Kapitel 16

Ein Taxifahrer, der sich nach dem Weg zum Polizeirevier erkundigt, wird selbst einem Geistesschwachen verdächtig erscheinen. Ich parkte den Wagen in einer Seitenstraße und hastete um die Ecke. Im nächsten Laden stellte ich dann meine Frage.

Es war ein Tabakgeschäft, in dem mehrere Leute warteten, also wandte ich mich an einen der Kunden, einen älteren Mann mit wäßrigen Augen und einer schmierigen Mütze. Er erklärte mir den Weg genau.

«Sind Sie in Schwierigkeiten?«fragte er neugierig, als er meinen schmutzigen Anzug sah.

«Mein Hund ist entlaufen«, erwiderte ich lächelnd.

Ich ging schnell zum Taxi zurück. Zwei kleine Buben lauschten mit offenen Mündern den Stimmen aus dem Funkgerät. Ich stieg ein, blinzelte ihnen zu und sagte:»Heute ist wieder allerhand los in der Kinderstunde, was?«Ihre Gesichter hellten sich auf und sie lachten.

Ich fuhr los. Die heisere Stimme sagte:». um jeden Preis. Es ist mir gleichgültig, wie ihr es macht. Er darf nicht entkommen. Wenn ihr ihn nicht lebend fangen könnt, müßt ihr ihn umlegen. Aber man darf in seiner Leiche keine Kugeln finden.«

«Es wäre aber alles viel einfacher, wenn wir ihn niederschießen dürften, Sir«, sagte Fletcher.

Ich fand das Polizeirevier ohne Schwierigkeiten. Hundert Meter davon entfernt hielt ich den Wagen an und schloß die Fenster. Aus dem Lautsprecher krächzte es immer noch, und der Mann mit der heiseren Stimme konnte seine ohnmächtige Wut nicht mehr verbergen. Ich hörte noch, wie er Fletcher zugestand,

daß man mich abknallen dürfe, dann stieg ich aus, schloß die Wagentür und ging davon.

Das Büro der Marconicars konnte höchstens eine halbe Meile entfernt sein. Ich eilte weiter, hielt aber gleichzeitig Ausschau nach einer Telefonzelle. Die Straßenbeleuchtung wurde eingeschaltet.

Die rote Telefonkabine vor einem Postamt war ebenfalls erleuchtet, und obwohl ich wußte, daß ich nicht in Gefahr war, hätte ich Dunkelheit vorgezogen.

Ich betrat die Zelle, ließ mir von der Auskunft die Nummer des Polizeireviers in Maidenhead geben und rief dann dort an. Ein Sergeant erklärte mir, daß Inspektor Lodge vor einer Stunde gegangen sei, aber erst nach einigem Drängen rückte er mit der Privatnummer heraus.

Ich fütterte den Apparat wieder mit Münzen und gab der Vermittlung die neue Nummer an. Es läutete und läutete. Meine Stimmung sank, denn wenn ich Lodge nicht schnell erreichen konnte, wurde die Chance, den Marconicars ein für allemal den Garaus zu machen, wesentlich geringer. Aber endlich meldete sich eine Frau.

«Inspektor Lodge? Einen Augenblick, ich muß mal nachsehen, ob er da ist. «Es blieb einige Zeit still, dann meldete sich Lodge.

«Mr. York?«

Ich berichtete ihm kurz, was geschehen war.»Ich habe das Taxi in Melton Close, hundert Meter vom Polizeirevier entfernt, abgestellt. Ich möchte, daß Sie die Polizei hier anrufen und den Wagen holen lassen. Sagen Sie den Beamten, daß sie sich die Stimme aus dem Lautsprecher anhören sollen. Unser Freund mit der heiseren Stimme verlangt von den Fahrern, daß sie mich umbringen. Damit können wir die Marconicars ein für allemal unschädlich machen. Einer der Fahrer, die hinter mir her sind, heißt Fletcher. Er steuerte damals den Transportwagen und montierte auch den Draht in Bristol. Es ist mir jetzt eingefallen. Glauben Sie nicht, daß er auch für Bill Davidsons Tod verantwortlich ist?«

«Doch. Wo sind Sie jetzt?«fragte Lodge.

«In einer Telefonzelle«, sagte ich.

«Gut, dann gehen Sie jetzt zum Taxi zurück und warten Sie dort, während ich mit der Polizei in Brighton telefoniere. Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie nicht selber in das Revier gegangen sind und alles erklärt haben.«

«Ich dachte, das Ganze hätte mehr Gewicht, wenn es von Ihnen kommt. Und außerdem. «Ich brach ab. Gerade noch zur rechten Zeit hatte ich begriffen, daß ich Lodge nicht sagen durfte, was ich vorhatte.»Sagen Sie den Beamten, daß ich nicht zum Taxi zurückkomme. Ich habe noch ein paar Anrufe zu machen. äh., ich muß Scilla meine Verspätung erklären und so. Aber Sie beeilen sich doch, nicht wahr? Mr. Claude Thiveridge wird nicht ewig reden, vor allem, wenn es dunkel wird.«

«Ich rufe sofort an«, versprach Lodge und legte auf. Ich trat auf die Straße.

Ich überlegte ein paar Augenblicke und machte mich dann auf den Weg. Ich rechnete mir aus, wieviel Zeit ich hatte, bevor Lodge die Polizei von Brighton zum Büro der Marconicars schickte. Er mußte anrufen und ausführlich berichten, dann hatten sie das Taxi zu holen, die Gespräche im Funkgerät zu belauschen und sie mitzustenografieren, damit dem Gericht Beweismaterial vorgelegt werden konnte. Sofort danach würden sie sich auf den Weg machen, um den Besitzer der Stimme festzunehmen. Zehn Minuten insgesamt, wenn sie sich beeilten, im besten Fall eine Viertelstunde.

