Scilla schlief auf dem Sofa, eine Decke über den Beinen, ein halbgeleertes Glas auf dem niederen Tisch neben sich. Ich nahm das Glas und roch daran. Kognak.
Sie öffnete die Augen.»Alan! Ich bin ja so froh, daß du wieder da bist. Wie spät ist es?«
«Halb zehn.«
«Du hast sicher Hunger«, meinte sie und schlug die Decke zurück.»Warum hast du mich denn nicht geweckt? Das Essen ist schon seit ein paar Stunden fertig.«
«Ich bin eben erst gekommen, und Joan steht schon am Herd, also brauchst du dich gar nicht anzustrengen.«
Wir setzten uns zu Tisch. Ich nahm meinen üblichen Platz ein. Bills Stuhl, Scilla gegenüber, war leer. Ich nahm mir vor, ihn bei nächster Gelegenheit an die Wand zu rücken.
Als wir bei den Steaks angelangt waren, sagte Scilla:»Zwei Polizisten waren heute hier.«
«Tatsächlich? Wegen der gerichtlichen Untersuchung morgen?«
«Nein, es ging um Bill. «Sie schob ihren Teller weg.»Sie wollten wissen, ob er in Schwierigkeiten gewesen wäre. Über eine halbe Stunde lang stellten sie mir Fragen. Einer meinte, wenn ich meinen Mann sehr gern gehabt und mich gut mit ihm vertragen hätte, müßte ich doch wissen, was in seinem Leben nicht gestimmt habe. Sie waren sehr unfreundlich.«
«Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte ich.»Sie wollten sicher wissen, in welchem Verhältnis wir zueinander stehen und warum ich immer noch hier im Hause wohne?«
Überrascht und erleichtert sah sie auf.»Ja, das stimmt. Ich wußte nicht, wie ich es dir sagen soll. Es ist für mich so selbstverständlich, daß du hier bist, aber irgendwie konnte ich es ihnen nicht begreiflich machen.«
«Ich ziehe morgen aus, Scilla«, sagte ich.»Ich möchte nicht, daß noch mehr getuschelt wird. Wenn die Polizei auf den Gedanken kommt, daß du Bill mit mir betrogen haben könntest, gilt dasselbe für alle Nachbarn und die ganze Gegend. Ich bin sehr gedankenlos gewesen, es tut mir leid.«
«Um meinetwillen wirst du morgen nicht ausziehen, Alan«, meinte Scilla resolut.»Ich brauche dich hier. Wenn ich mich mit dir nicht unterhalten kann, vor allem abends, sitze ich nur die ganze Zeit herum und heule. Den Tag über geht es ja, weil die Kinder da sind und im Haus viel zu tun ist. Aber die Abende. «Ihre Augen begannen zu schwimmen.»Es ist mir egal, was die Leute sagen«, flüsterte sie.»Ich brauche dich. Bitte geh nicht fort.«
«Ich bleibe«, sagte ich.»Mach dir keine Sorgen. Ich bleibe, solange es dir recht ist. Aber du mußt mir versprechen, daß du mir sofort Bescheid sagst, wenn du mich nicht mehr hier haben willst.«
Sie trocknete sich die Augen und lächelte.»Du meinst, sobald ich mir Sorgen um meinen Ruf mache? Ich verspreche es dir.«
Ich hatte einen schweren Tag hinter mir und war rechtschaffen müde. Wir gingen bald zu Bett; Scilla versprach, ihre Schlaftabletten zu nehmen.
Aber um zwei Uhr früh öffnete sie die Tür zu meinem Zimmer. Ich war sofort wach. Sie kam herüber, knipste meine Nachttischlampe an und setzte sich zu mir aufs Bett.
Sie sah so jung und schutzlos aus. Sie trug ein blaßblaues, knielanges Chiffonnachthemd, das der Phantasie nur noch wenig Spielraum ließ.
Ich stützte mich auf den Ellbogen und fuhr mit den Fingern durchs Haar.
«Hast du die Tabletten genommen?«Aber diese Frage konnte ich mir selbst beantworten. Sie war halb betäubt, und bei ruhiger Überlegung wäre sie wohl kaum halb bekleidet in mein Zimmer gekommen.
«Ja, ich habe sie genommen. Ich bin ein bißchen betäubt, aber immer noch wach. «Ihre Stimme klang lallend.»Magst du dich ein bißchen mit mir unterhalten? Vielleicht kann ich dann eher schlafen. Wenn ich allein bin, liege ich nur da und denke über Bill nach. Erzähl mir lieber noch etwas von Plumpton. Du hast gesagt, du hättest noch ein Pferd geritten. Erzähl mir davon, bitte.«
Ich setzte mich also auf, legte ihr meine Decke um die Schulter und erzählte ihr von Kates Geburtstagsgeschenk und von Onkel George. Nach einer Weile bemerkte ich, daß sie mir gar nicht zuhörte. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht.
«Du hältst mich wohl für dumm, weil ich dauernd heule«, meinte sie,»aber ich kann einfach nicht anders. «Sie sank erschöpft um, packte meine Hand und schloß die Augen. Ich küßte sie auf die Stirn. Ihr Körper wurde von Schluchzen geschüttelt. Ich legte mich zurück und schob den Arm unter ihren Kopf. Sie klammerte sich an mich und begann hilflos zu schluchzen.
Und dann wirkten langsam die Schlaftabletten. Sie atmete gleichmäßig. Es war ziemlich kalt im Zimmer, und sie lag halb auf meiner Decke. Ich zog sie unter ihr hervor und deckte uns beide zu. Dann knipste ich das Licht aus und hielt Scilla im Arm, bis sie eingeschlafen war. Ich lächelte, als ich daran dachte, was Inspektor Lodge für ein Gesicht machen würde, wenn er uns jetzt sehen könnte.
Gegen Morgen stand ich auf, hob sie hoch und trug sie in ihr Bett zurück. Wenn sie bei mir aufgewacht wäre, hätte sie sich nur geschämt.
