Kapitel 14

Joe Nantwich stieß vor mir auf den Heckenschützen.

Acht Tage nach Lodges Besuch fuhr ich nach West-Sussex zu den Rennen, nachdem ich den Vormittag im Büro zugebracht hatte. Die blauen Flecken waren verschwunden; Rippen und Schlüsselbein zeigten sich verheilt, und sogar die Kopfschmerzen hatten nachgelassen. Fröhlich vor mich hin pfeifend, betrat ich den Umkleideraum und wies Clem meinen nagelneuen Sturzhelm vor, den ich mir am selben Morgen bei Bates in der Jermyn Street für drei Guineas gekauft hatte.

Der Wiegeraum war leer, und dem Gemurmel der Zuschauer in der Ferne ließ sich entnehmen, daß das erste Rennen bereits lief. Clem begrüßte mich erfreut und schüttelte mir die Hand.

«Ich bin froh, daß Sie wieder da sind, Sir«, sagte er und nahm mir den Helm ab. Mit einem Kugelschreiber notierte er meinen Namen auf ein Stück Klebestreifen, den er dann auf den neuen Helm pappte.»Hoffentlich brauchen Sie nicht schon bald wieder einen.«

«Ich starte morgen wieder, Clem«, sagte ich.»Können Sie meine Sachen bringen? Ich nehme den großen Sattel. Das Gewicht spielt keine Rolle, ich reite >Admiral<.«

«Sie haben sicher drei oder vier Pfund verloren.«

«Um so besser«, meinte ich vergnügt und wandte mich zur Tür.

«Oh, einen Augenblick, Sir«, sagte Clem.»Ich soll Ihnen von Joe Nantwich ausrichten, daß er Ihnen etwas zu sagen hat.«

«So?«sagte ich.

«Er erkundigte sich schon am Samstag in Liverpool nach

Ihnen, aber ich wies ihn darauf hin, daß Sie wahrscheinlich hierher kommen würden, nachdem Mr. Gregory schon vorige Woche erwähnt hatte, daß Sie morgen >Admiral< reiten«, erwiderte Clem.

«Hat Ihnen Joe gesagt, worum es sich handelt?«

«Ja, er möchte Ihnen ein Stück Umschlagpapier zeigen, auf dem etwas geschrieben steht. Sie interessierten sich dafür, sagte er, obwohl ich mir das nicht vorstellen kann — auf dem Papier stand ein Wort, das mir ganz unverständlich war. Er zeigte es mir im Umkleideraum der Rennbahn von Liverpool, faltete das Papier dann zusammen und steckte es in die Brusttasche. Er kicherte die ganze Zeit. Wahrscheinlich hatte er etwas getrunken, aber da unterschied er sich nicht von den anderen Leuten. Es war ja nach dem Grand National. Er sagte, daß er das Geschriebene nicht verstehe, aber es könnte sich um einen Anhaltspunkt handeln. Er ließ sich nicht weiter aus, und ich hatte auch keine Zeit mehr.«

«Ich werde schon von ihm erfahren, worum es geht«, meinte ich.»Hat er das Papier eigentlich noch bei sich?«

«Ja. Er klopfte auf seine Tasche, als er mich vorhin fragte, ob Sie hier seien, und da hörte ich das Papier knistern.«

«Danke, Clem«, sagte ich.

Ich ging hinaus.

Sandy, der gerade vorbeikam, schlug mir auf die Schulter und meinte:»Freut mich, daß du wieder hier bist, wenn du auch aussiehst wie Narbengesicht persönlich. - Hast du Joe schon gesehen? Der Waschlappen schreit nach dir.«

«Ich hab’s gehört«, erwiderte ich.»Ich warte hier auf ihn.«

Ein paar Journalisten erkundigten sich bei mir nach meinen Plänen und machten über >Admiral< einige Notizen. Sir Creswell Stampe begrüßte mich mit hoheitsvollem Kopfnicken.

Meine Freude, wieder in der alten Umgebung zu sein, wurde durch den Anblick Danes etwas getrübt, der über den Rasen schlenderte und ernsthaft auf ein unglaublich hübsches Mädchen an seiner Seite einsprach. Sie wandte ihm das Gesicht zu und lachte fröhlich. Es war Kate.

