er es jemals erlebt hatte. Gleich einem bohrenden Schmerz im Zentrum seines Gehirns. Und dann, als er Tom die Treppe hinunterfolgte, sah er etwas, das er sein ganzes Leben lang nie mehr vergessen sollte: Die Wand der Scheune wurde weggefetzt; Brett für Brett wurde herausgezogen und in die wolkenverhangene Luft gezerrt wie eine Reihe fauler Zähne, die von unsichtbaren Kräften herausgerissen wurden. Das Heu am Boden stieg wirbelnd gleich einem Dutzend Miniaturtornados empor, raste im Kreis, kippte, rotierte. Die pulsierende Vibration wurde noch beharrlicher, stärker. Dann riß Tom eine schwere Holztür auf und stieß ihn hinein. Nick roch feuchten Schimmel und Verfall. Im letzten Augenblick des Lichts sah er, daß sie sich den Sturmkeller mit einer Familie rattenzerfressener Leichen teilten. Dann schlug die Tür zu, und es herrschte völlige Dunkelheit. Die Vibration wurde schwächer, liess aber nicht einmal hier unten völlig nach.

Panik stahl sich mit ausgebreitetem Mantel über ihn und hüllte ihn ein. In der Schwärze waren seine Sinneswahrnehmungen auf Geruch und Tastsinn beschränkt, aber keiner der beiden übermittelte Botschaften, die tröstlich waren. Er konnte das unablässige Vibrieren der Dielen unter seinen Füßen spüren, und es roch nach Tod. Tom umklammerte blind Nicks Hand, und Nick zog den geistig zurückgebliebenen Mann an sich. Er spürte Tom zittern und fragte sich, ob Tom weinte oder versuchte, mit ihm zu sprechen. Der Gedanke linderte seine eigene Angst ein wenig; er legte Tom einen Arm um die Schultern. Tom erwiderte die Geste; so standen sie aufrecht in der Dunkelheit und klammerten sich aneinander. Die Vibration unter Nicks Füßen wurde stärker; sogar die Luft auf seinem Gesicht schien jetzt zu zittern. Tom klammerte sich noch fester an ihn. Blind und taub wartete Nick darauf, was als nächstes passieren würde. Kurz schoß der Gedanke durch sein Hirn, daß er sein ganzes Leben in Finsternis und Stille hätte verbringen müssen, wenn Ray Booth auch das andere Auge erwischt hätte. Wäre das der Fall gewesen, überlegte Nick, hätte er sich wahrscheinlich schon vor Tagen eine Kugel in den Kopf gej agt und der Sache ein Ende gemacht.

Später konnte Nick kaum seiner Uhr glauben. Sie bestand beharrlich darauf, daß er und Tom alles in allem nur eine Viertelstunde in dem Keller verbracht hätten. Also mußte es wohl so sein, da die Uhr einwandfrei funktionierte. Er hatte in seinem Leben noch nie so unmittelbar erfahren, wie subjektiv, wie dehnbar die Zeit wirklich ist. Ihm kam es so vor, als hätte es mindestens eine Stunde gedauert, eher sogar zwei oder drei. Und je mehr Zeit verging, desto mehr wuchs in ihm die Überzeugung, daß er und Tom nicht allein im Sturmkeller gewesen waren. Sicher, die Leichen - ein armer Teufel hatte seine Familie hier heruntergebracht, weil er wahrscheinlich gedacht hatte, sie hatten hier andere Naturkatastrophen überstanden und könnten auch diese überstehen -, aber Nick meinte nicht die Leichen. Für Nick war ein Leichnam inzwischen nur eine Sache, nichts anderes als ein Stuhl oder eine Schreibmaschine oder ein Teppich. Ein Leichnam war nur ein lebloser Gegenstand, der Platz wegnahm. Nein, er hatte die Präsenz eines anderen Wesens gespürt, und er wurde immer überzeugter davon, wer - oder was - es gewesen war.

Es war der dunkle Mann, der Mann, der in seinen Träumen zum Leben erwachte, die Kreatur, deren Seele er im schwarzen Herzen des Zyklons gespürt hatte.

Irgendwo... möglicherweise in der Ecke oder direkt hinter ihnen... beobachtete er sie. Und wartete. Im richtigen Augenblick würde er sie berühren, und sie würden beide... was? Selbstverständlich vor Angst verrückt werden. Genau das. Er konnte sie sehen. Nick war sicher, daß er sie sehen konnte. Er hatte Augen, die im Dunkeln sehen konnten, wie Katzenaugen oder die eines seltsamen außerirdischen Wesens. Wie die Kreatur in diesem Film, Predator. Ja - genau so. Der dunkle Mann konnte Farbtöne des Spektrums sehen, die dem menschlichen Auge verborgen blieben; für ihn lief alles zeitlupenhaft langsam ab, in roter Farbe, als wäre die ganze Welt in Blut getaucht.

Anfangs konnte Nick seine Hirngespinste von der Wirklichkeit trennen, aber je mehr Zeit verging, um so überzeugter wurde er, dass die Hirngespinste Wirklichkeit waren. Er bildete sich ein, er könnte den Atem des dunklen Mannes im Nacken spüren.

Er wollte gerade zur Tür springen, sie aufreißen und nach oben fliehen, egal welche Folgen es hatte, als Tom ihm die Entscheidung abnahm. Plötzlich war der Arm um Nicks Schulter verschwunden. Im nächsten Moment knallte die Tür des Sturmkellers auf, grelles, helles Licht strömte herein, so daß Nick eine Hand heben und das gesunde Auge abschirmen mußte. Er erhaschte gerade noch einen geisterhaften, wabernden Blick auf Tom Cullen, der die Treppe hinauftaumelte, dann folgte er ihm und ertastete sich den Weg durch die Helligkeit. Als er oben ankam, hatte sich das Auge an das grelle Licht gewöhnt.

Nick war sicher, daß das Licht nicht so hell gewesen war, als sie nach unten gegangen waren. Daß er recht hatte und warum, erfuhr er Augenblicke später. Das Dach war von der Scheune gerissen worden. Es schien beinahe chirurgisch exakt amputiert worden zu sein; so sauber, daß keinerlei Splitter zu sehen waren und kaum etwas auf dem Boden lag, den das Dach einst abgedeckt hatte. Drei Trägerbalken hingen an der Seite des Schobers herunter; die Wände waren kahl, fast alle Bretter hatte der Sturm weggerissen. Nick hatte den Eindruck, im Skelett eines prähistorischen Ungeheuers zu stehen.

