Als ich am Samstagmorgen zusammen mit Scilla, den Kindern und Joan am großen Küchentisch frühstückte, läutete das Telefon.
Scilla ging an den Apparat, kam aber kurz darauf wieder.»Es ist für dich, Alan. Der Anrufer hat aber seinen Namen nicht genannt.«
Ich ging ins Wohnzimmer und nahm den Hörer. Die Märzsonne schien durch die Fenster auf eine große Schale mit roten und gelben Krokussen, die auf dem Telefontischchen stand. Ich sagte:»Hier Alan York.«
«Mr. York, ich habe Ihnen vor einer Woche eine Warnung zukommen lassen. Sie hielten es für richtig, sich nicht darum zu kümmern.«
Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufrichteten. Meine Kopfhaut juckte. Es war eine sanfte Stimme mit heiserem, flüsterndem Klang, nicht wütend oder scharf, beinahe freundlich.
Ich schwieg. Die Stimme sagte:»Mr. York? Sind Sie noch da?«
«Ja.«
«Mr. York, ich bin kein gewalttätiger Mann. Ich habe sogar eine Abneigung gegen Gewalt. Ich gebe mir ganz besondere Mühe, sie zu vermeiden, Mr. York. Aber manchmal wird sie mir aufgedrängt, manchmal ist das der einzige Weg, zu Ergebnissen zu kommen. Sie verstehen mich doch, Mr. York?«
«Ja«, sagte ich.
«Wenn ich ein gewalttätiger Mann wäre, Mr. York, hätte ich mir vorige Woche eine unangenehmere Warnung für Sie ausgedacht.
Und ich gebe Ihnen noch einmal eine Chance, damit Sie sehen, wie schwer es mir fällt, Ihnen etwas anzutun. Kümmern Sie sich einfach um Ihre eigenen Angelegenheiten, und hören Sie auf, Fragen zu stellen, dann wird Ihnen nichts passieren. «Nach einer Pause fuhr die sanfte Stimme mit drohendem Unterton fort:»Wenn ich natürlich feststellen muß, daß es ohne Gewalt nicht mehr geht, finde ich immer andere Leute, die sie für mich anwenden. Nur, damit ich nicht zusehen muß. Nur, damit es für mich nicht zu schmerzlich ist. Sie begreifen doch hoffentlich, Mr. York?«
«Ja«, sagte ich wieder. Ich dachte an Sonny, an sein gemeines Grinsen, an sein Messer.
«Gut, das wäre alles. Ich hoffe wirklich, daß Sie vernünftig sind. Guten Morgen, Mr. York. «Es knackte in der Leitung, als er die Verbindung unterbrach.
Ich drückte ein paarmal kurz auf die Gabel, bis sich die Vermittlung meldete. Ich fragte die Telefonistin, ob sie mir sagen könnte, woher der Anruf gekommen sei.
«Einen Augenblick bitte«, sagte sie näselnd. Nach einer Weile meldete sie sich wieder.»Er ist über London geleitet worden«, erklärte sie,»aber weiter kann ich ihn nicht verfolgen. Tut mir sehr leid.«
«Macht nichts. Recht vielen Dank«, sagte ich.
«Gern geschehen.«
Ich legte auf und kehrte an den Frühstückstisch zurück.
«Wer war denn das?«fragte Henry, der seinen Toast dick mit Marmelade beschmierte.
«Ein Mann mit Hund«, sagte ich.
«Oder mit anderen Worten«, meinte Polly,»>wer viel fragt, geht viel im.«
Henry schnitt eine Grimasse und biß in seinen Toast. Die Marmelade lief ihm zu einem Mundwinkel heraus. Er schleckte sie auf.
«Henry will immer wissen, wer am Apparat ist«, meinte William.
«Ja, Liebling«, sagte Scilla geistesabwesend und wischte Eidotter von seinem Pullover.»Du mußt dich über deinen Teller beugen, wenn du ißt, William. «Sie gab ihm einen Kuß auf den blonden Schopf.
Ich ließ mir von Joan noch Kaffee eingießen.
«Führst du uns zum Tee in Cheltenham aus, Alan? Können wir wieder so Sahnedinger wie beim letztenmal haben und Eiscreme-Soda mit Strohhalmen und für den Heimweg Erdnüsse?«
«O ja«, stimmte William strahlend ein.
«Ich wäre gerne dabei«, sagte ich,»aber heute geht es nicht. Vielleicht einmal nächste Woche.«
Ich wollte endlich den langerwarteten Besuch bei Kate machen, dort zweimal übernachten, und am Montag wollte ich einen Tag im Büro verbringen.
Als ich die enttäuschten Gesichter der Kinder sah, meinte ich:»Ich bin bei Bekannten eingeladen. Vor Montagabend komme ich nicht zurück.«
«Mensch, wird das langweilig«, sagte Henry.