Als sie mich sahen, beschleunigten sie ihre Schritte und kamen lächelnd auf mich zu. Kate, die sich schon vor ein paar Tagen beim Mittagessen an mein lädiertes Gesicht gewöhnt hatte, begrüßte mich mit einem fröhlichen:»Guten Tag, Alan«, ohne daß ich etwas von Liebe oder Sehnsucht darin gespürt hätte. Sie legte mir die Hand auf den Arm und schlug vor, daß ich mit ihr und Dane zum Wassergraben gehen sollte, damit wir von dort aus das zweite Rennen beobachten konnten. Ich warf einen Blick auf Dane. Er lächelte schwach; seine dunklen Augen ruhten forschend auf mir. In mir hatte sich alles zusammengekrampft, als ich ihn mit Kate zusammen gesehen hatte; jetzt wußte ich also genau, wie er mir gegenüber eingestellt war.

Es war ebenso aus Verlegenheit über das Abflauen unserer Freundschaft als der Wunsch, Claude Thiveridge auf den Fersen zu bleiben, daß ich sagte:»Ich kann nicht gleich mitkommen. Ich muß zuerst Joe Nantwich finden. Vielleicht später., wenn du dann noch willst?«

«Na schön, Alan«, sagte sie.»Vielleicht können wir später miteinander Tee trinken?«Sie ging mit Dane weg und sagte:»Wir sehen uns später«, wobei sie spöttisch lächelte.

Ich sah ihnen nach, vergaß, nach Joe Ausschau zu halten, und suchte noch einmal in den Wiege- und Umkleideräumen nach ihm. Er war nicht da.

Als ich wieder ins Freie trat, tauchte Pete auf und begrüßte mich überschwenglich.»Sie haben dich wieder ganz schön zusammengeflickt«, meinte er humorvoll.»Du kannst dich wahrscheinlich immer noch nicht richtig erinnern?«

«Nein«, erwiderte ich bedauernd.»Manchmal habe ich das Gefühl., aber es reicht nicht ganz.«

«Vielleicht ist das ganz gut«, meinte er beruhigend und wollte in den Wiegeraum gehen.

«Pete«, sagte ich,»hast du Joe irgendwo gesehen? Ich glaube, er hat nach mir gefragt.«

«Ja«, erwiderte er,»schon in Liverpool. Er wollte dir dringend etwas zeigen. Eine Adresse, glaube ich, die auf Packpapier geschrieben war.«

«Hast du sie gesehen?«fragte ich.

«Ja, aber er geht mir auf die Nerven, und ich habe nicht besonders aufgepaßt. Chichester hieß der Ort, glaube ich.«

«Weißt du, wo Joe jetzt ist?«fragte ich.»Ich warte schon eine ganze Weile auf ihn, aber er läßt sich nicht blicken.«

«Ja, ich habe ihn vor etwa zehn Minuten in der Bar gesehen«, sagte Pete verächtlich.

«Jetzt schon!«rief ich.

«Dieser Trunkenbold«, meinte er leidenschaftslos.»Ich würde ihm keines meiner Pferde anvertrauen, auch wenn er der einzige Jockey wäre, den es noch gibt.«

«Welche Bar war es?«fragte ich.

«Was? Ach so, die Bar hinter dem Tattersall, neben dem Toto. Er und noch ein Mann gingen mit dem massigen Kerl hinein, für den er reitet; heißt er nicht Tudor?«

Ich starrte ihn an.»Aber Tudor war doch in Cheltenham mit Joe fertig., es gab sogar einen Mordskrach.«

Pete zuckte die Achseln.»Tudor ging mit Joe in das Lokal, und der andere Bursche war nur ein paar Schritte dahinter. Vielleicht nur Zufall.«

«Vielen Dank jedenfalls«, sagte ich.

Man brauchte nur etwa hundert Meter zurückzulegen und um die Ecke zu biegen, um das Lokal zu erreichen, das Joe aufgesucht hatte. Es war eine lange Holzbaracke, die

unmittelbar an dem hohen Zaun stand, der die Rennbahnanlage von der Straße trennte. Ich drängte mich durch die Schar von Biertrinkern, aber Joe war nicht mehr da. Auch Clifford Tudor nicht.