Tom hatte nicht haltgemacht, um den Schaden zu begutachten. Er floh aus der Scheune, als säße ihm der Teufel im Nacken. Er drehte sich nur einmal um; seine Augen waren groß und spiegelten auf fast lächerlich-komische Weise sein Entsetzen wider. Nick konnte einem Blick über die Schulter in den Sturmkeller nicht widerstehen. Die Treppe erstreckte sich hinunter in die Schatten, die Stufen waren aus altem, rissigen Holz, jede hing in der Mitte durch. Er konnte verstreutes Stroh auf dem Boden sehen und zwei Händepaare, die aus, dem Schatten herausgriffen. Ratten hatten die Finger bis auf die Knochen abgenagt.

Falls noch jemand da unten war, konnte Nick ihn nicht sehen. Er wollte es auch nicht.

Er folgte Tom hinaus.




Tom stand zitternd bei seinem Fahrrad. Nick staunte kurz über die verrückte Launenhaftigkeit des Tornados, hatte er doch die halbe Scheune weggerissen, aber die Räder verschmäht, und dann sah er, daß Tom weinte. Nick ging zu ihm und legte ihm einen Arm um die Schultern. Tom blickte mit großen Augen zum schiefhängenden Tor der Scheune hinüber. Nick machte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. Tom sah ihn kurz an, aber das Lächeln, das Nick erwartet hatte, blieb aus. Tom starrte einfach weiter in die Scheune. Seine Augen hatten einen leeren, starren Blick, der Nick ganz und gar nicht gefiel.

»Da war einer drin«, sagte Tom unvermittelt.

Nick lächelte, aber das Lächeln lag ihm kalt auf den Lippen. Er hatte keine Ahnung, wie gut ihm dieses gespielte Lächeln gelang, vermutete aber, daß es beschissen aussah. Er deutete auf Tom, auf sich selbst und machte dann mit der Handkante eine scharfe, einschneidende Bewegung durch die Luft.

»Nein«, sagte Tom. »Nicht nur wir. Noch jemand. Jemand, der aus dem Tornado gekommen ist.«

Nick zuckte die Achseln.

»Können wir gehen? Bitte.«

Nick nickte.

Sie schoben die Fahrräder zum Highway zurück und benützten dazu die unregelmäßige Schneise entwurzelten Grases und aufgewühlten Bodens, die der Tornado hinterlassen hatte. Er hatte auf der Westseite von Rosston die Spur der Zerstörung begonnen, war in West-Ost-Richtung über die US 183 gepflügt, wobei er Leitplanken und Stromkabel wie Klaviersaiten in die Luft gewirbelt hatte, hatte die Scheune links gestreift und sich direkt dem Wohnhaus zugewandt, das davor stand - gestanden hatte. Vierhundert Meter weiter hörte seine Bahn durch das Feld abrupt auf. Allmählich brachen die Wolken auf (obwohl es noch leicht und erfrischend nieselte), die Vögel zwitscherten sorglos.

Nick sah, wie die Muskelstränge unter Toms Hemd arbeiteten, als er das Rad über den Wirrwarr der Zaundrähte am Rand des Highways hob. Der Bursche hat mir das Leben gerettet, dachte er. Bis heute habe ich in meinem ganzen Leben noch keinen Wirbelsturm gesehen. Hätte ich Tom in May zurückgelassen, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte, dann wäre ich jetzt mausetot.

Er hob sein Rad über den Drahtwirrwarr, klopfte Tom auf die Schulter und lächelte ihm zu.

Wir müssen jemand anderen finden, dachte Nick. Wir müssen, damit ich ihm danken kann. Und ihm meinen Namen sagen. Er kennt nicht einmal meinen Namen, weil er nicht lesen kann. Nick stand einen Augenblick da und dachte darüber nach, dann stiegen sie auf die Räder und fuhren los.




In dieser Nacht kampierten sie auf dem Baseballplatz der Rosston Jayces Juniorenmannschaft. Der Abend war wolkenlos und sternenklar. Nick schlief rasch ein; sein Schlaf war traumlos. Als der Morgen dämmerte, wachte er auf und dachte, wie schön es war, mit einem anderen Menschen zusammenzusein; was für ein Unterschied.

Es gab tatsächlich ein Polk County, Nebraska. Das hatte ihn zuerst überrascht, aber er war in den letzten Jahren viel herumgekommen. Er mußte mit jemandem gesprochen haben, der Polk County erwähnt hatte oder aus Polk County stammte, und dann hatte er diese Information in einem Winkel seines Hirns vergraben. Es gab auch eine Route 30. Aber er konnte nicht so recht glauben, jedenfalls nicht im hellen Licht des frühen Morgens, daß sie wirklich eine alte Negerin finden würden, die inmitten von Maisfeldern auf ihrer Veranda saß und zur Gitarre Gospels sang. Er glaubte nicht an Vorahnungen oder Visionen. Aber es schien ihm wichtig, irgendwohin zu fahren, nach anderen Menschen zu suchen. Aber bis ihnen das gelang, würde alles fremd und aus den Fugen sein. Überall lauerten Gefahren. Man konnte sie nicht sehen, aber man spürte sie, so wie er gestern in diesem Keller die Anwesenheit des dunklen Mannes gespürt zu haben glaubte. Man spürte, daß die Gefahr überall war, in den Häusern, hinter der nächsten Kurve des Highways, vielleicht versteckte sie sich sogar unter den Autos und Lastwagen, die überall auf den Hauptstraßen standen. Und wenn sie nicht unmittelbar drohte, so lauerte sie in der Zukunft, nur zwei oder drei Blätter des Abreißkalenders entfernt. Gefahr! schien jedes Teilchen seiner Persönlichkeit zu flüstern. BRÜCKE GESPERRT - EINSTURZGEFAHR. FAHRBAHN AUF VIERZIG MEILEN BESCHÄDIGT. AB HIER WEITERFAHRT AUF EIGENE GEFAHR.

