Kapitel 5

Auf dem Parkplatz tobte eine Schlacht. Ich durchschritt den Eingang, um nach dem letzten Rennen den Heimweg anzutreten, und erstarrte. In dem Raum zwischen dem Tor und der ersten Parkreihe kämpften mindestens zwanzig Männer miteinander. Pardon wurde nicht gegeben. Selbst auf den ersten Blick zeigte sich, daß hier keine der üblichen Schlägereien stattfand.

Es war unfaßbar. Raufereien zwischen zwei oder drei Männern ereigneten sich auf Rennbahnen nahezu täglich, aber eine Auseinandersetzung dieses Ausmaßes schien andere Gründe zu haben als Meinungsverschiedenheiten über eine Wette.

Ich sah näher hin. Es gab keinen Zweifel, einige der Männer waren mit Schlagringen bewaffnet. Eine Fahrradkette zuckte durch die Luft. Die beiden mir nächsten Männer lagen beinahe regungslos am Boden, in angestrengter Umklammerung, als vollführten sie irgendein geheimnisvolles Ritual. Die Finger des einen Mannes umkrampften das Handgelenk des anderen, der ein Messer mit einer scharfen, etwa sieben Zentimeter langen Klinge zu gebrauchen versuchte.

Beide Seiten schienen ungefähr gleich stark zu sein, obwohl man sie nicht voneinander zu unterscheiden vermochte. Der Mann mit dem Messer, langsam den kürzeren ziehend, war ein blutjunger Bursche, aber bei den meisten anderen handelte es sich um ältere Jahrgänge. Der einzige betagt aussehende Kämpfer lag auf seinen Knien in der Mitte des Getümmels, die Arme über dem Kopf verschränkt, während es rings um ihn Schläge hagelte.

Es war unheimlich still. Man hörte nur Keuchen und ein paar

stöhnende Laute. Der Halbkreis von Rennplatzbesuchern, die mit offenem Munde zusahen, wurde immer größer, aber niemand spürte die Neigung, sich in den Kampf zu stürzen und die Ruhe wiederherzustellen. Einer der Zeitungsverkäufer stand neben mir.

«Worum geht’s denn eigentlich?«fragte ich.

«Das sind die Taxichauffeure«, sagte er.»Es gibt da zwei Gruppen, die miteinander in Streit liegen, die eine aus London, die andere aus Brighton. Wenn sie zusammentreffen, ist jedesmal der Teufel los.«

«Warum denn?«

«Das kann ich Ihnen auch nicht sagen, Mr. York. Aber jedenfalls ist das heute nicht das erste Mal.«

Ich warf wieder einen Blick auf den hin und her wogenden Kampf. Ein paar Männer trugen noch ihre Mützen. Manche wälzten sich mit ihren Gegnern auf dem Boden, andere stemmten sich gegen ihre Taxis. Es waren zwei Reihen Droschken geparkt. Alle Fahrer beteiligten sich an der Schlägerei.

Ihre Fäuste und die Schlagringe taten ihre Wirkung. Zwei von den Männern krümmten sich, offensichtlich in den Magen getroffen. Fast alle hatten blutige Gesichter, zerrissene Jacken, Hosen und Hemden.

Sie kämpften wutentbrannt, ohne sich um die ständig größer werdende Menschenmenge zu kümmern.

«Das gibt ja Tote«, sagte ein Mädchen hinter mir entsetzt. Ich sah auf und bemerkte neben mir einen breitschultrigen, großen Mann mit gebräuntem Gesicht. Er beobachtete die Schlägerei mißbilligend, mit zusammengekniffenen Augen. Ich konnte mich an seinen Namen nicht erinnern, obwohl ich das Gefühl hatte, ihn zu kennen.

Die Leute wurden unruhig und begannen sich nach der Polizei umzusehen. Die Bemerkung des Mädchens war nicht unbegründet. Man mußte durchaus damit rechnen, daß einer dieser Männer die brutale Auseinandersetzung mit dem Leben zu bezahlen hatte.