Ich ging wieder hinaus. Das zweite Rennen mußte bald beginnen, und am Toto nebenan warteten ungeduldig die Leute. Männer hasteten über den Rasen auf die Tribünen zu. Im Totogebäude läuteten Glocken, und die Wartenden drängten nach vorn, um ihr Geld loszuwerden, bevor die Schalter geschlossen wurden.

Ich blieb unschlüssig stehen. Joe zeigte sich nirgends, und ich beschloß, ihn auf den Tribünen zu suchen. Ich warf noch kurz einen Blick in das Lokal, aber dort hielten sich nur drei Kellnerinnen auf.

Nur, weil ich so langsam ging, fand ich Joe.

Infolge der Straßenbiegung dahinter standen das Totogebäude und das Lokal nicht in gerader Linie nebeneinander. Die Lücke zwischen den Gebäuden war vorne schmal, sie betrug höchstens 40 Zentimeter, aber der Zwischenraum weitete sich, bis die Entfernung zwischen den Gebäudewänden am Zaun selbst eineinhalb Meter betrug.

Ich warf einen Blick hinein, als ich daran vorbeiging. Und da war Joe. Ich wußte das allerdings erst, als ich neben ihm stand.

Zuerst sah ich nur einen Mann in der Ecke liegen. Da ich dachte, er könnte krank, bewußtlos oder ganz einfach betrunken sein, ging ich hin.

Er lag im Schatten, aber irgend etwas an seiner Gestalt und seiner schlaffen Haltung ließ mich ihn plötzlich erkennen.

Er war am Leben, aber es hing an einem seidenen Faden. Hellrotes, schaumiges Blut rann ihm aus der Nase und dem Mundwinkel. Sein rundes, junges Gesicht wirkte immer noch beleidigt, als könne er gar nicht verstehen, was da mit ihm geschehen war.

Joe hatte ein Messer im Leib. Der dicke, schwarze Griff ragte aus seinem gelbweißkarierten Hemd.

Er hatte die Augen offen, aber sie waren bereits trübe geworden.

«Joe!«flüsterte ich. Er sah mich an und erkannte mich. Ein Muskel in seinem Gesicht bewegte sich; er öffnete den Mund. Mit letzter Kraft versuchte er zu sprechen. Plötzlich schoß ihm Blut aus der Nase, aus dem Mund. Er gab einen erstickten Laut von sich, und tiefes Erstaunen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Dann sank er zusammen, seine Augen rollten nach oben, und Joe war tot.

Ich drückte ihm die Lider zu und kauerte hilflos vor ihm.

Ich wußte, daß es nutzlos war, aber nach ein paar Augenblicken knöpfte ich sein Jackett auf und suchte in seinen Taschen nach dem braunen Papier, das er mir hatte zeigen wollen. Es war verschwunden, wie ich vermutet hatte. Jemand hatte dafür gesorgt, daß er es mir nicht mehr zu zeigen vermochte.

Ich stand auf und ging zu dem schmalen Eingang zurück. Niemand war in der Nähe. Die Stimme des Sprechers erklärte über den Lautsprecher, daß die Pferde sich dem zweiten Graben näherten; das Rennen war also schon zur Hälfte gelaufen, und ich mußte mich beeilen.

Ich rannte zum Büro der Rennleitung und riß die Tür auf. Ein grauhaariger Mann mit Brille, der an seinem Schreibtisch saß, sah überrascht auf. Es war der Sekretär der Rennleitung.

«Mr. Rollo ist nicht hier?«fragte ich unnötigerweise.

«Er beobachtet das Rennen. Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Mit kurzen Worten und in aller Ruhe erklärte ich ihm, daß Joe Nantwich erstochen zwischen dem Totogebäude und der Bar liege, ein Messer in der Lunge. Ich empfahl ihm, eine spanische

Wand zu beschaffen, die man vor der Lücke zwischen den beiden Gebäuden aufstellen konnte, da sonst jemand den Toten sehen würde, sobald die Zuschauer zum Lokal und zu den Auszahlungsschaltern strömten.

Der Mann machte große, ungläubige Augen.