Teilweise lag das sicher am gewaltigen, überwältigenden Schock der verlassenen Landschaft. Solange Nick in Shoyo gewesen war, war er halbwegs sicher davor gewesen. Es hatte keine Rolle gespielt, daß Shoyo verlassen war, jedenfalls keine große, denn Shoyo war nur ein winziges Fleckchen auf der Weltkarte. Aber wenn man reiste, dann war es wie... nun, er erinnerte sich an einen Disney-Film, den er als Kind gesehen hatte, einen Natur-Film. Eine Tulpe nahm die ganze Leinwand ein, eine einzige Tulpe, atemberaubend schön. Dann fuhr die Kamera mit schwindelerregender Schnelligkeit zurück, und man sah ein ganzes Tulpenfeld. Man war wie erschlagen. Es war eine plötzliche und totale Überlastung der Sinneswahrnehmung, und eine innere Sicherung brannte durch; man konnte nichts mehr in sich aufnehmen. Es war einfach zuviel. Und so war auch diese Reise verlaufen. Shoyo war verlassen; daran konnte er sich gewöhnen. Aber auch McNab war verlassen und Texarcana und Spencerville; Ardmore war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Er war auf dem Highway 81 nach Norden gereist und hatte nur Wild gesehen. Zweimal hatte er mögliche Spuren lebender Menschen gesehen: ein etwa zwei Tage altes Lagerfeuer sowie einen Hirsch, der geschossen und sauber ausgeweidet worden war. Aber keine Menschen. Das genügte, um völlig auszurasten, weil einem die Ungeheuerlichkeit der Realität zunehmend bewußt wurde. Es waren nicht nur Shoyo oder McNab oder Texarkana; es war Amerika, das wie eine riesige weggeworfene Blechdose dalag, auf deren Boden noch ein paar vergessene Erbsen herumkullerten. Und es war nicht nur Amerika, es war die ganze Welt, und wenn Nick daran dachte, wurde ihm so schwindlig und übel, daß er den Gedanken rasch verdrängte.

Er beugte sich statt dessen über die Karte. Wenn er und Tom in Bewegung blieben, würden sie vielleicht wie ein Schneeball sein, der bergab rollt und immer größer wird. Mit etwas Glück würden sie ein paar Leute zwischen hier und Nebraska finden, die bereit waren, sich ihnen anzuschließen (oder sie anderen, wenn sie auf eine größere Gruppe stießen). Und von Nebraska aus würden sie anderswo hingehen, vermutete er. Es war wie eine Suche ohne erkennbares Ziel - sie würden keinen Gral finden, kein Schwert in einem Amboß. Wir fahren nach Nordosten, dachte er, raus nach Kansas. Der Highway 35 bringt uns zu einer anderen Stelle der 81, und auf der 81 könnten wir bis nach Swedeholm, Nebraska, wo die 81 die 92 genau im rechten Winkel schneidet. Ein anderer Highway, Route 30, verband die beiden miteinander, bildete die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks. Und irgendwo in diesem Dreieck lag das Land seiner Träume.

Bei diesem Gedanken überkam ihn eine seltsame, erwartungsvolle Spannung.

Eine Bewegung am Rand seines Gesichtsfelds ließ ihn aufschauen. Tom saß aufrecht da und drückte beide Fäuste gegen die Augen. Ein gewaltiges Gähnen schien seine ganze untere Gesichtshälfte verschwinden zu lassen. Nick grinste ihn an, und Tom grinste zurück.

»Fahren wir heute noch ein bißchen?« fragte Tom, und Nick nickte.

»Herrje, das ist gut. Ich fahr' gern mit meinem Rad. Meine Fresse, ja!

Ich hoffe, wir halten nie an.«

Nick steckte die Karte weg und dachte: Wer weiß? Vielleicht wird dein Wunsch erfüllt.




An diesem Morgen wandten sie sich nach Osten. Zu Mittag aßen sie an einer Kreuzung nicht weit von der Grenze zwischen Oklahoma und Kansas entfernt. Es war der 7. Juli, ein heißer Tag. Als sie an der Kreuzung hielten, brachte Tom sein Rad wie gewohnt schlitternd zum Stillstand. Er betrachtete ein Verkehrsschild, dessen Pfahl in einem Blecheimer voller Beton steckte, der zur Hälfte im weichen Boden am Straßenrand eingegraben worden war. Auch Nick betrachtete das Schild. Auf dem Schild stand: SIE VERLASSEN JETZT HARPER COUNTY, OKLAHOMA. HIER BEGINNT WOODS COUNTY, OKLAHOMA.

»Das kann ich lesen«, sagte Tom, und hätte Nick hören können, wäre er teils amüsiert und teils gerührt gewesen, wie Tom mit aufgeregt und schrill deklamierender Stimme verkündete:»Sie gehen raus aus Harper County. Sie kommen nach Woods County.« Er drehte sich zu Nick um. »Wissen Sie was, Mister?«

Nick schüttelte den Kopf.

»Bin in meinem Leben noch nie aus Harper County raus gewesen, meine Güte, nein, nicht Tom Cullen. Aber mein Daddy hat mich mal hierher gebracht und mir dieses Schild gezeigt. Hat mir gesagt, wenn er mich je auf der andern Seite davon erwischen würde, würde er mich windelweich prügeln. Er erwischt uns doch wohl nicht drüben in Woods County? Glauben Sie, er erwischt uns?«

Nick schüttelte nachdrücklich den Kopf.

»Ist Kansas City in Woods County?«

Nick schüttelte wieder den Kopf.

»Aber wir gehen doch nach Woods County, ehe wir woanders hingehen, oder nicht?«

Nick nickte.

Toms Augen leuchteten. »Ist es die Welt?«

Nick verstand nicht. Er runzelte die Stirn... zog die Brauen hoch... zuckte die Achseln.

»Die Welt ist das, was ich meine«, sagte Tom. »Ziehen wir in die Welt, Mister?« Tom zögerte, dann fragte er voll zögerndem Ernst:

»Ist Woods das Wort für Welt?«

Nick nickte langsam.

»Okay«, sagte Tom. Er betrachtete das Schild noch einen Augenblick, dann wischte er sich das rechte Auge ab, aus dem eine einzige Träne gekullert war. Er sprang wieder auf sein Rad. »Okay, fahren wir.« Er fuhr ohne ein weiteres Wort über die County-Grenze, und Nick folgte ihm.




Sie überquerten die Grenze nach Kansas, kurz bevor es zu dunkel zum Weiterfahren wurde. Nach dem Essen war Tom mürrisch und müde geworden; er wollte mit seiner Tankstelle spielen. Er wollte fernsehen. Er wollte nicht mehr radfahren, weil sein Popo weh tat. Er hatte keinen Begriff von Staatengrenzen und teilte Nicks Hochgefühl nicht, als sie an einem weiteren Schild vorbeikamen, auf dem stand: WILLKOMMEN IN KANSAS. Inzwischen war es so düster, daß die weißen Buchstaben wie Gespenster über dem braunen Schild zu schweben schienen.