Mein Lotus schluckte die Meilen zwischen Sussex und den Cotswolds mit dem gleichmäßigen Schnurren einer zufriedenen Katze. Ich legte die fünfzig Meilen von Cirincester bis Newbury in dreiundfünfzig Minuten zurück, nicht weil ich es so eilig hatte, sondern aus Vergnügen an der Geschwindigkeit, für die der Wagen nun einmal gebaut war. Und außerdem fuhr ich ja zu Kate. Endlich.
In Newbury mußte ich sehr viel langsamer fahren, sogar einmal halten. Dann flitzte ich die Straße nach Basingstoke entlang, vorbei am amerikanischen Flugplatz bei Greenham
Common, und überschritt dann von Kingsclere ab selten sechzig Meilen in der Stunde.
Kate wohnte etwa vier Meilen von Burgess Hill entfernt.
Ich kam um zwanzig nach eins in Burgess Hill an, fuhr zum Bahnhof und parkte in einer versteckten Ecke. Ich betrat den Bahnhof und kaufte eine Rückfahrkarte nach Brighton. Es war mir zu riskant, in Brighton mit dem Wagen auf Erkundung zu gehen.
Die Fahrt dauerte sechzehn Minuten. Im Zug fragte ich mich vielleicht zum hundertsten Male, welche Bemerkung mir das Zusammentreffen mit dem Pferdetransportwagen eingebracht hatte. Wem hatte ich auf die Zehen getreten, indem ich nicht nur verraten hatte, daß ich von dem Draht wußte, sondern vor allem dadurch, daß ich ankündigte, den Verantwortlichen suchen zu wollen? Darauf gab es eigentlich nur zwei Antworten, und eine davon gefiel mir gar nicht.
Ich erinnerte mich, Clifford Tudor auf dem Weg von Plumpton nach Brighton erklärt zu haben, daß an Bills Tod noch eine Menge zu klären sei. Damit hatte ich ihm praktisch rundheraus erklärt, ich wüßte, daß der Sturz nicht auf einen Unfall zurückzuführen sei und daß ich einiges unternehmen würde.
Und dasselbe hatte ich Kate klargemacht. Auch Kate. Auch Kate. Auch Kate. Das Rattern des Zuges nahm den Refrain auf, höhnend, wie es mir schien.
Nun, ich hatte keine Geheimhaltung von ihr verlangt; es war mir auch nicht nötig erschienen. Sie konnte das, was sie von mir erfahren hatte, an die ganze Bevölkerung weitergegeben haben. Aber allzuviel Zeit war da nicht gewesen. Sie hatte mich in London nach Mitternacht verlassen, und siebzehn Stunden später war ich schon auf den Trick mit dem Pferdetransportwagen hereingefallen.
Der Zug fuhr im Bahnhof Brighton ein. Mit den anderen
Fahrgästen ging ich den Bahnsteig entlang und durch die Sperre, blieb aber zurück, als wir die Schalterhalle durchquerten und das Freie erreichten. Vor dem Bahnhof standen etwa zwölf Taxis, deren Fahrer vor ihren Autos standen und unter den Reisenden nach Kunden spähten. Ich sah mir die Fahrer sorgfältig an, einen nach dem anderen. Sie waren mir völlig fremd. Nicht einen von ihnen hatte ich in Plumpton gesehen.
Ich ließ mich nicht entmutigen, fand eine günstige Ecke, von der aus ich freie Sicht auf die ankommenden Taxis hatte, und wartete dort, resolut dem kalten Luftzug trotzend, den ich ständig im Nacken hatte. Taxis kamen und verschwanden wie emsige Bienen, Reisende bringend und abholend.
Langsam gewann ich Überblick. Es gab vier unterscheidbare Gruppen von Taxis. Bei der einen Gruppe waren die Wagen an den Seiten mit einem breiten grünen Streifen verziert; die Türen trugen die Aufschrift >Green Band<. Eine zweite Gruppe hatte gelbe Wappen an den Türen, mit einer kleinen schwarzen Inschrift. Bei einer dritten Gruppe waren alle Fahrzeuge hellblau lackiert. In die vierte Gruppe ordnete ich jene Taxis ein, die nicht zu den anderen drei Linien gehörten.
Ich wartete beinahe zwei Stunden, bis ich mich kaum noch rühren konnte; die Eisenbahnbeamten warfen mir bereits neugierige Blicke zu. Ich sah auf die Uhr. Der letzte Zug, mit dem ich bei Kate noch pünktlich eintreffen konnte, ging in sechs Minuten. Ich hatte mich bereits aufgerichtet und begann, meinen Nacken zu massieren, bevor ich hineinging und mich in den Zug setzte, als endlich meine Geduld belohnt wurde.
Leere Taxis kamen heran und stellten sich hintereinander auf. Ein Zug aus London war also wieder fällig. Die Chauffeure stiegen aus und sammelten sich in kleinen Gruppen. Drei staubige, schwarze Taxis erschienen und reihten sich hinten an. An den Türen hatten sie verblaßte, gelbe Wappen. Die Fahrer stiegen aus.