«Es ist kein Witz«, sagte ich verzweifelt.»Das Rennen muß bald zu Ende sein. Verständigen Sie wenigstens die Polizei. Das übrige erledige ich. «Er rührte sich immer noch nicht.»Beeilen Sie sich schon«, schrie ich. Aber er hatte den Hörer noch nicht abgenommen, als ich die Tür schloß. Ich hastete zum Sanitätsraum, in dem zwei Krankenschwestern Tee tranken. Ich wandte mich an die jüngere.

«Stellen Sie die Tasse weg und kommen Sie sofort mit«, sagte ich. Ich nahm eine Tragbahre, die an der Wand lehnte, und als sie langsam die Tasse absetzte, fügte ich hinzu:»Bringen Sie eine Decke mit. Ein Mann ist verletzt. Bitte beeilen Sie sich.«

Die Krankenschwester verzichtete auf Einwendungen, nahm eine Decke und folgte mir.

Die Stimme des Sprechers wurde etwas lauter, als er das Finish kommentierte, und nach einer Pause wurde der Sieger angesagt. Ich erreichte die Öffnung zwischen den beiden Gebäuden, als die Namen der Zweit- und Drittplazierten bekanntgegeben wurden.

Einige Zuschauer kehrten schon zur Bar zurück. Ich warf einen Blick auf Joe. Niemand schien inzwischen hier gewesen zu sein.

Ich stellte die Tragbahre auf, um eine Art Abschirmung zu schaffen. Die Krankenschwester kam angekeucht. Ich nahm ihr die Decke ab und hängte sie über die Tragbahre, damit niemand in den Zwischenraum hineinsehen konnte.

«Passen Sie auf«, sagte ich mit erzwungener Beherrschung.»Zwischen den beiden Gebäuden liegt ein Mann. Er ist tot, nicht verletzt. Man hat ihn mit einem Messer ermordet. Bleiben Sie hier und lassen Sie niemand vorbei, bis ich mit einem Polizisten zurückkomme. Verstehen Sie mich?«

Sie schwieg, drehte die Tragbahre etwas zur Seite, damit sie hineinsehen konnte. Dann richtete sie sich kerzengerade auf und sagte fest:»Ich sorge dafür, daß niemand hineingeht.«

Ich eilte zum Büro der Rennleitung. Mr. Rollo war diesmal selbst anwesend, und nachdem ich ihm erzählt hatte, was geschehen war, rührte sich endlich etwas.

Es ist an einem Renntag immer schwierig, eine Stelle zu finden, wo man allein sein kann. Nachdem ich einen Polizisten zu Joe geführt hatte, brauchte ich ein paar Minuten.

Ich überquerte die Rennbahn und stakte durchs Gras zur Mitte der Anlage.

Die Frage, die sich mir stellte, war ganz einfach. Sollte ich weitermachen oder nicht? Ich bin kein Held. Ich wollte nicht auch noch mein Leben verlieren. Und jene Idee, die mir angesichts des toten Joe gekommen war, barg ein sehr großes Risiko in sich.

Die Pferde für das dritte Rennen gingen an den Start. Geistesabwesend sah ich hinüber. Das Rennen wurde gelaufen; die Pferde kehrten zum Sattelplatz zurück, und ich stand immer noch am selben Fleck. Schließlich trat ich auch den Rückweg an. Die Jockeys bestiegen bereits ihre Pferde für das vierte Rennen, und als ich den Wiegeraum erreichte, packte mich einer der Offiziellen beim Arm und sagte, daß mich die Polizei überall gesucht habe. Ich solle sofort ins Büro der Rennleitung kommen, um meine Aussage zu machen.

Ich ging hin und öffnete die Tür.

Mr. Rollo, klein und hager, lehnte mit gerunzelter Stirn am Fenster. Sein grauhaariger Sekretär saß immer noch fassungslos am Schreibtisch.

Der Polizeiinspektor, der sich unter dem Namen Wakefield vorstellte, hatte Mr. Rollos Tisch mit Beschlag belegt; er wurde von drei Wachtmeistern unterstützt. Einer davon war mit Notizblock und Bleistift ausgerüstet. Der Rennbahnarzt saß auf einem Stuhl an der Wand, neben ihm stand ein Mann, den ich nicht kannte.

Wakefield war schlecht auf mich zu sprechen, weil ich es gewagt hatte, in dieser Situation über eine halbe Stunde unauffindbar zu bleiben.