Sie schlugen eine Viertelmeile jenseits der Grenze ihr Lager auf - unter einem Wasserturm auf drei hohen Stahlbeinen, der wie ein marsianisches Raumschiff von H. G. Wells aussah. Tom war kaum in den Schlafsack gekrochen, da schlief er schon ein. Nick blieb noch eine Weile sitzen und beobachtete, wie die Sterne allmählich erstrahlten. Das Land war völlig dunkel und - für ihn - vollkommen still. Kurz bevor er selbst in den Schlafsack kroch, flatterte eine Krähe auf einen Zaunpfosten in der Nähe und schien ihn zu beäugen. Ihre kleinen schwarzen Augen waren von Halbkreisen wie Blut umgeben - Spiegelungen des aufgedunsenen orangefarbenen Sommermonds, der stumm aufgegangen war. Die Krähe hatte etwas an sich, das Nick nicht gefiel; er fühlte sich plötzlich unbehaglich. Er fand einen großen Erdklumpen und warf ihn nach der Krähe. Sie schien ihm einen haßerfüllten Blick zuzuwerfen, flog flatternd auf und verschwand in der Dunk elheit.

In dieser Nacht träumte Nick von dem Mann ohne Gesicht, der auf dem hohen Dach stand, die Hände nach Osten ausgestreckt, und dann von Mais Mais, der höher war als er selbst - und von Musik. Aber diesmal wußte er, daß es Musik war, und er wußte, daß es eine Gitarre war. Er erwachte kurz vor Tagesanbruch mit schmerzhaft voller Blase und hörte noch ihre Worte in den Ohren klingen: Man nennt mich Mutter Abagail... du kannst jederzeit zu mir kommen.




Am Spätnachmittag fuhren sie auf dem Highway 160 durch Comanche County und saßen plötzlich erstaunt auf ihren Rädern, als sie eine kleine Büffelherde - insgesamt vielleicht ein Dutzend Tiere - auf der Suche nach gutem Gras gelassen auf der Fahrbahn hin und her stapfen sahen. An der Nordseite der Straße war ein Stacheldrahtzaun gewesen, aber den hatten die Büffel offenbar niedergetrampelt.

»Was sind denn das für welche?« fragte Tom ängstlich. »Kühe sind das nicht!«

Und weil Nick nicht sprechen und Tom nicht lesen konnte, konnte Nick es ihm nicht sagen. Es war der 5.Juli 1990, und in dieser Nacht schliefen sie auf flachem Farmland vierzig Meilen westlich von Deerhead.




Es war der 9. Juli, und sie aßen ihr Mittagessen im Schatten einer alten, ehrwürdigen Ulme im Vorgarten eines Farmhauses, das teilweise niedergebrannt war. Tom aß mit einer Hand Würstchen aus einer Blechdose, mit der anderen fuhr er ein Auto in seine Tankstelle und wieder heraus. Und dabei sang er immer wieder den Refrain eines bekannten Songs. Nick kannte die Lippenbewegungen auswendig: »Baby, can you dig your man - he's a right -eous mayun - baby, can you dig your man?«

Nick war deprimiert, und die Unermeßlichkeit des Landes erfüllte ihn mit Ehrfurcht; vorher war ihm nie klar geworden, wie einfach es doch war, den Daumen auszustrecken und zu wissen, daß einem früher oder später das Gesetz des Zufalls zu Hilfe kommen würde. Ein Auto hielt an, für gewöhnlich mit einem Mann am Steuer, der nicht selten eine Bierdose gemütlich zwischen die Beine geklemmt hatte. Er fragte einen, wohin man wollte, und man gab ihm einen Zettel, den man griffbereit in der Brusttasche hatte, einen Zettel, auf dem stand:

»Hallo, mein Name ist Nick Andres. Ich bin leider taubstumm. Ich will nach - Vielen Dank fürs Mitnehmen. Ich kann von den Lippen lesen.«

Und die Sache war erledigt. Und wenn der Typ nichts gegen Taubstumme hatte (bei manchen Menschen war das der Fall, aber es war eine Minderheit), sprang man ins Auto und wurde dorthin gebracht, wohin man wollte, oder immerhin ein gutes Stück in die gewünschte Richtung. Das Auto fraß Meile um Meile und blies sie zum Auspuff wieder raus. Das Auto war eine Art Teleportation. Das Auto besiegte die Landkarte. Aber heute gab es kein Auto, obwohl das Auto auf vielen Straßen ein praktisches Transportmittel für Strecken von siebzig, achtzig Meilen gewesen wäre, wenn man vorsichtig fuhr. Und wenn man an ein Hindernis geriet, mußte man das Fahrzeug einfach stehenlassen, ein Stück zu Fuß gehen und sich dann ein anderes nehmen. Ohne Auto waren sie wie Ameisen, die auf der Brust eines gestürzten Riesen krabbelten, Ameisen, die endlos von einer Brustwarze zur anderen wuselten. Und daher wünschte und tagträumte Nick gleichermaßen, daß es wie in jenen sorglosen Tagen des Reisens per Anhalter sein würde, wenn sie endlich jemanden trafen (immer vorausgesetzt, es kam soweit): Das vertraute Funkeln von Chrom würde über den nächsten Hügel kommen, das Aufblitzen der Sonne, das das Auge blendete und zugleich erfreute. Ein ganz normales amerikanisches Auto, ein Chevy Biscain oder Fury III oder ein Pontiac Tempest, irgendeine herrliche Blechkarosse aus Detroit. In seinen Träumen war es nie ein Honda oder Mazda oder Yugo. Die amerikanische Schönheit würde an den Straßenrand fahren, und er würde einen Mann am Steuer sehen, einen Mann mit sonnengebräunten Ellbogen, der keck aus dem Fenster ragte. Dieser Mann würde lächeln und sagen: »Hallo, Jungs! Mensch, freu' ich mich, daß ich euch getroffen habe! Rein mit euch! Rein mit euch! Woll'n mal sehen, wohin wir kommen!«

Aber an diesem Tag sahen sie niemanden, und am 10. begegneten sie Julie Lawry.