Ein paar Stunden später, nach einem hastigen Frühstück, fuhr ich sie nach Maidenhead zur gerichtlichen Untersuchung. Sie schlief fast den ganzen Weg und sprach nicht von der vorangegangenen Nacht. Wahrscheinlich erinnerte sie sich gar nicht daran.
Lodge mußte auf uns gewartet haben, denn er empfing uns schon am Eingang. Ich stellte ihm Scilla vor, und seine Brauen stiegen ein wenig in die Höhe, als er sah, wie hübsch sie war.
«Ich möchte mich für die wenig freundlichen Vermutungen entschuldigen«, begann er überraschend,»die über Sie und Mr. York angestellt worden sind. «Er wandte sich an mich.»Wir sind jetzt davon überzeugt, daß Sie an Major Davidsons Tod unbeteiligt waren.«
«Sehr freundlich«, meinte ich leichthin, aber ich war doch froh, das zu hören.
«Sie können zum Untersuchungsrichter über den Draht natürlich sagen, was Sie wollen«, fuhr er fort,»aber ich möchte Sie gleich darauf hinweisen, daß er nicht sehr begeistert sein wird. Alles Ausgefallene liegt ihm nicht, und es fehlt Ihnen an Beweisen. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, wenn Sie mit seinem Urteil nicht übereinstimmen — es wird garantiert >Tod durch Unfall< herauskommen —, weil gerichtliche Untersuchungen immer wieder aufgenommen werden können, falls es sich als notwendig erweisen sollte.«
Ich ließ mich daher nicht aus der Ruhe bringen, als der Untersuchungsrichter, ein etwa fünfzigjähriger Mann mit gewaltigem Schnurrbart, meinem Bericht über Bills Sturz aufmerksam lauschte, die Geschichte mit dem Draht jedoch sehr skeptisch aufnahm. Lodge sagte aus, daß er mich zur Rennbahn begleitet habe, um nach dem erwähnten Draht zu suchen, aber es sei nichts gefunden worden.
Auch der Jockey, der sich bei Bills Sturz unmittelbar hinter mir befand, wurde aufgerufen. Er war ein Amateur aus
Yorkshire und hatte einen weiten Weg zurücklegen müssen. Mit einem entschuldigenden Seitenblick auf mich erklärte er, am Hindernis nichts Verdächtiges bemerkt zu haben. Seiner Ansicht nach sei an dem Sturz — abgesehen von dem tragischen Schicksal Bills — nichts Außergewöhnliches gewesen. Gewiß, man könne ihn unerwartet nennen, aber nicht geheimnisvoll. Er strahlte gesunden Menschenverstand aus.
Habe Mr. York am Tag des Rennens irgendeiner Person von dem Draht erzählt? erkundigte sich der Untersuchungsrichter zweifelnd. Mr. York hatte nicht.
Der Untersuchungsrichter stellte zusammenfassend fest, daß Major Davidson an Verletzungen gestorben sei, die er beim Sturz seines Pferdes bei einem Hindernisrennen erlitten habe. Er selbst, meinte der Richter, sei nicht davon überzeugt, daß es sich bei dem Sturz um mehr als einen Unfall gehandelt habe.
In den Zeitungen wurden nur kurze Notizen über die Untersuchung gebracht. Der Draht fand überhaupt keine Erwähnung. Ich machte mir weiter keine Gedanken darüber, aber Scilla war erleichtert. Wie sie sagte, könne sie Fragen von neugierigen Bekannten nicht ertragen, geschweige denn von Reportern.
Bills Begräbnis fand am Freitag früh in aller Stille statt. Nur seine Familie und enge Freunde nahmen teil. Als ich half, den Sarg hinauszutragen, und später, als ich Abschied von Bill nahm, wußte ich, daß ich nicht nachgeben würde, bis sein Tod gerächt wäre. Ich wußte nicht, wie ich das anstellen würde, und ich spürte auch keine besondere Eile. Aber früher oder später werde ich es schaffen, versprach ich ihm.
Scillas Schwester war zur Beerdigung gekommen und wollte zwei, drei Tage bei ihr bleiben. Ich verzichtete wegen eines Starts am folgenden Tag aufs Mittagessen und fuhr nach London, um im Büro liegengebliebene Arbeit zu erledigen.
Da ich mich auf die guten Leute verlassen konnte, brauchte ich dort nicht öfter als dreimal wöchentlich zu erscheinen. Am Sonntag schrieb ich dann immer meinem Vater. Ich hatte das Gefühl, daß er sich die Berichte über meine Rennerlebnisse schenkte, um die geschäftlichen Nachrichten aufmerksamer studieren zu können.
Diese sonntäglichen Berichte gehören seit zehn Jahren zu meinem Leben. Die Schularbeiten sind nicht so wichtig, pflegte mein Vater zu sagen, es käme nur darauf an, daß ich das große Unternehmen, dem ich eines Tages vorzustehen hatte, in allen Einzelheiten kennenlernte.
Am Freitagabend wartete ich ungeduldig auf Kate. Ohne den dicken Mantel und die festen Stiefel, die für Plumpton nötig gewesen waren, wirkte sie noch bezaubernder. Sie trug ein rotes Kleid, und ihr dunkles Haar fiel glatt auf die Schultern. Der Abend war ein schönes Erlebnis; er verlief, für mich jedenfalls, völlig befriedigend. Wir gingen zum Essen, wir tanzten, wir unterhielten uns.
Während wir zu einer verträumten Melodie über das Tanzparkett schwebten, brachte Kate das einzige ernste Thema des Abends ins Gespräch.
«Ich habe in der Morgenzeitung etwas über die gerichtliche Untersuchung anläßlich des Todes Ihres Freundes gesehen«, sagte sie.
Ich atmete den Duft ihres Haares ein.»Tod durch Unfall«, murmelte ich.»Ich glaube es nicht.«
«Wie?«Kate sah auf.
«Ich werde es Ihnen einmal erzählen, wenn ich über alles Bescheid weiß«, sagte ich.