Einer von ihnen war der höfliche Chauffeur des Pferdetransportwagens. Ein vernünftiger, anständiger Bürger, so sah er jedenfalls aus. Von mittlerem Alter, unauffällig, ruhig. Die anderen kannte ich nicht.
Mir blieben noch drei Minuten. Die schwarzen Buchstaben auf den gelben Wappen waren so winzig, daß ich sie nicht zu entziffern vermochte. Ich konnte aber auch nicht näher heran, um dem höflichen Fahrer nicht aufzufallen; ich konnte aber auch nicht mehr warten, bis er weggefahren war. Ich ging zum Fahrkartenschalter, trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während eine Frau über den Fahrpreis für ihre Tochter verhandelte, und stellte dann eine einfache Frage.
«Wie heißen die Taxis mit den gelben Wappen an den Türen?«Der junge Mann am Schalter sah mich uninteressiert an.
«>Marconicars<, Sir. Das sind Funktaxis.«
«Danke«, sagte ich und hetzte auf den Bahnsteig hinaus.
Kate wohnte in einem herrlichen Queen-Anne-Haus, das sogar Generationen ruinensüchtiger Viktorianer unberührt gelassen hatten. Seine graziöse Symmetrie, die weißbekieste Auffahrt, die schon um diese frühe Zeit gemähten Rasenflächen, all das deutete auf eine gesellschaftliche und finanzielle Sicherheit von derart langer Dauer, daß es daran nichts zu rütteln gab.
Im Innern war das Haus wunderschön eingerichtet, ohne daß ein wenig Abgenütztheit gefehlt hätte, als sähen die Bewohner trotz ihres Reichtums keine Veranlassung, prunkhaft oder extravagant zu erscheinen.
Kate empfing mich an der Tür, hängte sich bei mir ein und führte mich durch die Halle.
«Tante Deb erwartet Sie zum Tee«, sagte sie.»Die Teestunde ist bei Tante Deb eine Art Kult. Gott sei Dank können Sie sich durch Ihre Pünktlichkeit bei ihr einschmeicheln. Sie ist sehr altmodisch, wissen Sie. In mancher Beziehung hat sie die Entwicklung unserer Zeit nicht mitgemacht. «Ihre Stimme klang besorgt und entschuldigend, woraus ich ersah, daß sie ihre Tante sehr gern hatte und schützen wollte. Ich drückte ihren Arm und sagte:»Machen Sie sich keine Sorgen.«
Kate öffnete eine der weißlackierten Türen, und wir betraten das Wohnzimmer. Es war ein angenehmer Raum, holzgetäfelt, mit pflaumenblauem Teppich, schönen Perserbrücken und Vorhängen mit Blumenmuster. Auf einem im rechten Winkel zum offenen Kamin stehenden Sofa saß eine Frau von etwa siebzig Jahren. Neben ihr stand ein niedriger, runder Tisch, darauf ein silbernes Tablett mit Crown-Derby-Tassen und — Tellern und eine Teekanne mit dazugehörigem Milchkännchen aus schwerem Silber. Ein Dackel schlief zu ihren Füßen.
Kate schritt durch das Zimmer und erklärte mit einiger Förmlichkeit:»Tante Deb, darf ich dir Alan York vorstellen?«
Tante Deb reichte mir ihre Hand, mit der Handfläche nach unten. Ich drückte sie, wobei ich daran dachte, daß früher wohl ein Handkuß angebracht gewesen war.
«Es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Tante Deb, und ich erkannte genau, was Dane mit ihrem eisigen, wohlerzogenen Benehmen gemeint hatte. Aus ihrer Stimme klang keine Wärme; man war nicht wirklich willkommen. Trotz ihrer Jahre, oder vielleicht gerade deswegen, sah sie noch außergewöhnlich gut aus. Schöngezogene Augenbrauen, eine vollkommene Nase, ein feingeschwungener Mund. Das graue Haar war von einem erstklassigen Friseur gelegt. Schlanke Gestalt, hochaufgerichtet; elegant bestrumpfte Beine. Eine Seidenbluse unter der Tweedjacke, handgefertigte Schuhe aus weichem Leder. Sie hatte alles. Alles bis auf das innere Feuer, an dem es Kate so wenig mangelte.
Tante Deb goß mir Tee ein, und Kate reichte mir die Tasse.
Es gab Brötchen mit Gänseleberpastete und Teekuchen; obwohl ich gewöhnlich auf die Teestunde verzichtete, war ich doch durch die Fahrt nach Brighton recht hungrig geworden. Ich aß und trank, und Tante Deb redete.