Durch die Schlägerei war auf dem Parkplatz eine Verkehrsstockung entstanden. Ein Polizist tauchte auf, sah sich die Lage an und verschwand sofort wieder, um Verstärkung zu holen. Er kehrte mit vier Polizisten zu Fuß und einem zu Pferd zurück, alle mit Gummiknüppeln bewaffnet. Sie stürzten sich in die Menge, aber es dauerte ein paar Minuten, bis sie die Ruhe wiederhergestellt hatten.

Immer mehr Polizisten trafen ein. Die Taxifahrer wurden voneinander getrennt und in zwei Gruppen geteilt. Niemand schien gewonnen zu haben. Das Schlachtfeld war mit Mützen und Kleidungsfetzen übersät. Zwei Schuhe, einer schwarz, einer braun, lagen drei Meter voneinander entfernt. Überall sah man Blutspritzer. Die Polizei begann, die Schlagringe einzusammeln.

Langsam gingen die Menschen auseinander. Eine kleine Gruppe von Fahrgästen erkundigte sich bei einem Polizisten, wie lange man auf die Fahrer zu warten habe. Der große, braungebrannte Mann gesellte sich zu ihnen.

Einer der Rennsportjournalisten blieb neben mir stehen und kritzelte eifrig in sein Notizbuch.

«Wer ist denn der große Mann da drüben, John?«fragte ich ihn.

Er sah auf und warf einen Blick hinüber.»Sein Name ist Tudor, soviel ich weiß«, erwiderte er.»Besitzt ein paar Pferde. Irgend so ein Industriekapitän; ich weiß nicht sehr viel über ihn. Er scheint nicht gerade begeistert zu sein, daß er kein Taxi bekommt.«

Tudor machte ein grimmiges Gesicht. Ich war immer noch davon überzeugt, daß ich angesichts dieses Mannes an irgend etwas erinnert wurde, aber es fiel mir nicht ein. Er hatte keinen

Erfolg bei dem Polizisten, der den Kopf schüttelte. Die Taxis blieben leer und fahrerlos.

«Was ist eigentlich los?«fragte ich den Journalisten.

«Bandenkrieg, haben mir meine Spione berichtet«, erwiderte er fröhlich.

Fünf von den Taxifahrern lagen jetzt ausgestreckt auf dem kalten, feuchten Boden. Einer von ihnen stöhnte unaufhörlich.

«Ungefähr zu gleichen Teilen Krankenhaus und Polizeirevier, würde ich sagen«, meinte der Journalist.»Das gibt einen Artikel!«

Der Stöhnende rollte auf die Seite und erbrach sich.

«Ich gehe wieder zurück, um das meiner Redaktion durchzutelefonieren«, erklärte der Zeitungsmann.»Fahren Sie jetzt nach Hause?«

«Ich warte nur noch auf diesen verdammten Joe Nantwich«, sagte ich.»Ich habe ihm versprochen, ihn bis Dorking mitzunehmen, aber seit dem vierten Rennen scheint ihn der Erdboden verschluckt zu haben. Es sähe ihm ähnlich, sich von einem anderen nach Hause mitnehmen zu lassen, ohne mich zu verständigen.«

«Als ich ihn zuletzt sah, stritt er mit Sandy auf der Herrentoilette, aber er zog den kürzeren.«

«Die beiden können sich nicht ausstehen«, sagte ich.

«Wissen Sie warum?«

«Keine Ahnung. Sie vielleicht?«

«Nein«, gab der Journalist zurück. Er verabschiedete sich und ging zum Tribünengebäude zurück.

Zwei Krankenautos fuhren heran, um die verletzten Fahrer einzusammeln. Ein Polizist stieg hinten in jede Ambulanz mit ein, während sich ein anderer vorne neben den Chauffeur setzte. Vollbeladen fuhren die Krankenautos davon.