Als das Bürohaus auftauchte, schlich ich im Schatten der Gebäude weiter, damit man mich nicht frühzeitig entdeckte. Die Straße war beinahe verlassen, und das >Old Oake-Cafe< gegenüber hatte bereits geschlossen.

Ein kleiner, schwarzer Wagen parkte am Randstein. Ich sah ihn zuerst nur flüchtig an, dann erkannte ich ihn wieder. Ich blieb stehen. Mit Vorbedacht hatte ich Lodge nicht erzählt, welches Gesicht ich dem Mann mit der Flüsterstimme gab, obwohl es meine Pflicht gewesen wäre. Der Wagen gab mir die Chance, mein Gewissen zu beruhigen. Ich stemmte die Motorhaube hoch, nahm einen Deckel ab, entfernte den Verteilerfinger und steckte ihn in die Tasche. Was immer jetzt auch geschehen mochte, eine schnelle Flucht gab es für Mr. Thiveridge nicht mehr.

Ich betrat das Haus und ließ die Tür hinter mir offen. Es war totenstill. Leise schlich ich den Korridor entlang und legte mein Ohr an die Tür zu Fielders Zimmer. Ich hörte nichts. Ich öffnete leise die Tür und warf einen Blick hinein. Leer. Dann versuchte ich es mit der Tür zu meiner Linken, die zu dem Hinterzimmer führte, wo Marigold tagsüber vor ihrem Mikrophon saß.

Durch die massive Tür drang kein Laut, aber als ich sie einen Spalt öffnete, hörte ich ein schwaches Summen. Niemand befand sich in diesem Büro. Ich trat ein.

Das Summen stammte von der Funkanlage. Ein kleines, rotglühendes Lämpchen zeigte an, daß die Anlage in Betrieb war. Das Mikrophon lag auf dem Tisch.

Einen Augenblick lang dachte ich, der Vogel sei in der Zwischenzeit ausgeflogen, aber dann erinnerte ich mich an den Wagen vor dem Haus. Ich bemerkte, daß ein schmales Kabel vom Funkgerät zur Wand lief und oben in der Decke verschwand.

Schnell huschte ich die Treppe hinauf und horchte oben an der Tür zum Büro der Firma L. C. Perth.

Da die Türen hier alle sehr stabil gebaut waren, hörte ich nur ein zischendes Geräusch, aber das Flüstern war mir inzwischen so vertraut, daß auch die Holzbarriere es nicht zu entstellen vermochte.

Er war da.

Die Haare an meinem Hinterkopf begannen zu jucken.

Seit ich mit Lodge gesprochen hatte, mußten sieben oder acht Minuten vergangen sein. Da der Polizei von Brighton Zeit bleiben mußte, das Taxi zu finden und die Funkgespräche abzuhören, durfte ich nicht zu früh unterbrechen. Aber ich gedachte auch nicht zu warten, bis die Polizei erschien. Ich zählte ganz langsam bis hundert, und das waren die längsten drei Minuten meines Lebens. Dann drückte ich die Klinke nach unten und öffnete langsam die Tür. Sie knarrte nicht. Ich konnte das nicht erleuchtete Zimmer überblicken.

Er saß an einem Schreibtisch, mit dem Rücken zu mir, und schien auf die Straße hinauszustarren. Die Neonschrift blinkte draußen, in Abständen von Sekunden das Zimmer mit einem rötlichen Schein erfüllend. Eine Reihe schwarzer Telefone, in militärischer Ordnung auf einem langen Tisch aufgebaut, warf seltsame Schatten an die Wand.

In der Nähe wirkte die flüsternde Stimme nicht mehr so unheimlich, wenn sie sich jetzt auch beinahe bis zur Raserei steigerte.

Die offene Tür schien keinen Luftzug verursacht zu haben, denn der Mann am Schreibtisch sprach weiter ins Mikrophon, ohne zu bemerken, daß ich hinter ihm stand.

«Bringt ihn um«, sagte er.»Bringt ihn um. Er muß irgendwo im Wald sein. Hetzt ihn. Leuchtet mit den Scheinwerfern in den Wald hinein. Ihr müßt das Netz enger ziehen. Durchkämmt den ganzen Wald. Fletcher, organisieren Sie das. Ich brauche York tot, und zwar schnell. Schießt ihn nieder. Erschlagt ihn. «Der Mann schwieg und atmete keuchend. Seine Hand streckte sich nach einem Glas Wasser aus. Er trank.

Fletchers Stimme klang blechern aus dem Lautsprecher:»Wir haben nichts mehr von ihm gesehen, seit er im Wald verschwand. Es kann sein, daß er uns überlistet hat.«

Der Mann am Schreibtisch tobte.»Wenn er entkommt, seid ihr geliefert. Er muß sterben. Ihr könnt mit ihm tun, was ihr wollt. Nehmt die Fahrradketten und die Schlagringe. Wenn er am Leben bleibt, sind wir am Ende, vergeßt das nicht. «Er begann zu kreischen:»Macht ihn fertig., schlagt ihn in Stücke.«

Er wütete wie ein Berserker. Es war klar, daß er nicht mehr alle fünf Sinne beisammen hatte.

Es reichte mir. Ich riß die Tür auf und knipste das Licht an. Das Zimmer war plötzlich strahlend hell erleuchtet.

Der Mann am Schreibtisch fuhr herum und starrte mich an.

«Guten Abend, Onkel George«, sagte ich leise.

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