Der Tag war wieder knallheiß. Sie waren fast den ganzen Nachmittag mit um die Taillen gebundenen Hemden geradelt, und sie wurden beide so braun wie Indianer. Heute waren sie nicht sehr weit gekommen, wegen der Äpfel. Der grünen Äpfel.

Sie hatten die Äpfel an einem alten Apfelbaum auf dem Hof eines Farmhauses entdeckt, grün und klein und sauer, aber Nick und Tom hatten so lange kein frisches Obst mehr gegessen, daß die Äpfel wie Ambrosia schmeckten. Nick hatte nach dem zweiten aufgehört, aber Tom aß gierig gleich sechs Stück, einen nach dem anderen, bis auf das Kerngehäuse. Er hatte Nicks Ermahnungen, nicht zuviel zu essen, in den Wind geschlagen; wenn Tom Cullen sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er so stur und trotzig sein wie ein eigensinniges vierjähriges Kind.

Und so kam es, daß Tom von etwa elf Uhr morgens bis zum Nachmittag Dünnpfiff hatte. Der Schweiß floß ihm in Strömen. Er stöhnte. Selbst bei geringen Steigungen mußte er absteigen und sein Rad schieben. Nick konnte sich trotz der Wut über die verlorene Zeit eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen.

Als sie gegen vier Uhr nachmittags die Stadt Pratt erreichten, beschloß Nick, daß es für heute genügte. Tom ließ sich dankbar an einer Bushaltestelle auf eine Bank fallen, die im Schatten stand, und döste sofort ein. Nick ließ ihn dort sitzen und ging durch das Geschäftsviertel, um einen Drugstore zu suchen. Er wollte PeptoBismol besorgen und Tom zwingen, das Zeug zu trinken, wenn er aufwachte, um Tom zuzustöpseln. Nick war entschlossen, den Zeitverlust am nächsten Tag wettzumachen.

Zwischen dem Theater und dem hiesigen Norge fand er ein RexallGeschäft. Er betrat es durch die offene Tür, blieb einen Augenblick stehen und sog den mittlerweile bekannten heißen, stickigen und ungelüfteten Geruch ein. Aber er nahm auch andere schwere, erstickende Gerüche wahr. Der stärkste stammte von Parfüm.

Vielleicht waren in der Hitze ein paar Flaschen geplatzt. Nick sah sich um, suchte die Magenmedizin und fragte sich, ob Pepto-Bismol in der Hitze verdarb. Aber das würde auf dem Etikett stehen. Sein Blick streifte eine Schaufensterpuppe, und zwei Reihen weiter sah er, was er suchte. Er war schon zwei Schritte in diese Richtung gegangen, als ihm klar wurde, daß er noch nie eine Schaufensterpuppe in einer Drogerie gesehen hatte. Sie stand völlig reglos da, eine Flasche Parfüm in der einen, das kleine Glasstäbchen, mit dem das Zeug aufgetragen wurde, in der anderen Hand. Ihre porzellanblauen Augen waren weit aufgerissen, fassungslos und überrascht. Das braune Haar hatte sie mit einem glänzenden Seidenschal zurückgebunden, der ihr halb über den Rücken hing. Sie trug eine rosa Matrosenbluse und Jeansshorts, die so weit abgeschnitten waren, daß man sie für einen Slip halten konnte. Sie hatte einen pickeligen Ausschlag auf der Stirn und einen besonders fetten Pickel mitten auf dem Kinn.

Sie und Nick sahen einander über die halbe Länge des verlassenen Drugstores an, standen beide wie erstarrt. Dann fiel ihr die Parfümflasche aus der Hand und zerplatzte wie eine Bombe; Treibhausgeruch erfüllte den Laden, es roch wie in einem Bestattungsinstitut.

»Mann, bist du echt?« fragte sie mit zitternder Stimme. Bei ihrem plötzlichen Anblick hatte Nicks Herz rasend schnell zu schlagen angefangen; er k onnte spüren, wie ihm das Blut schwindelerregend in den Schläfen pochte. Sogar vor seinen Augen hatte es leicht zu flirren begonnen; Lichtpünktchen tanzten vor seinem Gesichtsfeld.

Er nickte.

»Du bist kein Gespenst?«

Er schüttelte den Kopf.

»Dann sag was. Wenn du kein Gespenst bist, sag was.«

Nick legte eine Hand auf den Mund, dann auf den Hals.

»Was soll das denn heißen?« Ihre Stimme klang leicht hysterisch. Nick konnte es nicht hören... aber er spürte es, er sah es ihrem Gesicht an. Er hatte Angst, sich ihr zu nähern. Er wußte, sie würde weglaufen. Er glaubte nicht, daß sie Angst vor einem anderen Menschen hatte; sie hatte Angst, daß sie eine Halluzination sah, und war drauf und dran durchzudrehen. Wieder spürte er eine Woge hilfloser Wut. Wenn er nur sprechen könnte...

Statt dessen führte er seine Pantomime noch einmal vor. Mehr konnte er ja nicht tun. Allmählich begriff sie.

»Du kannst nicht sprechen? Du bist stumm

Nick nickte.

Sie lachte ein schrilles Lachen, das fast enttäuscht klang. »Soll das heißen, da kommt endlich jemand, und dann ist es ein Stummer

Nick zuckte die Achseln und lächelte schief.

»Na ja«, sagte sie und kam den Gang entlang auf ihn zu, »du siehst nicht schlecht aus. Ist doch schon was.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, und die Rundungen ihrer Brüste streiften fast seinen Arm. Er roch mindestens drei verschiedene Sorten Parfüm, die aber den penetranten Schweißgeruch nicht überdecken konnten.

»Ich heiße Julie«, sagte sie. »Julie Lawry. Wie heißt du?« Sie kicherte. »Kannst du mir nicht sagen, was? Du Armer.« Sie beugte sich ein wenig vor, und jetzt streiften ihn ihre Brüste. Ihm wurde heiß. Junge, verdammt, dachte er unbehaglich, sie ist noch ein Kind. Er löste sich von ihr, zog den Block aus der Tasche und fing an zu schreiben. Als er eine oder zwei Zeilen zu Papier gebracht hatte, beugte sie sich über seine Schulter, um zu sehen, was er schrieb. Kein BH. O Scheiße. Sie hatte ihren Schock wirklich schnell überwunden. Nicks Schrift wurde ein wenig krakelig.