Die übrigen Taxichauffeure begannen zu frieren, als die Kampfeshitze verflog und sich die Kälte des Februarnachmittags bemerkbar machte. Ein Mann aus der einen Gruppe trat vor, starrte seine Gegner verächtlich an und spuckte dann vor ihnen aus. Sein Hemd hing in Fetzen an ihm herunter; sein Gesicht war verschwollen. Die Muskeln seiner Unterarme hätten einem Hufschmied zur Ehre gereicht; seine Stirn war niedrig. Ein gefährlich aussehender Mann. Ein Polizist berührte ihn am Arm, um ihn in die Gruppe zurückzuweisen. Er fuhr herum und fauchte ihn an. Zwei andere Polizisten kamen näher, und der schwarzhaarige Mann gab mürrisch nach.

Ich hatte eben beschlossen, auf Joe nicht länger zu warten, als er durchs Tor kam und mich begrüßte, ohne sich für seine Verspätung zu entschuldigen. Aber ich war nicht der einzige, dem seine Ankunft auffiel. Mr. Tudor kam auf uns zu.

«Nantwich, haben Sie die Freundlichkeit, mich nach Brighton mitzunehmen?«fragte er, fast im Befehlston.»Wie Sie selber sehen, ist mit den Taxis im Augenblick nicht zu rechnen, ich habe aber in zwanzig Minuten in Brighton eine wichtige Verabredung.«

Joe sah uninteressiert zu den Taxifahrern hinüber.»Was hat’s denn gegeben?«fragte er.

«Das ist doch jetzt völlig unwichtig«, erklärte Tudor ungeduldig.»Wo ist Ihr Wagen?«

Joe sah ihn geistesabwesend an. Sein Gehirn schien nur mit halber Kraft zu funktionieren.»Oh — äh — er ist nicht hier, Sir«, sagte er.»Ich werde selbst mitgenommen.«

«Von Ihnen?«wandte sich Tudor an mich. Ich nickte. Es war typisch für Joe, daß er versäumt hatte, uns bekannt zu machen.

«Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich nach Brighton bringen würden«, erklärte Tudor.»Ich zahle Ihnen den regulären Taxipreis.«

Bei ihm schien es keinen Widerspruch zu geben;

offensichtlich hatte er es sehr eilig. Es wäre schwierig gewesen, ihm diese kleine Gefälligkeit zu verweigern.

«Ich nehme Sie umsonst mit«, erwiderte ich,»aber es wird ziemlich eng werden. Ich habe einen zweisitzigen Sportwagen.«

«Wenn wir nicht alle hineinpassen, kann Nantwich hierbleiben. Sie kommen dann später zurück und holen ihn ab«, verkündete Tudor.

Joe zeigte sich nicht überrascht, aber ich hatte doch den Eindruck, daß Mr. Tudor ein bißchen des Guten zuviel tat.

Wir gingen an den angeschlagenen Taxifahrern vorbei und zwängten uns zu meinem Wagen durch. Tudor stieg ein. Er war so massig, daß es zwecklos schien, Joe noch hineinzwängen zu wollen.

«Ich hole dich später ab, Joe«, sagte ich, einen Anflug von Gereiztheit unterdrückend.»Warte vorne an der Hauptstraße.«

Ich setzte mich ans Steuer, ließ den Wagen langsam über den Parkplatz rollen, erreichte die Hauptstraße und schlug die Richtung nach Brighton ein. Es herrschte zuviel Verkehr, als daß mein Lotus hätte zeigen können, wieviel in seinem Climax-Motor steckte; die Tachonadel kletterte zunächst nicht über fünfundsechzig, und ich hatte Zeit, mich auf meinen eigenartigen Fahrgast zu konzentrieren.

Ich sah, wie seine Hand auf dem Knie ruhte, die Finger gespreizt und angespannt. Und ganz plötzlich wußte ich, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte. Seine Hand, tiefgebräunt, mit bläulichem Schimmer unter den Fingernägeln, brachte mich darauf.