«Erzählen Sie es mir lieber gleich«, meinte Kate interessiert.»Wenn es kein Unfall war, was dann?«
Ich zögerte. Es schien mir nicht recht, den Zauber dieses Abends durch krasse Realität zu stören.
«Na los!«drängte sie lächelnd.»Sie können jetzt nicht einfach aufhören. Die Geschichte ist viel zu spannend.«
Also erzählte ich ihr von dem Draht.
Sie war so entsetzt, daß sie plötzlich stehenblieb. Wir befanden uns mitten auf der Tanzfläche und versperrten den anderen Paaren den Weg.»Du lieber Himmel«, sagte sie.»Wie., wie gemein!«
«Ich kann es nicht ertragen, daß so ein Mensch unbestraft davonkommt.«
«Ich auch nicht.«
«Aber soweit es an mir liegt, ist die Sache noch nicht zu Ende, das verspreche ich Ihnen.«
«Gut«, sagte sie ernsthaft. Ich nahm sie wieder in die Arme. Von Bill sprachen wir nicht mehr. Über lange Stunden hinweg schien es mir an diesem Abend, als stünde ich nicht mehr ganz fest auf dem Boden. Kate bemerkte nichts. Sie war liebenswürdig, lustig und völlig unsentimental.
Als ich ihr schließlich in den von einem Chauffeur gesteuerten Wagen half, den Onkel George von Sussex geschickt hatte, spürte ich, wie schmerzhaft Liebe sein kann.
Ich wußte schon, daß ich Kate heiraten wollte. Der Gedanke, daß sie mich vielleicht nicht nehmen würde, war sehr bitter.
Am nächsten Tag hatte ich bei einem Rennen im Kempton Park anzutreten. Vor dem Wiegeraum traf ich Dane. Wir unterhielten uns übers Geläuf, übers Wetter und die Pferde. Dann sagte Dane:»Du hast Kate gestern abend ausgeführt?«
«Ja.«
«Wo seid ihr gewesen?«
«Im River Club«, sagte ich.»Wo hast du sie denn hingeführt?«»Sie hat dir nichts erzählt?«fragte Dane.
«Sie sagte, ich sollte dich fragen.«
«River Club«, meinte Dane.
«Verdammt«, sagte ich. Aber ich mußte lachen.
«Na bitte«, meinte Dane.
«Hat sie dich zu Onkel George eingeladen?«fragte ich argwöhnisch.
«Ich fahre heute nach dem Rennen hin«, erwiderte Dane lächelnd.»Und du?«
«Am nächsten Samstag«, erklärte ich düster.»Weißt du, Dane, sie führt uns ganz schön an der Nase herum.«
«Ich kann’s aushalten«, sagte Dane. Er klopfte mir auf die Schulter.»Mach nicht so ein Gesicht. Vielleicht kommt es gar nicht so weit.«
«Das befürchte ich ja«, seufzte ich. Er lachte und verschwand im Wiegeraum.
Der Nachmittag war uninteressant. Ich ritt meine große, schwarze Stute, und Dane schlug mich um zwei Längen. Nachher gingen wir miteinander zum Parkplatz.
«Wie hält sich eigentlich Mrs. Davidson?«fragte Dane.
«Recht gut, wenn man in Betracht zieht, daß für sie eine Welt zusammengebrochen ist.«
«Da hat sich einmal bewahrheitet, was die Ehefrauen von Jockeys immer befürchten.«
«Ja.«
«Man muß es sich wirklich überlegen, bevor man von einem Mädchen verlangt, ständig diese Angst auf sich zu nehmen«, sagte Dane nachdenklich.
«Kate?«fragte ich. Er sah mich scharf an und grinste.
«Ich denke schon. Macht es dir etwas aus?«
«Ja«, erwiderte ich.»Sehr viel sogar.«
Wir kamen zu seinem Wagen, und er legte Hut und Rennbrille neben sich auf den Sitz. Sein Koffer stand auf der hinteren Sitzbank.
«Bis dann«, sagte er.»Ich halte dich auf dem laufenden.«
Ich wartete, bis er abgefahren war, und winkte ihm nach. Es kam selten vor, daß ich jemand beneidete, aber in diesem Augenblick wäre ich sehr gerne an Danes Stelle gewesen.
Ich setzte mich in den Lotus und trat den Heimweg an.
Es war auf der Straße durch den Forst von Maidenhead, als ich den Pferdetransportwagen sah. Er parkte an einer Ausweichstelle; auf dem Boden waren Werkzeuge verstreut, die Kühlerhaube war geöffnet. Davor führte ein Mann ein Pferd auf und ab.
Der Fahrer stand am Wagen und kratzte sich am Kopf. Als er mich kommen sah, winkte er heftig. Ich hielt neben ihm. Er trat ans Fenster, ein Mann mittleren Alters, unauffällig. Er trug eine Lederjacke.
«Verstehen Sie etwas von Motoren, Sir?«fragte er.
«Nicht soviel wie Sie, denke ich«, meinte ich lächelnd. Seine Hände waren ölverschmiert. Wenn der Fahrer eines Pferdetransportwagens den Fehler nicht zu finden vermochte, würde es anderen Leuten noch schwerer fallen.»Ich kann Sie aber nach Maidenhead fahren, wenn Sie wollen. Dort finden Sie sicher einen Mechaniker.«
«Das ist sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte er höflich.»Herzlichen Dank. Aber — äh — da ist eine kleine Schwierigkeit. «Er warf einen Blick in meinen Wagen und sah das Fernglas auf dem Sitz neben mir. Sein Gesicht hellte sich auf.»Sie verstehen nicht zufällig etwas von Pferden, Sir?«
«Doch, ein bißchen«, entgegnete ich.