«Wenn Sie endlich soweit sind, Mr. York«, sagte er sarkastisch,»dann können wir vielleicht einmal Ihre Aussage aufnehmen.«

Ich sah mich langsam um und erwiderte dann:»Ich ziehe es vor, mit Ihnen allein darüber zu sprechen.«

Der grauhaarige, breitschultrige Inspektor brauste auf und stritt mit mir. Schließlich gingen aber alle und ließen mich mit Wakefield und einem Wachtmeister allein, der meine Aussage mitstenografieren sollte. Ich erzählte Wakefield genau, was vorgefallen war. Die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit.

Dann kehrte ich in den Wiegeraum zurück, und zu allen Leuten, die sich um mich drängten und einen Augenzeugenbericht verlangten, sagte ich, daß ich Joe lebend gefunden hatte. Ja, erklärte ich jedesmal, er hat noch etwas zu mir gesagt, bevor er starb. Was sei das gewesen? fragte man. Nun, es habe sich nur um ein paar Worte gehandelt, und ich zöge es vor, im Augenblick nicht darüber zu sprechen. Ich fügte hinzu, daß ich die Polizei noch nicht davon unterrichtet hätte, es aber nachholen würde, wenn ich es für wichtig genug hielte. Und ich machte ein nachdenkliches Gesicht, als hätte ich den Schlüssel zu der ganzen Affäre in der Hand.

Ich ging mit Kate zum Teetrinken, und Pete gesellte sich zu uns. Auch ihnen erzählte ich dieselbe Geschichte, ein wenig beschämt, aber ich wollte um jeden Preis vermeiden, daß sie der

Wahrheit entsprechend anderen Leuten mitteilten, Joe sei gestorben, ohne noch ein Wort zu sagen.

Kurz vor dem sechsten Rennen verließ ich die Bahn. Als ich mich am Tor noch einmal umsah, standen Wakefield und Clifford Tudor vor dem Büro der Rennleitung und schüttelten sich die Hände. Tudor, der mit Joe so kurz vor seinem Tode noch zusammengewesen war, hatte anscheinend >die Polizei bei ihren Nachforschungen unterstützte Zur Zufriedenheit, wie es schien.

Ich stieg in meinen Lotus und fuhr in westlicher Richtung davon. Ich ließ die Tachonadel auf über hundert Meilen klettern. Da konnte kein Wagen der Marconicars mit, dachte ich befriedigt. Um aber ganz sicherzugehen, daß ich nicht verfolgt wurde, hielt ich auf einer Anhöhe und beobachtete die Straße hinter mir mit dem Fernglas. Nichts rührte sich.

Ungefähr dreißig Meilen von der Rennbahn entfernt parkte ich vor einem Rasthaus und nahm mir für die Nacht ein Zimmer. Ich bestand auch darauf, daß der Wagen in eine verschlossene Garage gebracht wurde. Ich wollte kein Risiko eingehen.

Nach dem Essen ging ich auf mein Zimmer und schrieb meinem Vater einen Brief. Ich berichtete ihm von Joes Tod und schilderte, wie ich ihn benützen wollte, um Mr. Thiveridge aus seinem Versteck zu locken. Ich bat meinen Vater, mir das nicht übelzunehmen.

Ich tat den Brief in einen Umschlag, ging früh zu Bett und lag vor dem Einschlafen noch lange wach.

Auf dem Weg zurück zur Rennbahn am nächsten Morgen hielt ich an einem Postamt und gab den Brief per Luftpost auf. Außerdem kaufte ich mir für vier Shillinge Pennies und ließ sie mir in einer Rolle zusammenpacken. Ich nahm ein frisches Paar Socken aus meinem Koffer und steckte die schwere Rolle in einen davon, um ihn dann fest zuzuknoten. Ich schwang meinen kleinen Totschläger prüfend hin und her. Man mußte einen

Mann damit niederschlagen können, dachte ich. Ich steckte ihn in die Hosentasche und fuhr weiter. Am Rennplatz angekommen, fragte ich einen Wachtmeister, wo ich Inspektor Wakefield finden könne, wenn ich ihn brauchte. Der Wachtmeister erklärte, daß Wakefield im Revier sei und nicht vorhabe, an diesem Nachmittag die Rennbahn aufzusuchen, obwohl er schon in der Frühe hiergewesen sei. Ich bedankte mich, betrat den Wiegeraum und fragte ein paar Leute mit lauter Stimme, ob sie Inspektor Wakefield gesehen hätten, weil ich ihn wegen der letzten Worte Joes sprechen müßte.