Er hatte in Sandown an der Bar gestanden, mit dem Rücken zu mir, die Hand auf der Theke neben seinem Glas. Er hatte sich mit Bill unterhalten, und ich hatte hinter ihm gewartet, weil ich ihr Gespräch nicht stören wollte. Tudor hatte dann sein Glas geleert und war gegangen. Ich sah zu ihm hinüber.

«Das mit Bill Davidson ist wirklich tragisch«, sagte ich.

Die braune Hand zuckte. Er wandte den Kopf zur Seite und sah mich an.»Ja, das kann man wohl sagen. Ich hatte damit gerechnet, daß er in Cheltenham eines meiner Pferde reiten würde.«

«Ein großer Sportsmann«, sagte ich.

«Allerdings.«

«Ich war unmittelbar hinter ihm, als er stürzte«, erzählte ich ihm, und impulsiv fügte ich hinzu:»Da gibt es noch allerhand zu klären.«

Er rutschte in seinem Sitz etwas tiefer. Ich wußte, daß er mich immer noch beobachtete.»Das läßt sich denken«, meinte er. Er zögerte, fügte dann aber nichts mehr hinzu. Nach einer Weile sah er auf die Uhr.»Wenn Sie die Güte hätten, mich zum Pavillon-Plaza-Hotel zu bringen. Ich werde dort zu einer geschäftlichen Besprechung erwartet.«

«Ist das in der Nähe des Pavillons?«erkundigte ich mich.

«So ungefähr. Ich dirigiere Sie, wenn wir Brighton erreicht haben. «Sein Ton degradierte mich zum Chauffeur.

Wir blieben die nächsten Meilen stumm. Mein Fahrgast war anscheinend tief in Gedanken versunken. Als wir Brighton erreichten, wies er mir den Weg zum Hotel.

«Danke«, sagte er ohne Wärme, als er etwas schwerfällig aus meinem niedrigen Wagen stieg. Er hatte eine Art an sich, nicht unbeträchtliche Gefälligkeiten als selbstverständlich anzusehen, auch wenn er Fremde darum bemühen mußte. Er machte zwei Schritte, drehte sich dann um und sagte:»Wie heißen Sie?«

«Alan York«, erwiderte ich.»Guten Tag.«

Ich fuhr davon, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich konnte genau so brüsk sein wie er. Ein Blick in den Rückspiegel belehrte mich, daß er immer noch auf dem Gehsteig stand und mir nachsah.

Ich fuhr zur Rennbahn zurück. Joe wartete auf mich; er saß auf der Böschung am Rand der Straße. Es fiel ihm schwer, die Wagentür zu öffnen, und brummend rutschte er in den Sitz. Er geriet zu weit auf meine Seite, und ich entdeckte, daß Joe Nantwich betrunken war.

Die Dämmerung brach herein. Ich knipste die Scheinwerfer an. Es gab Angenehmeres, als die kurvenreichen Straßen nach Dorking zu befahren, während Joe mir seinen Alkoholdunst ins Gesicht blies. Ich seufzte und gab Gas.

Joe war wieder einmal gekränkt. Seiner Meinung nach waren immer die anderen schuld, wenn ihm irgend etwas schiefging.

Kaum zwanzig Jahre alt, hatte er an allem etwas auszusetzen. Es ließ sich schwer entscheiden, was unangenehmer war, sein Beleidigtsein oder seine Prahlereien; daß ihn die anderen Jockeys tolerant behandelten, zeugte für ihre Gutmütigkeit. Zu seinen Gunsten sprach eigentlich nur, daß er ein guter Jockey war, aber auch diese Fähigkeit hatte er durch das Stehenlassen von Pferden im schlechten Sinne angewandt, und jetzt betrank er sich auch noch mitten am Tag.

«Ich hätte dieses Rennen gewonnen«, winselte er.

«Du bist ein Narr, Joe«, sagte ich.