«Kate erzählte mir, daß Sie ein Jockey sind, Mr. York. «Sie sagte das so, als stünde ich auf einer Stufe mit den Vorbestraften.»Zweifellos finden Sie das sehr amüsant, aber als ich jung war, galt das bei Bekannten nicht als akzeptabler Beruf. Aber Kate ist hier zu Hause, und sie kann hierher bitten, wen sie will, wie sie selbst recht gut weiß.«
«Aubrey Hastings und Geoffrey Bennett waren doch auch Jockeys und trotzdem akzeptabel, als Sie — äh — jünger waren?«
Sie hob überrascht die Brauen.»Aber das sind Gentlemen gewesen«, meinte sie.
Ich sah zu Kate hinüber. Sie preßte den Handrücken auf die Lippen, aber ihre Augen lachten.
«Ja«, sagte ich mit ernster Miene.»Das macht natürlich einen Unterschied.«
«Sie werden also vielleicht begreifen«, fuhr sie fort und sah mich ein wenig freundlicher an,»daß ich die neuen Interessen meiner Nichte nicht so ohne weiteres billige. Es ist etwas anderes, ob ich ein Rennpferd besitze, oder ob ich mich mit den Jockeys anfreunde, die für mich reiten. Ich bin meiner Nichte sehr zugetan. Ich möchte nicht, daß sie einen übereilten. Schritt tut. Sie ist vielleicht noch zu jung und hat ein zu abgeschlossenes Leben geführt, als daß sie begreifen könnte, was annehmbar ist und was nicht. Aber Sie begreifen das wohl, Mr. York?«
Kate wurde rot.»Tante Deb!«rief sie anklagend. Sie hatte wohl auch nicht damit gerechnet, daß es so schlimm werden würde.
«Ich verstehe Sie sehr gut, Mrs. Penn«, sagte ich höflich.
«Gut«, meinte sie.»In diesem Fall hoffe ich, daß Sie sich bei uns wohl fühlen. Darf ich Ihnen noch Tee geben?«Nachdem sie mir meinen Platz angewiesen hatte und der Meinung war, ich sei bereit, die erheblichen Standesunterschiede anzuerkennen, zeigte sie sich als gute Gastgeberin. Sie hatte die ruhige Autorität eines Menschen, dessen Wünsche von Kindesbeinen an Gesetz sind. Sie begann freundlich über das Wetter und ihren Garten zu sprechen, und daß der Sonnenschein die Narzissen hervorlocke.
Dann öffnete sich die Tür, und ein Mann kam herein. Ich stand auf.
Kate sagte:»Onkel George, das ist Alan York.«
Er wirkte zehn Jahre jünger als seine Frau. Er hatte dichtes, gutgepflegtes graues Haar und eine rosige Gesichtsfarbe, als käme er eben aus dem Bad; als ich ihm die Hand schüttelte, fühlte sie sich weich und feucht an.
Tante Deb sagte ohne mißbilligenden Unterton:»George, Mr. York ist einer von Kates Jockeyfreunden.«
Er nickte.»Ja, Kate erzählte mir, daß Sie kommen würden. Freut mich.«
Er sah zu, als ihm Tante Deb Tee eingoß, nahm die Tasse entgegen und lächelte seiner Frau zu.
Er war für seine Größe zu dick, aber er gehörte nicht zu denen, die ihr Übergewicht am Bauch vor sich hertragen. Bei ihm war alles gut verteilt, als sei er gepolstert. Daraus ergab sich eine fröhliche Rundlichkeit. Er hatte die gutmütige Miene, wie man sie oft bei dicken Leuten findet. Trotzdem kamen mir seine Augen kalt und forschend vor.
Er stellte die Tasse ab und lächelte, und sofort verwischte sich dieser Eindruck.
«Ich bin sehr interessiert daran, Sie kennenzulernen, Mr. York«, sagte er, setzte sich und bedeutete mir, dasselbe zu tun.
Er studierte mich von Kopf bis Fuß, während er mich um meine Meinung über >Heavens Above< bat. Wir besprachen die Eigenschaften des Pferdes mit Kate; das hieß also, daß ich die meiste Zeit zu reden hatte, weil Kate nicht viel mehr wußte als in Plumpton und Onkel George vom Pferdesport soviel wie nichts verstand.
«Warum haben Sie eigentlich Ihrer Nichte ein Rennpferd geschenkt?«fragte ich.
Onkel George machte den Mund auf und wieder zu. Er blinzelte. Dann sagte er:»Ich war der Meinung, sie sollte mit mehr Menschen zusammentreffen. Sie hat hier bei uns keine jungen Leute um sich, und ich glaube, daß wir sie ein bißchen zu sehr von der Welt abgeschlossen hatten.«
Tante Deb, die dem Gespräch über Pferde gelangweilt zugehört hatte, mischte sich wieder in die Konversation.
«Unsinn«, sagte sie knapp.»Sie ist genauso aufgezogen worden wie ich, also richtig. Heutzutage läßt man den Mädchen viel zuviel Freiheit, mit dem Ergebnis, daß sie den Kopf verlieren, mit Heiratsschwindlern oder anderen Gaunern davonlaufen. Junge Mädchen brauchen eine feste Hand, wenn sie sich wie Ladies benehmen und passende, dauerhafte Ehen schließen sollen.«
Sie hatte wenigstens so viel Anstand, mich dabei nicht anzusehen. Statt dessen beugte sie sich vor und streichelte ihren Dackel.