«Sehen Sie, es ist so, Sir. Ich habe da zwei Pferde, die ich zum Londoner Hafen bringen muß. Sie werden exportiert. Bei dem da ist ja alles in Ordnung«, er deutete auf das Pferd, dem sein Begleiter Bewegung verschaffte.»Aber mit dem anderen stimmt etwas nicht. Es schwitzt schon seit einer Stunde sehr stark und versucht dauernd, sich in den Bauch zu beißen. Es will sich immer hinlegen. Der Bursche ist bei dem Pferd im Wagen, und er macht sich wirklich Sorgen, das kann ich Ihnen sagen.«
«Es könnte sich um eine Kolik handeln«, meinte ich.»In diesem Fall müßte man es auch herumführen. Nur so kann man ihm Linderung verschaffen.«
Der Fahrer machte ein besorgtes Gesicht.»Es ist ja wirklich viel verlangt, Sir«, meinte er zögernd,»aber würden Sie sich das Pferd einmal ansehen? Ich verstehe etwas von Motoren, aber nicht von Pferden. Und diese Stallburschen sind ja auch nicht allzu hell im Kopf. Ich möchte vom Chef keinen Anpfiff kriegen.«
«Na schön«, meinte ich.»Ich sehe es mir mal an. Aber ich bin kein Tierarzt, wissen Sie.«
Er lächelte erleichtert.»Vielen Dank, Sir. Jedenfalls werden Sie wissen, ob wir einen Tierarzt brauchen oder nicht.«
Ich parkte meinen Wagen hinter dem Transportfahrzeug. Die rückwärtige Tür des Transportwagens öffnete sich, und jemand streckte die Hand heraus, um mir hinaufzuhelfen. Vermutlich der Stallbursche. Er packte mich beim Handgelenk. Er ließ nicht los.
Im Innern erwarteten mich drei Männer. Und kein Pferd, krank oder gesund. Zehn Sekunden später stand ich mit dem Rücken zur Schmalseite einer der Trennwände.
Der Transportwagen war in drei Boxen aufgeteilt, eine davon zog sich über die ganze Breite des Aufbaus. Dort hielten sich gewöhnlich die Stallburschen auf.
Zwei von den Männern hielten meine Arme fest. Sie standen etwas hinter mir, zu beiden Seiten der Trennwand und hatten mich fest im Griff. Der Pfosten war mit einem Mattenbelag gepolstert, der Verletzungen der Pferde verhindern soll. Das Stroh kitzelte mich am Hals.
Der Fahrer stieg hinten ein und schloß die Tür. In seinem immer noch unterwürfigen Benehmen schwang Triumph mit. Er hatte ein Anrecht darauf. Seine Falle war gut konstruiert.
«Tut mir sehr leid, Sir«, sagte er höflich.
«Wenn Sie Geld wollen«, meinte ich,»haben Sie Pech gehabt. Ich wette nie große Beträge und hatte heute auch keinen guten Tag. Für bescheidene acht Pfund haben Sie sich mächtig angestrengt.«
«Wir wollen Ihr Geld nicht, Sir«, sagte er,»obwohl wir’s kassieren werden, nachdem Sie es uns so liebenswürdig angeboten haben. «Mit freundlichem Lächeln nahm er mir die Brieftasche aus der Jacke.
Ich trat ihm hart gegen das Schienbein, war aber wegen der Trennwand behindert. Die beiden Männer rissen mir die Arme nach hinten.
«Das würde ich an Ihrer Stelle lieber nicht tun, Sir«, erklärte der freundliche Fahrer und rieb sich das Bein. Er öffnete meine Brieftasche, nahm das Geld heraus, faltete es säuberlich zusammen und verstaute es in seiner Lederjacke. Er studierte den übrigen Inhalt der Brieftasche, trat dann auf mich zu und steckte sie wieder in die Jacke zurück. Er lächelte schwach.
Ich hielt mich still.
«Das ist schon besser«, meinte er anerkennend.
«Was soll denn das eigentlich?«fragte ich. Ich dachte vage, daß sie vielleicht vorhatten, von meinem Vater Lösegeld zu verlangen. So in der Art >Überweisen Sie zehntausend Pfund, sonst wird Ihnen Ihr Sohn stückweise zurückgeschickte Das hätte zu bedeuten, daß sie genau wußten, wer ich war.
«Das muß Ihnen doch klar sein, Sir«, meinte der Fahrer.
«Ich habe keine Ahnung.«
«Man hat mich beauftragt, Ihnen etwas auszurichten, Mr. York. «Er wußte also, wer ich war. Er hatte es nicht anhand meiner Brieftasche festgestellt, die nur Geld, Briefmarken und ein Scheckbuch enthielt.»Wie kommen Sie auf die Idee, daß ich York heiße?«versuchte ich zu bluffen. Es nützte nichts.
«Mr. Alan York, Sir, sollte am Samstag, dem 27. Februar, mit einem dunkelblauen Lotus Elite, polizeiliches Kennzeichen KAB 890 ungefähr um fünf Uhr fünfzehn diese Straße befahren. Ich muß mich bei Ihnen bedanken, Sir, daß Sie es mir so leicht gemacht haben. Einen Wagen wie den Ihren sieht man hier selten. Es wäre viel schwieriger gewesen, Sie anzuhalten, wenn Sie einen Ford oder Austin gehabt hätten.«
«Erledigen Sie schon Ihren Auftrag. Ich höre zu«, sagte ich.
«Taten sprechen lauter als Worte«, erklärte der Fahrer mild. Er kam näher und knöpfte meine Jacke auf. Ich bewegte mich nicht. Er nahm mir die Krawatte ab, knöpfte das Hemd auf. Wir sahen einander in die Augen. Ich hoffte nur, daß die meinen so ausdruckslos waren wie seine. Ich ließ meine Arme erschlaffen und fühlte, wie der Zugriff der beiden Männer etwas nachließ.
Der Fahrer trat zurück und sah auf den vierten Mann, der bisher schweigend an einer Trennwand gelehnt hatte.»Er gehört dir, Sonny, erklär ihm, worum es geht.«
Sonny war jung. Er hatte lange Koteletten. Aber ich achtete nicht besonders auf sein Gesicht. Ich starrte auf seine Hände.
Er hatte ein Messer. Der Griff lag in seiner Handfläche, und seine Finger hatten sich sanft darum geschlossen. Nur ein Professional hält ein Messer in dieser Art.