«Nein, ganz ehrlich, Alan. Ich hätte das Rennen gewonnen. Die anderen waren ja schon erledigt, ich hatte sie in der Tasche. «Er fuhr mit den Händen durch die Luft.

«Du bist ein Narr, beim Rennen so viel zu trinken«, sagte ich.

«Was?«

«Trinken«, wiederholte ich.»Du hast zuviel getrunken.«

«Nein, nein, nein, nein.«

«Kein Besitzer läßt dich mehr auf sein Pferd, wenn du betrunken gesehen wirst«, meinte ich.

«Ich kann jedes Rennen gewinnen, betrunken oder nicht«, erwiderte Joe.

«Ob dir das die Leute glauben?«

«Sie wissen, daß ich gut bin.«

«Das stimmt auch, aber wenn du so weitermachst, wird bald Schluß sein.«

«Ich kann trinken und reiten, ich kann reiten und trinken. Wann und wie ich will. «Er rülpste.

Ich ließ es dabei bewenden. Joe hätte vor zehn Jahren eine feste Hand gebraucht.

Er begann wieder zu jammern.»Dieser verdammte Mason!«

Ich schwieg. Er fing wieder von vorne an.

«Dieser verdammte Sandy, er hat mich heruntergestoßen. Er hat mich angerempelt und über das verdammte Geländer gekippt.

Ich hätte das Rennen spielend gewonnen. Er wußte genau Bescheid und kippte mich über das verdammte Geländer.«

«Sei doch nicht so albern, Joe.«

«Du kannst nicht behaupten, daß ich das Rennen nicht gewonnen hätte«, erklärte Joe eigensinnig.

«Und ich kann auch nicht sagen, daß du es gewonnen hättest«, meinte ich.»Du bist ja schon eine Meile vor dem Ziel gestürzt.«

«Ich bin nicht gestürzt. Ich erzähle dir doch eben, was war, oder nicht? Dieser dreckige Mason hat mich vom Pferd gestoßen!«

«Wie denn?«fragte ich, ohne ihn anzusehen.

«Er drückte mich gegen das Geländer. Ich schrie ihm zu, daß er mir mehr Platz lassen sollte. Weißt du, was er dann getan hat? Weißt du’s? Er hat gelacht. Er hat einfach gelacht. Dann stieß er mich hinunter. Er drückte mir das Knie in die Seite, stemmte mich hoch, und schon fiel ich übers Geländer. «Er schluchzte.

Ich sah ihn an. Zwei Tränen rollten ihm über die runden Wangen.

«Sandy würde so etwas nie tun«, meinte ich gelassen.

«Und ob er so etwas tut. Er hat mir gesagt, daß er mit mir abrechnen würde. Es täte mir noch leid, meinte er. Aber ich konnte nichts dafür, Alan, ganz bestimmt nicht. «Wieder begannen die Tränen zu fließen.

Ich war ratlos. Woher sollte ich wissen, was er meinte. Immerhin begann es so auszusehen, als hätte Sandy seine Gründe gehabt, wenn er wirklich für den Sturz verantwortlich gewesen war.

«Du bist immer anständig zu mir gewesen, Alan«, fuhr Joe fort,»du bist nicht wie die anderen, du bist mein Freund. «Er stützte sich auf meinen Arm, kam näher und schnaufte mir ins Gesicht. Durch den plötzlichen Druck auf meinen Arm wurde das Steuer etwas herumgerissen, und der Wagen geriet aus der Spur.

Ich schüttelte ihn ab.»Setz dich um Gottes willen richtig hin, Joe, sonst landen wir noch im Graben«, sagte ich.

Aber er hörte nicht. Wieder zog er an meinem Arm. Vor uns tauchte eine Ausweichstelle auf. Ich bremste, bog ein und hielt.

«Wenn du nicht vernünftig bist, kannst du hier aussteigen und zu Fuß gehen«, fauchte ich ihn an.

«Du weißt ja nicht, wie das ist, wenn man in der Patsche steckt«, schluchzte er. Je schneller er sich die Sache vom Herzen redete, desto eher würde er wohl einschlafen, dachte ich.