Mit meinen Nerven stand es nicht zum besten. Ich rechnete damit, daß man mich an eine abgelegene Stelle bugsieren würde, aber ich hoffte, mit Hilfe meines selbstgefertigten Totschlägers den Angreifer unschädlich machen und Inspektor Wakefield übergeben zu können. Wakefield war alles andere als zimperlich, und mit ein bißchen Glück würde sich ein Hinweis darauf ergeben, wer Mr. Thiveridge eigentlich war.

Ich zog mich um, wog mich, plauderte mit den anderen Jockeys und wartete.

Nichts geschah. Niemand bat mich in eine Ecke, um private Angelegenheiten zu bereden, niemand zeigte besonderes Interesse daran, was Joe vor seinem Tode zu mir gesagt haben könnte. Natürlich war der Mord immer noch Hauptgesprächsthema, aber im Laufe des Tages gewann doch das Interesse an den lebendigen Pferden für die Leute im Wiegeraum die Oberhand.

>Admiral< war für das fünfte Rennen gemeldet. Nach dem vierten Rennen hatten sich meine Nerven beruhigt; meine gespannte Erwartung war ruhiger Überlegung gewichen. Ich hielt mich jetzt schon drei Stunden hier auf, und noch nichts war gegen mich unternommen worden.

Nicht zum erstenmal dachte ich, daß in Thiveridges Organisation zwischen Ursache und Wirkung immer eine längere Pause lag. Joes Tod war erst zwei Tage, nachdem er das braune Papier in Liverpool hergezeigt hatte, eingetreten. Ich hatte in Cheltenham von dem Draht erzählt und war erst zwei Tage später gewarnt worden. Man hatte meinen Sturz in Bristol zwei Tage nach meinem Besuch im Büro der Marconicars arrangiert.

Ich begann zu argwöhnen, daß das Funktionieren der Organisation immer noch auf den täglichen Anruf Thiveridges bei Fielder abgestellt war und daß Fielder keine Möglichkeit hatte, dieses Verfahren zu beschleunigen. Deprimiert kam ich zu der Auffassung, daß meine sorgfältig einstudierten Lügen jene Ohren gar nicht erreicht hatten, für die sie bestimmt waren. Ich ging zum Sattelplatz, wo >Admiral< und Pete auf mich warteten.

«Er ist in Bestform, obwohl er seit Maidenhead nicht mehr startete«, sagte Pete.»Du kannst das Rennen nicht verlieren, also mach am Anfang langsam und gewöhne dich an ihn. Du wirst feststellen, daß er eine Menge in Reserve hat. Bill nahm ihn immer gleich zu Anfang an die Spitze, aber das ist nicht nötig. Er schafft es auch vom letzten Hindernis ab.«

«Verstehe«, sagte ich. Pete half mir in den Sattel.»>Admiral< ist wieder Favorit«, sagte er.»Wenn du das Rennen verschenkst, bringt dich das Publikum um. «Er grinste.

«Ich werd’s schon schaffen«, meinte ich.

>Admiral< war so herrlich zu reiten, wie er aussah. Er sprang stets genau im richtigen Augenblick ab; man brauchte ihm keine Hilfen zu geben. Es war ein reines Vergnügen, ihn zu reiten. Petes Rat befolgend, blieb ich die ganze Zeit auf gleicher Höhe mit den anderen, aber am letzten Hindernis trieb ich >Admiral< an. Er flog über das Hindernis, schoß davon, ließ die anderen Pferde stehen und gewann spielend.

Als ich abstieg und die Sattelgurte löste, sah ich, daß >Admiral< kaum schneller atmete als vor dem Rennen. Ich tätschelte ihn, bemerkte, daß er kaum schwitzte, und fragte Pete:»Was schafft er denn um Himmels willen, wenn er sich einmal richtig anstrengt?«

«Das National, ohne Frage«, meinte Pete, wiegte sich auf den Absätzen und ließ die Gratulationen der Umstehenden über sich ergehen.

Ich grinste, nahm den Sattel unter den Arm und verschwand im Wiegeraum, um mich nach dem Wiegen umzuziehen.