Onkel George wechselte beinahe ein wenig zu auffällig das Thema und fragte mich, wo ich zu Hause sei.
«In Südrhodesien«, entgegnete ich.
«Tatsächlich?«meinte Tante Deb.»Wie interessant. Haben Ihre Eltern vor, sich dort für dauernd niederzulassen?«
«Sie sind beide dort geboren«, gab ich zurück.
«Und werden sie nach England kommen, um Sie zu besuchen?«fragte Onkel George.
«Meine Mutter starb, als ich zehn Jahre alt war. Vielleicht kommt mein Vater einmal, wenn er nicht zuviel zu tun hat.«
«Was tut er denn?«fragte Onkel George interessiert.
«Er ist Kaufmann«, sagte ich ausweichend. >Kaufmann<, darin war alles enthalten, vom kleinen Händler bis zu dem, was mein Vater wirklich war, der Besitzer eines der größten Unternehmen in ganz Rhodesien. Sowohl Onkel George als auch Tante Deb machten ein unbefriedigtes Gesicht, aber ich ließ mich nicht weiter aus. Es hätte Tante Deb verärgert und peinlich berührt, wenn nach ihrer kleinen Rede über Jockeys meine Aussichten und mein Stammbaum zur Sprache gekommen wären, und außerdem brachte ich es schon um Danes willen nicht fertig. Er hatte Tante Debs Snobismus ohne die mir zur Verfügung stehenden Abwehrmittel gegenübergestanden, und ich hielt mich keineswegs für besser.
Statt dessen machte ich eine bewundernde Bemerkung über die Blumendrucke an den holzgetäfelten Wänden, worüber sich Tante Deb freute, was mir aber von Onkel George einen ironischen Blick eintrug.
«Unsere Ahnen haben wir im Speisezimmer«, meinte er.
Kate stand auf.»Ich zeige Alan, wo er schläft«, sagte sie.
«Sind Sie mit dem Wagen gekommen?«fragte Onkel George. Ich nickte.»Dann lasse Mr. Yorks Wagen von Culbertson in die Garage bringen«, wandte er sich an Kate.
«Ja, Onkel George«, erwiderte Kate lächelnd.
Als wir durch die Halle gingen, um meinen Koffer aus dem Wagen zu holen, sagte Kate:»Onkel Georges Chauffeur heißt gar nicht Culbertson, sondern Higgins oder so ähnlich. Onkel George begann ihn Culbertson zu nennen, weil er Bridge spielt, und das haben wir uns dann alle angewöhnt. Nur ein Mann wie Onkel George kann einen Chauffeur haben, der Bridge spielt«, lachte sie.
«Spielt denn Onkel George Bridge?«
«Nein, er spielt weder Karten noch sonst irgend etwas. Er meint, es gibt da zu viele Regeln. Er lernt sie nicht gern und will sich vor allem nicht an sie halten.«
Ich holte meinen Koffer aus dem Wagen, und wir gingen ins Haus zurück.
«Warum haben Sie Tante Deb nicht gesagt, daß Sie Amateur und sehr reich sind?«
«Warum haben Sie’s denn nicht gesagt?«fragte ich.»Bevor ich kam.«
«Ich. Ich. äh., weil. «stotterte sie. Es fiel ihr schwer, die Wahrheit zu sagen, deswegen tat ich es für sie.
«Wegen Dane?«Sie sah mich verlegen an.
«Das ist mir ganz recht«, meinte ich leichthin.»Und ich mag Sie deshalb noch lieber. «Ich küßte sie auf die Wange. Sie lachte und lief erleichtert die Treppe hinauf.
Nach dem Mittagessen am Sonntag erhielt ich die Erlaubnis, Kate ein wenig spazierenzufahren.
Am frühen Morgen war Tante Deb mit Kate und mir in der Kirche gewesen. Culbertson fuhr uns in einem gutpolierten Daimler hm. Tante Debs Anweisung zufolge saß ich neben ihm, während sie und Kate im Fond Platz nahmen.
Während wir vor dem Haus standen und auf Tante Deb warteten, erzählte mir Kate, daß Onkel George nie zur Kirche gehe.
«Er verbringt die meiste Zeit in seinem Arbeitszimmer. Das ist der kleine Raum neben dem Frühstückszimmer«, sagte sie.»Er telefoniert stundenlang mit seinen Bekannten, und er schreibt eine Abhandlung oder etwas Ähnliches über Indianer, glaube ich, nur zum Essen kommt er heraus.«
«Ziemlich langweilig für Ihre Tante«, meinte ich und sah sie bewundernd an.