Sonny ließ nichts von der gespielten Unterwürfigkeit des Fahrers spüren. Er hatte Spaß an seiner Arbeit. Er stand breitbeinig vor mir und setzte die Spitze des Messers auf mein Brustbein. Ich spürte sie kaum, so vorsichtig ging er zu Werk.
Verdammt noch mal, dachte ich. Mein Vater würde nicht begeistert sein, wenn ich in den Erpresserbriefen noch um Hilfe bitten mußte. Darüber würde ich nie hinwegkommen. Für mich stand fest, daß man nur vorhatte, mir Angst einzujagen. Ich sank ein wenig in mich zusammen, als wiche ich vor dem Messer zurück. Sonny grinste verächtlich.
Ich stieß mich von dem Pfosten ab, schnellte nach vorn, mein Knie zuckte hoch, traf Sonny in der Leistengegend. Ich hatte mich losgerissen.
Ich sprang zur Tür und stieß sie auf. Im engen Transportwagen hatte ich keine Chance, aber wenn ich das Freie zu erreichen vermochte, würde ich vielleicht mit ihnen fertig werden. Von meinem Vetter, der in Kenia lebte, hatte ich ein paar üble Tricks gelernt.
Aber ich schaffte es nicht.
Ich versuchte, mich mit der Tür hinauszuschwingen, aber sie war anscheinend verrostet. Der Fahrer packte mich an den Knöcheln. Ich schüttelte ihn ab, aber die entscheidende Sekunde war vertan. Die beiden Männer, die mich festgehalten hatten, erwischten mich am Anzug. Durch die offene Tür bemerkte ich den Mann, der das Pferd auf und ab geführt hatte. Er sah neugierig herüber. Ich hatte ihn völlig vergessen.
Wütend schlug ich mit Füßen, Fäusten und Ellbogen um mich, aber sie waren mir überlegen. Ich landete wie vorher an dem gepolsterten Pfosten. Man drehte mir die Arme nach hinten. Diesmal machten sich die beiden Männer mehr Mühe. Sie knallten mich gegen den Pfosten und setzten ihre ganze Kraft ein. Ich spürte den Schmerz in beiden Schultern, er zuckte durch meinen ganzen Körper. Ich biß die Zähne zusammen.
Sonny kauerte in der Ecke, die Arme auf den Leib gepreßt. Er sah befriedigt zu.
«Das hat dem Dreckskerl weh getan, Peaky«, meinte er.»Macht es noch mal.«
Peaky und sein Freund gehorchten.
Sonny lachte.
Noch ein bißchen mehr Druck, und ich mußte mit ein paar gerissenen Sehnen und einer ausgerenkten Schulter rechnen. Aber ich konnte nichts dagegen unternehmen.
Der Fahrer schloß die Tür und hob das Messer vom Boden auf. Er sah nicht mehr ganz so friedlich aus wie zuvor. Er blutete aus der Nase. Aber es war erstaunlich, wie sehr er sich in der Hand hatte.
«Hör auf. Hör auf, Peaky«, befahl er.»Der Chef hat gesagt, daß wir ihm nicht weh tun dürfen. Darauf legt er besonderen Wert. Der Chef soll doch nicht von dir hören, daß du nicht zuverlässig warst, oder?«Seine Stimme klang drohend.
Der Druck auf meine Arme ließ etwas nach. Sonny machte ein mürrisches Gesicht.
«Wissen Sie, Mr. York«, sagte der Fahrer mißbilligend und wischte sich die Nase mit einem blauen Taschentuch,»das war ganz unnötig. Wir wollen Ihnen nur etwas ausrichten.«
«Ich hör nicht gerne zu, wenn man mich mit einem Messer bedroht«, erwiderte ich.
Der Fahrer seufzte.»Ja, Sir, das war vielleicht ein Fehler. Aber Sie sollten nur sehen, daß die Warnung ernstgemeint ist, verstehen Sie? Wenn Sie sich nicht drum bekümmern, sieht es sehr schlecht für Sie aus. Ich sage es Ihnen ganz ehrlich.«
«Was für eine Warnung?«fragte ich.
«Sie sollen aufhören, Fragen über Major Davidson zu stellen«, meinte er.
«Was?«Ich starrte ihn entgeistert an.»Ich habe keine Fragen über Major Davidson gestellt«, erklärte ich.
«Da bin ich nicht zuständig«, sagte der Fahrer,»aber das habe ich Ihnen auszurichten, und ich würde Ihnen raten, sich das zu Herzen zu nehmen, Sir. Der Chef hat es nicht gern, wenn sich andere Leute in seine Angelegenheiten mischen.«
«Wer ist denn der Chef?«
«Sie wissen doch ganz genau, daß man so etwas nicht fragen darf, Sir. Sonny, sag Bert, daß wir fertig sind. Er soll das Pferd hereinbringen.«
Sonny raffte sich stöhnend auf und ging zur Tür, die Hand immer noch auf die Leistengegend gepreßt. Er brüllte etwas zum Fenster hinaus.
«Bleiben Sie ruhig stehen, Mr. York, dann geschieht Ihnen nichts«, sagte der Fahrer unverändert höflich. Ich folgte seinem Rat und rührte mich nicht. Er öffnete die Tür und kletterte hinaus. Ein paar Minuten vergingen, während Sonny und ich giftige Blicke austauschten. Niemand sagte etwas.
Dann wurde eine Rampe hinabgelassen. Der fünfte Mann, Bert, führte das Pferd ins Innere und machte es an der Wand fest. Der Fahrer stemmte die Rampe wieder hoch und hakte sie ein.
Ich drehte den Kopf so weit nach hinten wie ich konnte und sah mir Peaky an. Er entsprach meinen Erwartungen, aber ich kam der Lösung des Rätsels dadurch um nichts näher.
Der Fahrer stieg ins Führerhaus, schloß die Tür und ließ den Motor an.