»Mann, ist ja toll«, sagte sie, während er schrieb - als wäre er ein Affe, der ein ganz besonders schwieriges Kunststück beherrscht. Nick sah auf den Block und »las« ihre Worte nicht, aber er konnte die kitzelnde Wärme ihres Atems spüren.

»Ich heiße Nick Andros. Ich bin taubstumm. Ich reise mit einem Mann namens Tom Cullen, der geistig zurückgeblieben ist. Er kann nicht lesen, und er versteht meine Gebärden nur, wenn sie einfach sind. Wir sind auf dem Weg nach Nebraska, weil ich glaube, daß dort Menschen sind. Komm mit uns, wenn du willst.«

»Klar«, sagte sie sofort, dann fiel ihr wieder ein, daß er taub war, und sie formte die Worte sehr deutlich, als sie sagte: »Kannst du von den Lippen lesen?«

Nick nickte.

»Okay«, sagte sie. »Ich bin froh, daß ich jemanden treffe, egal, ob taubstumm oder geistig zurückgeblieben. Es ist unheimlich hier. Seit der Strom abgeschaltet ist, kann ich nachts kaum schlafen.« Sie legte ihr Pickelgesicht in Kummerfalten, die einer Seifenopern-Heldin angemessener gewesen wären als einem normalen Menschen.

»Mom und Dad sind vor zwei Wochen gestorben, weißt du. Alle sind gestorben, nur ich nicht. Ich bin so einsam.« Schluchzend warf sie sich Nick in die Arme und rieb sich an ihm - eine obszöne Parodie ihres Kummers.

Als sie ihn endlich losließ, waren ihre Augen trocken und glänzend.

»He, machen wir's«, sagte sie, »irgendwie finde ich dich süß.«

Nick sah sie verblüfft an. Nicht zu glauben, dachte er. Aber es war durchaus ernst gemeint. Sie zog an seinem Gürtel.

»Komm schon. Ich nehm' die Pille. Kann nichts passieren.« Sie zögerte. »Du kannst doch, oder? Ich meine, daß du nicht sprechen kannst, bedeutet doch nicht, du kannst nicht...«

Er streckte die Hände aus, vielleicht nach ihren Schultern, aber statt dessen berührte er ihre Brüste. Das war das Ende jeden Widerstands; die letzten Dämme brachen. Er war keiner zusammenhängenden Gedanken mehr fähig. Er ließ sie auf den Fußboden sinken und nahm sie.




Danach ging er zur Tür und machte den Gürtel zu, während er nach draußen blickte, nach Tom sah. Dieser lag immer noch auf der Parkbank und war für die Welt verloren. Julie kam zu ihm; sie machte sich an einer frischen Parfümflasche zu schaffen.

»Ist das der Schwachsinnige?« fragte sie.

Nick nickte, aber das Wort gefiel ihm nicht. Es war ein grausames Wort.

Sie fing an, über sich selbst zu sprechen, und Nick stellte zu seiner Erleichterung fest, daß sie siebzehn war, nicht viel jünger als er selbst. Ihre Mama und ihre Freunde hatten sie immer Angel-Face genannt - Engelsgesicht - oder kurz Angel, sagte sie, weil sie so jung aussah. Im Verlauf der folgenden Stunde erzählte sie ihm noch eine Menge mehr, und Nick fand es beinahe unmöglich, Wahrheit und Lügen zu trennen... oder Wunschträume, wenn man so wollte. Vielleicht hatte sie auf jemanden wie ihn gewartet, der niemals ihren endlosen Monolog unterbrechen konnte, und zwar ihr ganzes Leben lang. Nicks Augen wurden müde, wenn er nur beobachtete, wie ihre rosa Lippen die Worte formten. Wenn er mehr als nur einen Moment wegsah, nach Tom oder zum eingeschlagenen Schaufenster des Bekleidungsgeschäfts gegenüber, berührte sie mit der Hand seine Wange und richtete seinen Blick wieder auf ihren Mund. Sie wollte, daß er alles hörte und nichts verpaßte. Anfangs war er wütend auf sie, dann langweilte sie ihn. Schon nach einer Stunde wünschte er sich, sehr zu seiner eigenen Fassungslosigkeit, er hätte sie überhaupt nicht gefunden, oder sie würde ihre Meinung ändern und nicht mit ihnen kommen.

Sie »stand« auf Rockmusik und Marihuana und mochte, wie sie es nannte, »kolumbianische Abheber« und »Einpfeifer«. Sie hatte einen Freund gehabt, aber der war so stinksauer auf das »EstablishmentSystem« geworden, das die hiesige High School in der Hand hatte, daß er letzten April den ganzen Krempel hingeschmissen hatte und den Marines beigetreten war. Seither hatte sie ihn nicht mehr gesehen, schrieb ihm aber immer noch jede Woche. Sie und ihre zwei Freundinnen, Ruth Honinger und Mary Beth Gooch, besuchten alle Rock-Konzerte in Wichita und waren vergangenen September bis nach Kansas City getrampt, um beim Konzert von Van Halen und den Monsters of Heavy Metal dabeizusein. Sie behauptete, sie habe »es mit dem Bassisten der Docken« gemacht und sagte, es »war das verdammt wahnsinnig geilste Abheb-Erlebnis meines Lebens«; als ihre Mutter und ihr Vater innerhalb von vierundzwanzig Stunden nacheinander gestorben waren, hatte sie »sich die Augen ausgeheult«, obwohl ihre Mutter ein »prüdes Miststück« und ihr Vater »eine Scheißwut« auf ihren Freund Ronnie hatte, der sie verlassen hatte und zu den Marines gegangen war; sie hatte Pläne, nach dem Abschluß der High School entweder einen Schönheitssalon in Witchita zu eröffnen oder »nach Hollywood zu gehen und sich einen Job bei einer der Firmen zu suchen, die den Stars die Häuser einrichteten. Ich bin eine verdammt wahnsinnig tolle Innenarchitektin, und Mary Beth hat gesagt, sie würde mit mir kommen.«

An dieser Stelle fiel ihr plötzlich wieder ein, daß Mary Beth Gooch tot war und die Möglichkeit, Inhaberin eines Schönheitssalons oder Dekorateurin der Stars zu werden, mit ihr gegangen war... wie alles und jeder andere. Das schien sie mit aufrichtigerem Kummer zu erfüllen. Aber es war kein Sturm, lediglich ein kurzes Unwetter. Als ihr Wortschwall ein wenig versiegte - jedenfalls vorläufig -, wollte sie es wieder »machen« (wie sie so zimperlich sagte). Nick schüttelte den Kopf, worauf sie kurz schmollte. »Vielleicht will ich doch nicht mit euch kommen«, sagte sie.