«Oh, er fährt mit ihr einmal wöchentlich nach London. Sie geht zum Friseur, und er stöbert einstweilen in der Bibliothek des Britischen Museums. Dann essen sie im Ritz, und am Nachmittag besuchen sie eine Ausstellung oder irgendeine Matineevorstellung.«
Nach dem Essen bat mich Onkel George in sein Arbeitszimmer, damit ich mir das ansehen konnte, was er seine Trophäen «nannte. Es handelte sich um eine Sammlung von Gegenständen, die von verschiedenen primitiven oder barbarischen Völkerschaften stammten und meiner Meinung nach jedem kleineren Museum zur Ehre gereicht hätten.
Zahlreiche Waffen, Schmuckstücke, Töpfereiwaren und rituelle Objekte waren hinter Glas an drei Wänden aufgereiht und genau beschriftet. Unter anderem besaß Onkel George Stücke aus Zentralafrika und den Südseeinseln, aus der Wikingerzeit und von den Maoris Neuseelands.
«Ich studiere ein Volk nach dem anderen«, erklärte er.»Seit ich mich von den Geschäften zurückgezogen habe, gibt mir das zu tun, und ich finde es sehr aufregend. Wußten Sie eigentlich, daß die Männer auf den Fidschi-Inseln Frauen wie Schlachtvieh zu mästen pflegten, um sie nachher zu verzehren?«
Seine Augen funkelten, und ich hatte den Verdacht, daß ihn vor allem die Gewalttätigkeiten dieser primitiven Völker interessierten. Vielleicht brauchte er ein Gegengewicht zu diesen Diners im Ritz.
«Was beschäftigt Sie eigentlich jetzt?«fragte ich.»Kate erwähnte etwas von Indianern.«
Er schien sich zu freuen, daß ich mich für sein Hobby interessierte.
«Ja. Ich beschäftige mich mit den Urbevölkerungen Amerikas, und zuletzt war ich bei den nordamerikanischen Indianern angelangt. Hier, sehen Sie.«
Er führte mich in eine Ecke. Die Sammlung von Federn,
Messern und Pfeilen schien aus einem Wildwestfilm zu stammen, aber ich hatte keinen Zweifel daran, daß diese Dinge echt waren. In der Mitte hing ein dichter Strang schwarzen Haars, und darunter befand sich ein Schild mit der lakonischen Aufschrift >Skalp<.
Ich drehte mich um und überraschte Onkel George, wie er mich mit geheimem Vergnügen betrachtete.
«O ja«, sagte er.»Der Skalp ist echt und erst etwa hundert Jahre alt.«
«Sehr interessant«, meinte ich unverbindlich.
«Ich verwandte ein Jahr auf die nordamerikanischen Indianer, weil es viele verschiedene Stämme gibt«, erklärte er.»Aber jetzt bin ich schon bei Zentralamerika angelangt. Als nächstes kommen die Südamerikaner an die Reihe, die Inkas und so weiter. Ich bin selbstverständlich kein Wissenschaftler, schreibe aber manchmal Artikel für verschiedene Zeitschriften. Im Augenblick verfasse ich eine Serie über Indianer für ein Knabenmagazin. «Seine dicken Wangen zitterten, als er leise vor sich hin lachte. Dann wandte er sich zur Tür.
Ich folgte ihm, blieb aber neben seinem großen, geschnitzten Schreibtisch stehen. Neben zwei Telefonapparaten und einer silbernen Federschale lagen mehrere Aktendeckel mit blaßblauen Etiketten, auf denen >Arapaho<, >Sioux<, >Navajo< und >Mohawk< zu lesen war.
Abgesondert davon lag ein Aktendeckel mit der Aufschrift >Mayas<, und ich wollte ihn aufschlagen, weil ich noch nie von einem solchen Stamm gehört hatte. Onkel George legte die Hand darauf.
«Ich habe erst damit angefangen«, meinte er entschuldigend.»Es lohnt sich noch nicht, hineinzusehen.«
«Ich habe noch nie von diesem Stamm gehört«, sagte ich.
«Das waren Indianer Zentralamerikas«, erklärte er freundlich.
«Sie hatten viele Astronomen und Mathematiker, wissen Sie. Sehr zivilisiert. Ich finde sie faszinierend. Sie entdeckten, daß Gummi elastisch ist, und machten Bälle daraus, lange bevor man Gummi in Europa kannte. «Er machte eine Pause und starrte mich an.»Möchten Sie mir helfen, die bisher gesammelten Unterlagen zusammenzustellen?«erkundigte er sich.
«Na ja. äh., äh. «stotterte ich.
Onkel Georges Wangen erzitterten wieder.»Das habe ich mir schon gedacht«, sagte er.»Sie würden lieber mit Kate eine Spazierfahrt machen.«
Um drei Uhr gingen Kate und ich also zur großen Garage hinter dem Haus.
«Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen vor einer Woche erzählt habe, wie Bill Davidson ums Leben kam?«fragte ich, als ich Kate beim Öffnen des Garagentors half.