Bert sagte:»Bringt ihn zur Tür. «Ich ließ mir das nicht zweimal sagen. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Bert öffnete die Tür. Peaky und sein Freund ließen mich los, und Bert gab mir einen Stoß. Ich stürzte hinaus, während der Transportwagen seine Geschwindigkeit beschleunigte und davonfuhr. Es war ganz gut, daß ich einige Erfahrung im Sturz von Pferden hatte. Instinktiv landete ich auf der Schulter und rollte am Boden dahin.
Ich setzte mich auf und sah dem davonbrausenden Transportfahrzeug nach. Das Nummernschild war mit einer Staubschicht überzogen und kaum leserlich, aber die ersten drei Buchstaben des Kennzeichens vermochte ich zu entziffern. Sie lauteten: >apx<.
Der Lotus stand noch in der Ausweichstelle. Ich raffte mich auf, säuberte mich, so gut es ging, und stieg ein. Ich hatte vor, dem Transportwagen zu folgen, um festzustellen, wohin er unterwegs war. Aber der Fahrer hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der Motor sprang nicht an. Ich öffnete die Kühlerhaube. Man hatte die Zündkerzen herausgeschraubt. Sie lagen säuberlich nebeneinander auf der Batterie. Ich brauchte zehn Minuten zum Einsetzen, weil meine Hände zitterten.
Damit war jede Chance dahin, den Transportwagen einzuholen. Ich setzte mich in den Lotus und knöpfte mein Hemd zu. Die Krawatte war verschwunden.
Ich nahm das Mitgliedsbuch meines Automobilclubs aus der Türtasche und schlug die Buchstaben des Kennzeichens nach. Der Transportwagen war in West-Sussex zugelassen worden. Wenn das Nummernschild echt war, ließ sich der gegenwärtige Besitzer vielleicht feststellen. Eine Viertelstunde lang saß ich da und dachte nach. Dann ließ ich den Motor an, wendete und fuhr nach Maidenhead zurück.
Die Stadt war hell erleuchtet, obgleich nahezu alle Geschäfte geschlossen waren. Die Tür zum Polizeirevier stand weit offen. Ich trat ein und fragte nach Inspektor Lodge.
«Er ist noch nicht hier«, erklärte der Wachtmeister und warf einen Blick auf die Uhr. Es war zehn nach sechs.»Er muß aber gleich kommen, wenn Sie warten wollen, Sir.«
«Er ist noch nicht da? Meinen Sie damit, daß er jetzt erst seinen Dienst antritt?«
«Ja, Sir. Er hat Nachtdienst. Samstags ist hier immer allerhand los«, grinste er.»Tanzlokale, Wirtschaften und Verkehrsunfälle.«
Ich lächelte, setzte mich auf die Bank und wartete. Fünf Minuten später betrat Lodge mit schnellen Schritten den Raum und entledigte sich seines Mantels.»Guten Abend, Small, was gibt’s Neues?«fragte er den Wachtmeister.
«Der Herr da möchte Sie sprechen, Sir«, sagte Small und deutete auf mich.»Er wartet erst seit ein paar Minuten.«
Lodge drehte sich um. Ich stand auf.»Guten Abend«, sagte ich.
«Guten Abend, Mr. York. «Lodge sah mich durchdringend an, zeigte aber keine Überraschung. Sein Blick fiel auf mein Hemd, und er hob die Brauen. Aber er sagte nur:»Was kann ich für Sie tun?«
«Sind Sie sehr beschäftigt?«fragte ich.»Wenn Sie Zeit haben, würde ich Ihnen gerne erzählen., wie ich meine Krawatte verloren habe. «Mitten im Satz brachte ich es plötzlich nicht mehr fertig, zu erklären, daß ich überfallen worden war. Small sah mich neugierig an; offensichtlich hielt er mich für nicht ganz normal.
Aber Lodge, der doch etwas tiefer sah, sagte:»Kommen Sie bitte in mein Büro, Mr. York. «Er ging voraus, hängte den Mantel an einen Kleiderhaken und entzündete die Gasheizung, obwohl sich auch dadurch das spartanisch eingerichtete Zimmer nicht gemütlich machen ließ.
Lodge setzte sich an den Schreibtisch, und ich nahm ihm gegenüber Platz. Er bot mir eine Zigarette an und gab mir Feuer. Ich überlegte mir, wo ich anfangen sollte.
«Sind Sie seit vorgestern in Major Davidsons Angelegenheit weitergekommen?«
«Nein, leider nicht. Wir behandeln die Sache auch nicht mehr vordringlich. Gestern wurde sie bei einer Besprechung durchdiskutiert, und wir erkundigten uns beim Leiter der Rennkommission, Sir Creswell Stampe. Angesichts des Urteils in der gerichtlichen Untersuchung hält man Ihre Aussage für das Ergebnis einer jugendlichen, etwas übertriebenen Einbildungskraft. Außer Ihnen hat niemand eine Drahtrolle gesehen. Die Rillen an den Pfosten des Hindernisses mögen durchaus von einem Draht stammen, aber es gibt keinen
Hinweis darauf, wann sie entstanden sind. Soviel ich weiß, ist es allgemein üblich, Drähte über Hecken zu ziehen, damit nicht irgendwelche unbefugten Reiter Sprünge versuchen und die Hecke beschädigen. «Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort:»Sir Creswell erklärte, die Mitglieder der Rennkommission, mit denen er telefonisch gesprochen habe, seien der Ansicht, daß Ihnen ein Fehler unterlaufen sei. Wenn Sie wirklich Draht gesehen haben, dann muß er ihrer Ansicht nach dem Wartepersonal gehört haben.«
«Hat man sich denn erkundigt?«fragte ich.
Lodge seufzte.»Der zuständige Mann sagte, er habe keinen Draht auf der Bahn liegenlassen, aber einer von seinen Leuten ist schon recht alt und unsicher, und er kann sich nicht mehr genau erinnern.«
«Und was glauben Sie persönlich?«fragte ich schließlich.
«Ich glaube, daß Sie den Draht gesehen haben«, erwiderte Lodge,»und daß Major Davidson von ihm zu Fall gebracht wurde. Es gibt eine Tatsache, die ich hier für besonders wichtig halte. Ich meine damit, daß der Hindernisaufseher, der sich Thomas Cook nannte, nicht den ihm für zwei Tage zustehenden Lohn abholte.