«Was für eine Patsche denn?«fragte ich uninteressiert.

«Alan, dir sage ich es, weil du mein Freund bist. «Er legte mir die Hand aufs Knie. Ich schob sie weg.

«Ich hätte ein Pferd stehenlassen sollen und hab’s nicht getan«, winselte Joe.»Sandy verlor eine Menge Geld, er schwor, sich an mir zu rächen, lief tagelang hinter mir her und drohte mit allem möglichen. Ich wußte, daß er etwas Gemeines unternehmen würde, und das hat er auch getan. «Er holte Atem.

«Gott sei Dank bin ich auf eine weiche Stelle gefallen, sonst hätte ich mir noch den Hals gebrochen. Und dieser verfluchte Sandy lachte! Aber der soll sich nur vorsehen, den mach ich noch fertig.«

«Welches Pferd hast du nicht stehenlassen?«fragte ich.»Woher wußte Sandy eigentlich, daß du ein Pferd abwürgen solltest?«

Einen Augenblick lang dachte ich, der Redefluß würde versiegen, aber die Wirkung des Alkohols war stärker.

Die Geschichte war traurig genug. Unter Abzug der Flüche und aufs Wesentliche beschränkt, ergab sich folgendes. Joe war gut dafür bezahlt worden, bei verschiedenen Gelegenheiten Pferde stehenzulassen. Zweimal hatte ich es selbst erlebt. Aber als David Stampe seinen Vater, den Leiter der Rennkommission, unterrichtet hatte und Joe beinahe seiner Lizenz verlustig gegangen wäre, war ihm der Schock doch zu groß gewesen. Als man ihm beim nächstenmal auftrug, ein Pferd stehenzulassen, erklärte er sich einverstanden, aber beim Rennen hatte er aus Nervosität nicht früh genug abgebremst. Vor dem Finish erkannte er klar, daß seine Lizenz dahin war, wenn er verlor. Er gewann also. Das war vor zehn Tagen gewesen.

«Ist Sandy der einzige, der dir etwas getan hat?«fragte ich verständnislos.

«Er hat mich übers Geländer gestoßen.«

Ich unterbrach ihn.»Es war aber doch sicher nicht Sandy, der dich bezahlt hat, damit du nicht gewinnst?«

«Nein. Ich glaube nicht. Ich weiß es nicht«, jammerte er.

«Willst du damit sagen, daß du nicht weißt, wer dich bezahlt hat?«

«Ein Mann rief an und sagte mir Bescheid, sobald er ein Pferd gebremst haben wollte, und nachher bekam ich durch die Post ein Päckchen mit Geld zugestellt.«

«Zehnmal im ganzen während der sechs Monate«, erwiderte Joe. Ich starrte ihn an.

«Es war meistens ganz einfach«, verteidigte sich Joe.»Die Gäule hätten sowieso nicht gewonnen.«

«Wieviel bekamst du dafür?«

«Hundert. Zweimal sogar zweihundertfünfzig. «Joe hatte sich immer noch nicht unter Kontrolle, und ich glaubte ihm. Das war eine Menge Geld, und jemand, der solche Beträge ausgab, würde sicher nicht auf Rache verzichten, wenn Joe entgegen seinen Anweisungen gewann. Aber Sandy? Ich konnte es nicht glauben.

«Was hat Sandy zu dir gesagt, nachdem du gewonnen hattest?«fragte ich.

Joe weinte immer noch.»Er sagte, er hätte auf das von mir geschlagene Pferd gesetzt und würde mit mir abrechnen«, erwiderte Joe.

«Du hast dein Geld nicht bekommen, nehme ich an?«

«Nein«, sagte Joe.