«Wie könnte ich das vergessen?«
«Haben Sie es zufällig am nächsten Morgen jemand weitererzählt? Ich meine, es gab ja keinen Grund, warum Sie es nicht tun sollten., aber ich möchte es trotzdem gerne wissen.«
Sie runzelte die Stirn.»Ich kann mich wirklich nicht entsinnen, aber ich glaube nicht. Allerdings erzählte ich Tante Deb und Onkel George beim Frühstück davon. Sonst kommt wohl niemand in Frage. Ich dachte nicht, daß es ein Geheimnis sei.«
«Es ist auch keins«, meinte ich.»Was hat Onkel George getan, bevor er sich von seinen Geschäften zurückzog?«
«Zurückzog?«meinte sie.»Ach, das ist nur ein Spaß von ihm. Er trat schon mit dreißig Jahren in den Ruhestand, als er von seinem Vater ein großes Vermögen geerbt hatte. Lange Zeit hindurch unternahmen Tante Deb und er alle drei Jahre eine Weltreise, wobei sie diese gräßlichen Sachen sammelten, die er Ihnen im Arbeitszimmer gezeigt hat. Was halten Sie davon?«
Ich machte ein ablehnendes Gesicht. Sie lachte.»Genau das denke ich auch, aber ich zeige es ihm nie. Er hängt so dran.«
Bei der Garage handelte es sich um eine umgebaute Scheune. Die vier Autos in einer Reihe hatten genug Platz. Der Daimler, ein neues cremefarbenes Kabriolett, mein Lotus und eine alte schwarze Limousine.
«Den alten Wagen nehmen wir zum Einkaufen im Dorf«, sagte Kate.»Dieses herrliche Kabriolett gehört mir. Onkel George schenkte es mir vor einem Jahr, als ich von der Schweiz zurückkam. Ist das nicht ein phantastischer Wagen?«
«Können wir mit ihm fahren, statt mit dem meinen?«fragte ich.»Es wäre mir sehr lieb, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Sie war erfreut, schlug das Verdeck zurück und band sich ein blauseidenes Kopftuch um. Dann fuhren wir hinaus in die Sonne, die Auffahrt hinunter und die Straße entlang zum Dorf.
«Wo wollen wir hin?«fragte sie.
«Ich möchte nach Steyning«, erwiderte ich.
«Das ist aber eine merkwürdige Wahl«, sagte sie.»Warum nicht zum Meer?«
«Ich möchte einen Farmer in Washington bei Steyning aufsuchen, um ihn nach seinem Pferdetransporter zu fragen«, gab ich zurück. Und ich erzählte ihr, wie ein paar Männer in einem solchen Wagen mich recht nachdrücklich aufgefordert hatten, keine Fragen mehr über Bills Tod zu stellen.
«Das Transportfahrzeug gehört diesem Farmer in Washington«, schloß ich.»Ich möchte ihn fragen, wer es sich am letzten Samstag ausgeliehen hat.«
«Du lieber Himmel«, sagte Kate.»Das ist aber aufregend. «Und sie fuhr ein wenig schneller.
Es waren zehn Meilen nach Washington. Wir erreichten den Ort und hielten an; ich fragte ein paar Kinder, die auf dem Nachhauseweg von der Sonntagsschule waren, wo Farmer
Lawson wohnte.
«Da oben«, sagte ein großes Mädchen und deutete hinauf.
>Da oben< erwies sich als eine gutgeführte Farm mit einem schönen, alten Bauernhof und einer neu errichteten Scheune. Kate fuhr in den Hof und hielt, und wir gingen durch eine kleine Gartentür zum Haus.
Wir läuteten, und nach einiger Zeit wurde die Tür geöffnet. Ein jüngerer, gutaussehender Mann mit einer Zeitung in der Hand sah uns fragend an.
«Könnte ich bitte Mr. Lawson sprechen?«sagte ich.
«Ich bin Lawson«, erwiderte er, gähnend.
«Ist das Ihre Farm?«fragte ich.
«Ja. Was kann ich für Sie tun?«Er gähnte wieder.
Ich sagte, wie ich gehört hätte, vermiete er einen Pferdetransportwagen. Er rieb sich die Nase und sah uns eine Weile an, dann sagte er:»Er ist schon sehr alt, und es kommt darauf an, wann Sie ihn brauchen.«
«Könnten wir ihn uns einmal ansehen?«
«Ja«, sagte er.»Einen Augenblick. «Er ging ins Haus, und wir hörten, wie er mit einer Frau sprach. Dann kam er ohne Zeitung zurück.
«Er steht hier«, sagte er und ging voraus. Der Transportwagen stand im Freien, nur von dem in der Scheune aufge schütteten Heu geschützt. APX 708. Mein alter Bekannter.
Dann erklärte ich Lawson, daß ich den Wagen nicht mieten wollte, sondern nur gern gewußt hätte, wer ihn vor einer Woche gemietet hatte. Weil ihm diese Frage merkwürdig vorkam, und er uns abzuschieben versuchte, erklärte ich ihm auch, warum mich das interessierte.