Meiner Erfahrung zufolge müssen schon ganz besondere Gründe vorliegen, wenn jemand das ihm zustehende Geld nicht in Empfang nimmt.«
Er lächelte ironisch.
«Ich könnte Ihnen noch einen Beweis dafür geben, daß Major Davidsons Sturz kein Unfall war«, sagte ich,»aber Sie müssen sich wieder auf mein Wort verlassen. Ich kann nichts belegen.«
«Und das wäre?«
«Jemand hat sich besondere Mühe gegeben, mir klarzumachen, daß ich keine unerwünschten Fragen stellen soll. «Ich erzählte ihm von meinem Erlebnis mit dem
Pferdetransportwagen und fügte hinzu:»Ist das auch überhitzte Phantasie?«
«Wann war denn das?«erkundigte sich Lodge.
«Vor etwa einer Stunde.«
«Und was haben Sie in der Zwischenzeit getan?«
«Nachgedacht«, sagte ich und drückte meine Zigarette im Aschenbecher aus.
«Oh«, machte Lodge.»Haben Sie sich eigentlich überlegt, wie unwahrscheinlich Ihre Geschichte klingt?«
«Dann lassen Sie’s doch«, meinte ich lächelnd.»Aber die größte Unwahrscheinlichkeit dürfte wohl sein, daß fünf Männer, ein Pferd und ein Transportwagen eingesetzt wurden, um eine Warnung zu übermitteln, die man viel leichter hätte brieflich aussprechen können.«
«Das deutet immerhin auf eine Organisation von beträchtlichem Ausmaß«, meinte Lodge mit einem Unterton von Ironie.
«Es sind mindestens zehn Mann«, sagte ich.»Ein paar davon liegen aber im Krankenhaus.«
Lodge richtete sich auf.»Was heißt das? Woher wissen Sie das?«
«Die fünf Männer, die mich heute aufgehalten haben, waren ausnahmslos Taxifahrer. Sie kommen entweder aus London oder aus Brighton, aber da kann ich mich nicht festlegen. Vor drei Tagen habe ich sie vor der Rennbahn in Plumpton gesehen, wo sie gegen eine rivalisierende Bande kämpften.«
«Was?«rief Lodge. Dann sagte er:»Ja, ich habe darüber einen Bericht in der Zeitung gelesen. Haben Sie diese Leute ganz sicher erkannt?«
«Ja«, erwiderte ich.»Sonny verließ sich auch in Plumpton auf sein Messer, aber er lag unter einem massiven Burschen und hatte keine Gelegenheit, es zu benützen. Aber sein Gesicht sah ich ganz deutlich. Peaky kann man überhaupt nicht verwechseln; eine niedrigere Stirn findet man wohl nicht alle Tage. Die anderen drei wurden in Plumpton derselben Gruppe zugeteilt. Ich wartete dort, um jemand mitzunehmen, und hatte nach dem Kampf sehr viel Zeit, mir die Taxi chauffeure anzusehen. Bert, der Mann mit dem Pferd, hatte noch heute ein blaues Auge, und der Kerl, der meinen rechten Arm gepackt hielt — seinen Namen kenne ich nicht —, war im Gesicht bepflastert. Aber warum liefen sie eigentlich alle frei herum? Ich dachte, man würde sie wegen Landfriedensbruchs zumindest für acht bis vierzehn Tage ins Gefängnis stecken.«
«Vielleicht hat man sie gegen Kaution freigelassen, oder sie kamen mit einer Geldstrafe davon. So ohne weiteres kann ich das nicht sagen«, meinte Lodge.»Warum hat man wohl, Ihrer Meinung nach, einen derartigen Aufwand getrieben, um Ihnen eine Lektion zu erteilen?«
«Es ist eigentlich recht schmeichelhaft, daß man fünf Mann geschickt hat, wenn man es sich richtig überlegt«, grinste ich.»Vielleicht ist das Taxigeschäft ziemlich flau, und die Kerle haben nichts anderes zu tun. Oder man wollte der Sache besonderen Nachdruck verleihen, wie mir der Fahrer erklärte.«
«Das bringt mich auf eine andere Unwahrscheinlichkeit«, entgegnete Lodge.»Wenn, wie Sie sagen, ein Messer auf Ihre Brust gerichtet war, warum haben Sie sich dann nach vorne geworfen? War das nicht zu riskant?«
«Ich hätte mich nicht darauf eingelassen, wenn die Spitze des Messers auf meine Kehle gedeutet hätte, aber Sonny richtete sie auf mein Brustbein. Man brauchte einen Hammer, um ein Messer dort hindurchzuschlagen. Ich rechnete mir aus, daß ich Sonny durch den Sprung nach vorne das Messer aus der Hand schlagen würde, und so kam es ja auch.«
«Haben Sie sich überhaupt nicht verletzt?«
«Es war nicht schlimm.«
«Lassen Sie einmal sehen«, sagte Lodge. Er stand auf und trat zu mir.
Ich knöpfte mein Hemd wieder auf. Zwischen dem zweiten und dritten Knopf klaffte in der Haut über dem Brustbein eine nicht tiefgehende Schnittwunde. Es hatte nicht einmal sehr stark geblutet.
«Also«, sagte er, nahm seinen Füllfederhalter und nagte am Griffende.»Welche Fragen haben Sie über Major Davidson gestellt und an wen?«
«Das ist eigentlich das Merkwürdigste an der ganzen Geschichte«, meinte ich.»Ich habe zu anderen Leuten kaum davon gesprochen. Und brauchbare Antworten bekam ich erst recht nicht.«
«Aber Sie müssen irgendwo einen wunden Punkt berührt haben«, sagte Lodge. Er nahm ein Blatt Papier aus einer Schublade.»Zählen Sie mir die Namen aller Personen auf, mit denen Sie über den Draht gesprochen haben.«
«Mit Ihnen«, gab ich sofort zurück.»Und mit Mrs. Davidson. Dazu kommen selbstverständlich alle Leute, die bei der gerichtlichen Untersuchung anwesend waren.«
«Aber mir ist aufgefallen, daß diese Untersuchung kaum Widerhall in den Zeitungen fand. Der Draht wurde jedenfalls in den Meldungen nicht erwähnt«, erklärte er.»Und bei der Untersuchung machten Sie nicht den Eindruck, als wären Sie unbedingt darauf aus, das Rätsel zu lösen. Sie nahmen das Urteil ganz ruhig auf, und es sah keineswegs so aus, als wären Sie damit nicht einverstanden.«
«Ich kann mir denken, was mich da erwartet«, meinte ich.