Pete rief mir nach, ich sollte mich beeilen, also zog ich mich schnell um und ging mit ihm zur Bar. An der Lücke zwischen den beiden Gebäuden blieben wir stehen und sahen hinein. Man hatte davor einen schulterhohen Holzzaun errichtet.

«Eine furchtbare Geschichte«, sagte Pete, als wir das Lokal betraten.»Was hat er dir eigentlich vor seinem Tod noch erzählt?«

«Wir sprechen ein andermal darüber«, sagte ich.»Jetzt interessiert mich vielmehr, wo >Admiral< in der nächsten Zeit startet. «Und über unseren Drinks wurde nur von Pferden gesprochen.

Als wir zum Wiegeraum zurückkehrten, erwarteten uns zwei Männer in Regenmänteln. Man sah ihnen schon von weitem an, daß sie Kriminalbeamte waren. Einer von ihnen zog einen Ausweis aus der Tasche und zeigte ihn mir kurz.

«Mr. York?«

«Ja.«

«Beste Grüße von Inspektor Wakefield, und Sie möchten doch zum Polizeirevier mitkommen, weil er Sie noch einiges zu fragen hat.«

«Gut«, sagte ich und bat Pete, sich mit Clem wegen meiner Sachen in Verbindung zu setzen.

«Natürlich«, sagte er.

Ich ging mit den beiden Männern zum Ausgang.

«Ich hole meinen Wagen vom Parkplatz und folge Ihnen dann

«An der Straße wartet ein Dienstwagen auf uns, Sir«, meinte der Größere.»Inspektor Wakefield hat uns aufgetragen, Sie mitzubringen, und wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir, möchte ich es schon lieber so machen, wie er es haben will.«

Ich grinste. Das konnte ich verstehen.»Na schön«, meinte ich.

Draußen vor dem Tor war ein großer schwarzer Wolseley geparkt, ein uniformierter Fahrer stand daneben, ein Mann mit Mütze saß auf dem rechten Vordersitz.

Zu meiner Rechten, vor den Reihen geparkter Pferdetransportwagen, wurden einige Pferde aus >Admiral s< Rennen hin und her geführt, damit sich die Steifheit aus ihren Beinen verlor, ehe man sie zur Heimreise verlud. >Admiral< war unter ihnen; Victor, sein Stallbursche, marschierte stolz neben ihm her.

Ich erzählte dem Mann zu meiner Rechten, dem kleineren, daß dort mein Pferd sei, als ich einen solchen Schock erlitt, daß mir der Atem wegblieb. Um mich nicht zu verraten, ließ ich mein Fernglas fallen und bückte mich langsam, um es wieder aufzuheben, während meine Begleiter auf mich warteten. Ich hängte mir das Glas über die Schulter, richtete mich auf und sah in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Vierzig Meter trennten uns von der letzten Parkreihe. Niemand war in der Nähe. Ich sah auf die Uhr. Das letzte Rennen mußte eben beginnen.

Ich drehte mich langsam herum, ließ meinen Blick an dem Mann zu meiner Rechten vorbei hinüber zu >Admiral< gleiten, der sich jetzt von mir entfernte. Wie stets nach dem Rennen war er in eine Decke gepackt, damit er sich nicht zu schnell abkühlte, und er trug noch immer sein Zaumzeug.

Der große Nachteil bei Victor war, daß er nicht gerade zu den Schnelldenkern zählte. Er besaß ein instinktives Gespür für Pferde und eine unglaubliche Geschicklichkeit im Umgang mit

ihnen, aber in anderen Dingen konnte man sich nicht auf ihn verlassen.

«Victor«, rief ich, und als er sich umdrehte, bedeutete ich ihm durch Gesten, >Admiral< zu mir zu führen.

«Ich möchte nur nachsehen, ob seine Beine in Ordnung sind«, erklärte ich den beiden Männern. Sie nickten und warteten neben mir; der größere trat von einem Fuß auf den anderen.

Ich wagte nicht, ein drittes Mal hinzusehen, und außerdem wußte ich, daß ich mich nicht getäuscht hatte.

Der Mann zu meiner Rechten trug die Krawatte, die ich außerhalb Maidenheads im Pferdetransportwagen verloren hatte.