«Hast du denn überhaupt keine Ahnung, woher es kam?«

«Ein paar Päckchen waren in London aufgegeben worden. Ich habe mich auch nicht besonders drum gekümmert.«

«Na ja«, sagte ich.»Nachdem Sandy jetzt Rache genommen hat, bist du wohl aus dem Schlimmsten ’raus? Kannst du nicht endlich mit dem Geheule aufhören? Es ist ja jetzt alles vorbei. Worüber regst du dich so auf?«

Joe nahm ein Blatt Papier aus der Tasche und gab es mir.»Jetzt ist sowieso schon alles gleich. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Hilf mir, Alan. Ich habe Angst.«

Man sah es ihm an. Joe wurde langsam nüchtern.

Ich faltete das Papier auseinander und schaltete die

Wagenbeleuchtung ein. Es handelte sich um ganz normales Schreibmaschinenpapier. Der Text war nur vier Worte lang, in Großbuchstaben: >BOLINGBROKE DU WIRST BESTRAFTc.

«>Bolingbroke< ist das Pferd, das du hättest stehenlassen sollen?«

«Ja.«

«Wann hast du das hier bekommen?«

«Ich fand es heute in meiner Tasche, als ich das Jackett anzog, kurz vor dem fünften Rennen.«

«Und dann hast du den Rest des Nachmittags in der Bar verbracht und dich betrunken«, meinte ich.

«Ja., während du Mr. Tudor nach Brighton brachtest, ging ich noch einmal hinein. Ich habe nicht damit gerechnet, daß mir wegen >Bolingbroke< etwas passieren würde. Seit er gewonnen hat, brachte ich aber die Angst nicht mehr los. Und gerade, als ich dachte, daß alles gut verlaufen sei, stieß mich Sandy übers Geländer, und dann fand ich diesen Brief in meiner Tasche. Das ist nicht fair.«

Ich gab ihm das Blatt zurück.

«Was soll ich denn nur tun?«fragte Joe.

Ich konnte es ihm nicht sagen, weil ich es nicht wußte. Er hatte sich in die Patsche gesetzt und guten Grund, unangenehme Folgen zu befürchten.

Joe schien sich einigermaßen erholt zu haben. Ich knipste die Innenbeleuchtung aus, ließ den Motor an und fuhr los. Wie erwartet, schlief Joe nach kurzer Zeit ein. Er schnarchte laut.

Als wir uns Dorking näherten, weckte ich ihn.

«Joe, wer ist eigentlich dieser Mr. Tudor, den ich nach Brighton gefahren habe? Er kennt dich.«

«Ihm gehört >Bolingbroke<«, erwiderte Joe.»Ich reite oft für ihn.«

Ich war überrascht.»Hat er sich gefreut, als Bolingbroke gewann?«

«Ich nehme es an. Er war nicht dabei. Nachher schickte er mir allerdings zehn Prozent und ein Dankschreiben. Na ja, das Übliche.«

«Er beteiligt sich noch nicht lange am Rennsport, nicht wahr?«

«Er tauchte ungefähr um dieselbe Zeit auf wie du«, erklärte Joe mit einer Spur seiner früheren Arroganz.»Ihr beide seid mitten im Winter braungebrannt angekommen.«

Ich war mit dem Flugzeug aus dem afrikanischen Sommer ins kalte Oktoberwetter geraten; nach achtzehn Monaten war meine Haut so blaß wie die eines Engländers. Tudor dagegen hatte sich nicht verändert.

«Weißt du, warum dieser Mr. Clifford Tudor in Brighton wohnt?«fragte Joe.»Damit er eine Ausrede hat, wenn er das ganze Jahr braungebrannt herumläuft. Wahrscheinlich stimmt mit seiner Ahnenreihe etwas nicht.«

Daraufhin lud ich Joe ohne Gewissensbisse an der Bushaltestelle ab. Er schien sein Gleichgewicht wiedergewonnen zu haben.

Ich fuhr nach Hause. Zuerst dachte ich über Sandy Mason nach und fragte mich, wie er wohl dahintergekommen war, daß Joe >Bolingbroke< zurückhalten sollte.

Aber während der letzten Fahrstunde dachte ich nur an Kate.

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