Lodges Liste sah sehr kurz und unbefriedigend aus.
«Sonst noch jemand?«fragte er.
«Oh., eine Bekannte. Eine Miss Ellery-Penn. Ich habe es ihr gestern abend erzählt.«
«Freundin?«fragte er rundheraus. Er schrieb den Namen auf.
«Ja.«
«Sonst noch jemand?«
«Nein.«
«Warum nicht?«fragte er.
«Ich dachte mir, daß ich Sie und Sir Creswell nicht behindern dürfte. Wenn ich zu viele Fragen gestellt hätte, wären Ihre Ermittlungen vielleicht noch schwieriger geworden. Die Leute sind dann auf der Hut, sie haben ihre Antworten parat — Sie wissen schon. Aber nachdem man hier ja weiter nichts unternehmen will, hätte ich mich darum gar nicht zu kümmern brauchen. «Meine Stimme klang ein wenig bitter.
Lodge sah mich an.»Sie ärgern sich, weil man Sie für jugendlich und hitzköpfig hält«, meinte er.
«Mit vierundzwanzig Jahren ist man schließlich nicht mehr so jung«, brauste ich auf.»Ich glaube mich erinnern zu können, daß England einmal einen Premierminister in diesem Alter gehabt hat. Er war recht erfolgreich.«
«Das gehört nicht zur Sache, und Sie wissen das auch ganz genau«, knurrte er.
Ich grinste.
«Was wollen Sie jetzt tun?«fragte Lodge.
«Nach Hause fahren«, erwiderte ich und warf einen Blick auf die Uhr.
«Nein, ich meinte, wegen Major Davidson.«
«So viele Fragen stellen, wie mir nur einfallen«, erklärte ich sofort.
«Trotz der Warnung?«
«Ihretwegen«, meinte ich.»Die bloße Tatsache, daß man fünf Männer schickt, um mich zu bedrohen, bedeutet doch, daß allerhand faul ist. Bill Davidson war ein guter Freund von mir, wissen Sie. «Ich überlegte einen Augenblick.»Zuerst will ich einmal feststellen, wem die Taxis gehören, die Peaky und Genossen fahren.«
«Ganz inoffiziell möchte ich sagen, viel Glück«, meinte Lodge.»Aber seien Sie vorsichtig.«
«Aber gewiß«, versprach ich und stand auf.
Lodge begleitete mich zur Tür und gab mir die Hand.»Halten Sie mich auf dem laufenden«, sagte er.
«Ja, gerne.«
Er winkte mir zu und ging wieder ins Haus. Ich setzte mich in den Wagen und trat endgültig den Heimweg an. Ich hatte starke Schmerzen in den Schultern, aber solange ich über Bills Sturz nachdachte, vergaß ich sie.
Zwei Tage lang unternahm ich nichts. Es konnte nichts schaden, wenn man den Eindruck gewann, als hätte ich mir die Warnung zu Herzen genommen.
Ich spielte mit den Kindern Poker und verlor, weil ich nicht bei der Sache war.
«Du paßt ja gar nicht auf, Alan«, sagte Henry mit gespieltem Bedauern, als er mir zehn Spielmarken abnahm.
«Wahrscheinlich ist er verliebt«, sagte Polly mit abschätzendem Blick. Richtig, das kam ja auch noch dazu.
«Pff«, machte Henry und teilte die Karten aus.
«Was ist denn verliebt?«fragte William, der zu Henrys Ärger mit seinen Spielmarken Flohhüpfen spielte.
«Scheußlich«, meinte Henry.»Küsserei und so Zeug.«
«Mammi ist in mich verliebt«, verkündete William.
«Sei nicht albern«, dozierte Polly hochmütig, mit der Erfahrung ihrer ganzen elf Jahre.»Verliebt heißt Hochzeiten, Bräute, Konfetti und so.«
«Sieh bloß zu, daß sich das schnell wieder gibt«, erklärte Henry verächtlich,»sonst hast du keine Chips mehr übrig, Alan.«
William nahm seine Karten auf. Er machte riesengroße Augen und öffnete den Mund, das bedeutete, daß er mindestens zwei Asse hatte. Mit anderen Karten erhöhte er nie. Ich sah, daß ihm Henry einen kurzen Blick zuwarf und sich dann wieder auf seine Karten konzentrierte. Er legte drei Stück ab, ließ sich drei neue geben und gab auf, als er an die Reihe kam. Ich drehte sie um. Zwei Könige und zwei Zehner. Henry war Realist. Er wußte, wann er aufhören mußte. Und William, der aufgeregt umherhopste, gewann mit drei Assen und zwei Fünfen nur vier Spielmarken.
Nicht zum erstenmal wunderte ich mich über die seltsame Verteilung des Erbgutes. Bill war ein freundlicher, ehrlicher Mann mit vielen guten Charakterzügen gewesen. Aber weder ihm noch Scilla konnte man überdurchschnittliche Intelligenz zusprechen. Trotzdem hatten sie ihrem älteren Sohn einen scharfen, außergewöhnlich durchdringenden Verstand mitgegeben.
Und wie hätte ich ahnen sollen, als ich für Polly die Karten mischte und William half, seinen Turm aus Spielmarken wieder zu errichten, daß Henry in seinem Gehirn den Schlüssel zum Rätsel um den Tod seines Vaters verwahrte!
Er wußte es ja selbst nicht.