Ich hatte sie zum 21. Geburtstag von einem Textilfabrikanten geschenkt bekommen, der mit meinem Vater einen Abschluß zu tätigen wünschte. Das Muster war unverwechselbar.

Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, daß ein junger Kriminalbeamter auf ehrliche Weise zu meiner Krawatte gekommen war, fragte ich mich. Farmer Lawson hatte sie nicht gefunden, und auch keiner seiner Arbeiter gab zu, sie gesehen zu haben. Es war zuviel des Zufalls, daß sie bei einem Mann auftauchte, der mich in einen Wagen bat, um mit mir davonzufahren.

Hier war der Angriff, auf den ich gewartet hatte, und beinahe wäre ich blindlings in die Falle gelaufen. Es würde nicht einfach sein, jetzt einen Ausweg zu finden. Der >Dienstwagen< stand kaum zwanzig Schritte vor uns; der Fahrer sah in unsere Richtung.

Wenn ich nur im geringsten andeutete, daß mir Zweifel gekommen waren, würden mich die drei in den Wagen stoßen und davonbrausen, so daß nur Victor zurückblieb, auf den kein Verlaß war. Dann blieb mir keine Hoffnung. Von solchen Fahrten kehrte man nicht zurück.

Mein Plan, Wakefield einen mutmaßlichen Mörder vorzuführen, taugte nichts. Mit einem Mann wäre ich noch fertig geworden, aber nicht mit dreien, und überdies saß noch ein vierter im Wagen. Als Victor noch etwa fünfzehn Schritte von mir entfernt war, ließ ich den Riemen meines Feldstechers über die Schulter, den Arm hinunter, in meine Hand gleiten. Plötzlich schwang ich mit ganzer Kraft das Fernglas wie eine Bola um die Beine des Größeren, so daß er das Gleichgewicht verlor und stürzte, warf den Kleineren mit dem einzigen Judogriff, den ich kannte, zu Boden, und rannte auf >Admiral< zu.

Die fünf Sekunden, die sie brauchten, um sich von dem unerwarteten Angriff zu erholen, genügten mir. Als sie mir mit entschlossenen Gesichtern nachsetzten, sprang ich auf >Admirals< Rücken, ergriff die Zügel und wendete auf der Hinterhand.

Der dritte Mann rannte vom Wagen auf mich zu. Ich brachte >Admiral< in leichten Galopp, wich dem herankommenden Chauffeur aus und ritt auf die den Parkplatz begrenzende Hecke zu. >Admiral< übersprang sie mit einem mächtigen Satz und landete auf dem Grasrand der Straße, wenige Meter von dem schwarzen Wagen entfernt. Der vierte Mann öffnete die Tür und stieg aus.

Victor stand da wie eine Salzsäule und riß den Mund auf. Die drei Männer rannten auf das Tor zu. Sie hatten es beinahe erreicht. In der Hand des Mannes, der meine Krawatte trug, blitzte etwas auf. Es war nicht der richtige Augenblick, herauszufinden, ob das Blitzen von einem Messer stammte, wie es für die Ermordung Joes benützt worden war, aber er holte plötzlich aus und warf es nach mir. Ich ließ mich nach vorne auf den Hals meines Pferdes fallen, und das Messer verfehlte mich. Ich hörte, wie es auf der Straße aufschlug.

Ich trieb >Admiral< quer über die Straße, ohne mich um die quietschenden Bremsen eines Lastwagens zu kümmern, und er setzte mit einem Sprung über den Zaun ins angrenzende Feld. Der Boden stieg hier steil an, so daß ich die Straße und den

Parkplatz wie auf einem Modell überblicken konnte, als ich anhielt und mich umsah.

Victor stand immer noch da und kratzte sich am Kopf. Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, ehe er Pete Bescheid sagte.

Sobald das letzte Rennen vorbei war, würden sich auf dem Parkplatz die Leute drängen und die Wagen in langer Reihe das Tor passieren. Dann mußte es mir gelingen, ungefährdet zum Rennplatz zurückzukehren.

In diesem Augenblick hielt wieder ein schwarzer Wagen hinter dem Wolseley, dann noch einer, und immer wieder einer, bis eine Reihe von acht oder mehr Fahrzeugen an der Straße stand.

Es waren Marconicars.

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