Nick zuckte die Achseln.

»Schlappschwanz - Schlappschwanz - Schlappschwanz«, sagte sie plötzlich schneidend und tückisch. Verachtung leuchtete in ihren Augen. Dann lächelte sie. »Hab' ich nicht so gemeint. War nur Spaß.«

Nick sah sie ausdruckslos an. Man hatte ihm schon schlimmere Namen gegeben, aber sie hatte etwas an sich, das ihm ganz und gar nicht gefiel. Eine rastlose Unausgeglichenheit. Wenn sie wütend auf einen wurde, würde sie nicht kreischen oder einem ins Gesicht schlagen; die nicht. Die würde einem die Augen auskratzen. Plötzlich war er felsenfest davon überzeugt, daß sie gelogen hatte, was ihr Alter betraf. Sie war nicht siebzehn, vierzehn oder einundzwanzig. Sie war immer in jenem Alter, in dem man sie sehen wollte... solange ein Kerl sie lieber vögeln wollte als sie den Kerl, solange ein Mensch sie mehr brauchte als sie selbst einen Menschen. Sie gefiel sich in der Rolle als Sexbombe, aber Nick war sich sicher, daß ihre Sexualität lediglich die Manifestation von etwas anderem in ihrer Persönlichkeit war... ein Symptom. Aber Symptom war ein Wort, das man bei jemandem benützte, der krank war, oder nicht? Hielt er sie für krank? In gewisser Weise schon, und plötzlich hatte er Angst vor dem Einfluß, den sie auf Tom haben konnte.

»He, dein Freund wacht auf!« sagte Julie.

Nick drehte sich um. Ja - Tom saß auf der Parkbank, kratzte sich das zerzauste Haar und sah sich verschlafen um. Plötzlich fiel Nick das Pepto-Bismol wieder ein.

»Hi, Junge!« trällerte Julie und lief die Straße entlang auf Tom zu, wobei ihre Brüste aufreizend unter dem engen Oberteil hüpften. Toms Augen waren die ganze Zeit groß gewesen, jetzt wurden sie noch größer.

»Hi?« sagte-fragte er langsam und sah Nick wegen einer Bestätigung und/ oder Erklärung an.

Nick verbarg sein Unbehagen, zuckte die Achseln und nickte. »Ich bin Julie«, sagte sie. »Wie geht's dir denn, Süßer?«

Sehr nachdenklich - und unbehaglich - ging Nick in den Drugstore zurück und holte, was Tom brauchte.




»Äh-äh«, sagte Tom, schüttelte den Kopf und wich zurück. »Äh-äh, ich will nicht. Tom Cullen mag keine Medizin, meine Güte, nein, schmeckt nicht.«

Nick sah ihn enttäuscht und ärgerlich an und hielt die dreikantige Flasche Pepto-Bismol in einer Hand. Er sah Julie an, und sie bemerkte seinen Blick, aber in ihren Augen lag der tückische Glanz wie vorhin, als sie ihn Schlappschwanz genannt hatte. Kein Augenzwinkern, sondern ein harter, eisiger Glanz. Der Blick eines Menschen ganz ohne Sinn für Humor, der im Begriff ist, einen Scherz zu machen.

»Ganz recht, Tom«, sagte sie. »Trink es nicht, es ist Gift.«

Nick starrte sie entsetzt an. Sie stand mit den Händen in den Hüften da, grinste und forderte ihn heraus, Tom vom Gegenteil zu überzeugen. Vielleicht war dies ihre kleinliche Rache dafür, daß er ihr zweites Sex-Angebot abgelehnt hatte.

Er blickte Tom wieder an und trank selbst einen Schluck aus der Flasche Pepto-Bismol. Er spürte den dumpfen Druck von Wut in den Schläfen. Er hielt Tom die Flasche hin, aber Tom war nicht überzeugt.

»Nein, äh-äh, Tom Cullen trinkt kein Gift«, sagte er, und Nick sah - voll überschäumender Wut auf das Mädchen -, daß Tom regelrecht entgeistert war. »Daddy sagt nein! Daddy sagt, wenn es die Ratten in der Scheune totmacht, macht es Tom auch tot! Kein Gift!«

Nick drehte sich plötzlich halb zu Julie um, er konnte das selbstgefällige Grinsen des Mädchens nicht mehr ertragen. Er schlug sie mit der flachen Hand, schlug sie fest. Tom sah ängstlich mit großen Augen zu.

»Du...« fing sie an, und für einen Augenblick fehlten ihr die Worte. Sie wurde rot im Gesicht und sah plötzlich hager und verdorben und boshaft aus. »Du verdammter taubstummer Krüppel! Es war nur Spaß, Pißkopf! Du kannst mich nicht schlagen! Du kannst mich nicht schlagen, Schlappschwanz!«

Sie wollte sich auf ihn stürzen, aber er stieß sie zurück. Sie prallte auf den Hosenboden ihrer kurzen Jeans und sah fauchend und mit gefletschten Zähnen zu ihm auf. »Ich reiß dir die Eier ab«, zischte sie. »Das kannst du nicht machen!«

Mit zitternden Händen und pochenden Kopfschmerzen holte Nick den Kugelschreiber heraus und schrieb mit großen, krakeligen Buchstaben eine Notiz. Er riß sie ab und hielt sie ihr hin. Sie schlug sie mit wütend funkelnden Augen beiseite. Er hob den Zettel auf, packte sie am Hals, hielt ihn ihr vors Gesicht. Tom hatte sich wimmernd zurückgezogen.

Sie kreischte: »Schon gut! Ich lese ihn! Ich lese deinen Scheißzettel!«

Es waren vier Worte: »Wir brauchen dich nicht.«

»Leck mich am Arsch!« schrie sie und riß sich los. Sie trat mehrere Schritte auf dem Bürgersteig zurück. Ihre Augen waren so groß und blau wie im Drugstore, als er fast über sie gestolpert wäre, aber jetzt funkelten sie vor Haß. Nick war müde. Von allen möglichen Menschen - warum gerade sie?

»Ich bleib' nicht hier«, sagte Julie Lawry. »Ich komme mit. Und du kannst mich nicht daran hindern.«

Doch, konnte er. War ihr das noch nicht klar geworden? Nein, dachte Nick, war es nicht. Für sie war dies alles eine Art HollywoodSzenario, ein hautnaher Katastrophen-Thriller, in dem sie die Hauptrolle spielte. Es war ein Film, in dem Julie Lawry, auch AngelFace genannt, immer bekam, was sie wollte. Er zog den Revolver aus dem Halfter und richtete ihn auf ihre Füße. Sie wurde ganz still; die Röte verschwand aus ihrem Gesicht. Ihre Augen veränderten sich, sie sah ganz anders aus, zum ersten Mal wirkte sie ungekünstelt. Etwas war in ihre Welt eingedrungen, das sie, jedenfalls ihrer Vorstellung nach, nicht zu ihrem Vorteil manipulieren konnte. Eine Schußwaffe. Plötzlich fühlte Nick sich nicht nur müde, sondern auch elend.

»Ich hab's nicht so gemeint«, sagte sie hastig. »Ich mach' alles, was du willst, ehrlich.«

Er winkte sie mit der Waffe fort.

Sie drehte sich um, ging davon und sah über die Schulter zurück. Sie ging immer schneller, dann fing sie an zu laufen. Einen Block weiter rannte sie um die Ecke und war verschwunden. Nick schob den Revolver wieder ins Halfter. Er zitterte. Er fühlte sich besudelt und deprimiert, als wäre Julie Lawry etwas Widerwärtiges gewesen, eher den krabbelnden, kalten Käfern verwandt, die man unter toten Bäumen findet, als den Menschen.

Er wandte sich ab und sah nach Tom, aber Tom war nirgends zu sehen.

Er trottete die sonnengleißende Straße entlang; sein Kopf pulsierte monströs um das Auge, das Ray Booth gequetscht hatte, und pochte schmerzhaft.

Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis er Tom gefunden hatte.Tom kauerte zwei Straßen vom Einkaufsviertel entfernt auf der hinteren Veranda eines Hauses. Er saß auf einer verrosteten Hollywoodschaukel und drückte die Fisher-Price-Tankstelle an die Brust. Als er Nick sah, fing er an zu weinen.

»Bitte, geben Sie mir das nicht zu trinken, bitte geben Sie Tom Cullen kein Gift, meine Güte, nein, Daddy sagt, wenn es Ratten totmacht, macht es mich auch tot... biiiiitte

Nick merkte, daß er die Flasche Pepto-Bismol immer noch in der Hand hielt. Er warf sie weg und zeigte Tom die leeren Hände. Mußte sein Durchfall eben den natürlichen Verlauf nehmen. Vielen Dank, Julie.

Tom kam schluchzend die Verandastufen herab. »Tut mir leid«, sagte er immer wieder. »Es tut mir leid, es tut Tom Cullen leid.«

Sie gingen gemeinsam zur Main Street... und blieben überrascht stehen. Beide Fahrräder waren umgestürzt. Die Reifen waren aufgeschlitzt worden. Der Inhalt ihres Gepäcks lag von einer Straßenseite zur anderen verstreut.

In dem Augenblick zischte etwas mit hoher Geschwindigkeit an Nicks Gesicht vorbei - er spürte es -, und Tom schrie und rannte los. Nick blieb einen Moment verblüfft stehen, schaute sich um, blickte zufällig in die richtige Richtung, sah das Mündungsfeuer des zweiten Schusses. Er kam aus einem Fenster im ersten Stock des Pratt Hotels. Etwas wie eine superschnelle Nähnadel schlug durch den Stoff seines Hemdkragens.

Er drehte sich um und rannte hinter Tom her.

Er hatte keine Möglichkeit festzustellen, ob Julie noch einmal schoß; als er Tom eingeholt hatte, wußte er nur eines mit Sicherheit: daß sie keinen von ihnen getroffen hatte. Wenigstens sind wir dieses Satansweib los, dachte er; aber wie sich herausstellen sollte, stimmte das nicht ganz.




An diesem Abend schliefen sie drei Meilen nördlich von Pratt in einer Scheune, und Tom erwachte immer wieder aus Alpträumen und weckte Nick, daß dieser ihn beruhigte. Am nächsten Morgen gegen elf Uhr erreichten sie luka und fanden in einem Laden, der sich »Sport und Cycle World« nannte, zwei gute Fahrräder. Nick, der sich allmählich von seiner Begegnung mit Julie erholte, wollte ihre Ausrüstung in Great Bend vervollständigen, das sie spätestens am 14. Juli erreichen würden.

Aber am Nachmittag des 12. Juli gegen Viertel vor drei sah er im linken Rückspiegel am linken Handgriff etwas aufblitzen. Er hielt an (Tom, der hinter ihm fuhr und träumte, fuhr ihm über den Fuß, aber Nick merkte es kaum) und sah sich um. Das Funkeln, das direkt auf dem Hügel hinter ihnen aufgegangen war wie das Tagesgestirn, erfreute und blendete sein Auge - er konnte es kaum glauben. Es war ein Chevy -Lieferwagen, ein uraltes Modell, eine gute alte Blechkiste aus Detroit, die langsam näherkam, von einer Fahrspur der US 81 auf die andere wechselte und so einem Gewirr liegengebliebener Fahrzeuge auswich.

Der Wagen fuhr neben sie (Tom wirkte ausgelassen, aber Nick konnte nur erstarrt und mit gespreizten Beinen über dem Fahrrad dastehen) und hielt an. Es ist Julie Lawry mit ihrem tückischen Lächeln! war Nicks letzter Gedanke, bevor sich der Fahrer herausbeugte. Sie würde die Waffe auf sie richten, mit der sie ihn und Tom schon einmal hatte töten wollen, und auf diese Entfernung konnte sie unmöglich danebenschießen. Die Hölle kennt keine größere Wut als die einer verschmähten Frau.

Aber das Gesicht, das auftauchte, war das eines vierzigjährigen Mannes mit Strohhut, in dessen blauem Samtband keck eine Feder steckte, und als er grinste, wurde sein Gesicht zu einer Wüste von Lachfältchen.

Und er sagte: »Bei allen Heiligen, soll ich mich jetzt freuen, euch Jungs zu treffen? Ja, ich glaub' schon. Steigt ein. Wollen mal sehen, wohin wir fahren.«

So lernten Nick und Tom Ralph Brentner kennen.

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