«Das kann nicht mein Wagen gewesen sein«, sagte er sofort.
«Er war es aber.«
«Ich habe ihn vor acht Tagen an keinen Menschen vermietet. Er stand den ganzen Tag hier.«
«Er ist in Maidenhead gewesen«, erklärte ich hartnäckig.
Er starrte mich beinahe eine Minute lang an. Dann meinte er:»Wenn Sie recht haben, hat ihn jemand genommen, ohne daß ich davon wußte. Ich war mit meiner Familie übers Wochenende in London.«
«Wie viele Leute wußten, daß Sie fort waren?«fragte ich.
Er lachte.»Ungefähr zwölf Millionen, denke ich. Wir nahmen am Freitagabend an einer der Familien-Quiz-Sendungen im Fernsehen teil. Meine Frau, mein ältester Sohn, meine Tochter und ich. Der Jüngste durfte nicht mitmachen, weil er erst zehn ist. Er war furchtbar wütend. Meine Frau sagte während der Sendung, daß wir am Samstag den Zoo und am Sonntag den Tower besuchen würden und vor Montag nicht zu Hause sein könnten.«
Ich seufzte.»Und seit wann wußten Sie, daß Sie an der QuizSendung teilnehmen würden?«
«Schon ein paar Wochen vorher. Es stand auch in den Zeitungen. Ich hatte mich eigentlich ein bißchen darüber geärgert. Es ist ja nicht gut, wenn jeder Landstreicher weiß, daß man nicht zu Hause ist. Natürlich waren meine Knechte hier, aber das ist nicht dasselbe.«
«Könnten Sie sie fragen, ob sie gesehen haben, wie jemand Ihren Wagen nahm?«
«Das könnte ich schon. Es ist ja bald Melkzeit. Aber ich glaube, daß Sie das Kennzeichen falsch abgelesen haben.«
«Haben Sie einen braunen Vollblüter mit einem weißen Flecken auf der Stirn, einem Hängeohr und dichtem Schweif?«
Seine Skepsis verschwand sofort.»Ja, den hab ich. Er steht drüben im Stall.«
Wir sahen ihn uns an. Es war das Pferd, das Bert auf und ab geführt hatte.
«Ihre Leute müssen ihn aber doch vermißt haben, als sie ihn am Abend füttern wollten?«fragte ich.
«Mein Bruder, der in der Nähe wohnt, borgt ihn sich aus, wenn er ihn braucht. Die Leute nahmen eben an, der wäre bei ihm. Ich werde sie fragen.«
«Würden Sie sich auch erkundigen, ob sie im Wagen eine Krawatte gefunden haben?«sagte ich.»Ich würde zehn Schilling geben, wenn ich sie wiederbekommen würde.«
«Ich frage sie«, versprach Lawson.»Kommen Sie doch einstweilen ins Haus.«
Er führte uns durch die Hintertür einen gepflasterten Gang entlang in ein gemütliches Wohnzimmer und verschwand. Von irgendwoher hörte man die Stimmen seiner Familie und das Klappern von Geschirr.
Nach einiger Zeit kam Lawson zurück.»Es tut mir sehr leid«, sagte er.»Meine Leute dachten, das Pferd sei bei meinem Bruder; keinem ist aufgefallen, daß der Wagen fort war. Auch Ihre Krawatte hat man nicht gefunden.«
Ich bedankte mich herzlich bei ihm, und er sagte, ich solle ihm mitteilen, wer seinen Wagen genommen habe, wenn sich das feststellen ließe.
Kate und ich fuhren zum Meer. Ab Worthing rollten wir die Küstenstraße in östlicher Richtung entlang. Der Salzgeruch war erfrischend. Wir kamen an den neuen Siedlungen von Worthing vorbei, an den Hafenanlagen und Elektrizitätswerken von Shoreham, Southwick und Portslade und erreichten schließlich die lange Promenade in Brighton. Kate steuerte den Wagen auf einen Platz in der Stadt und hielt.
«Gehen wir zum Meer hinunter«, sagte sie.
Wir überquerten die Straße, stiegen ein paar Stufen hinab und schritten über den Kies zum Sandstrand. Kate zog ihre Schuhe aus und schüttelte die kleinen Steine heraus. Die Sonne schien warm; es war Ebbe. Wir wanderten etwa eine Meile am Strand entlang, dann kehrten wir um. Es war ein herrlicher Nachmittag.
Als wir Hand in Hand die Straße zu Kates Wagen hinaufgingen, sah ich zum erstenmal, daß sie ihn nur etwa hundert Meter vom Pavillon-Plaza-Hotel geparkt hatte, wohin ich vor zehn Tagen mit Clifford Tudor gefahren war.
Man braucht den Teufel nur an die Wand zu malen, dachte ich. Da war er schon. Der massive Mann stand auf der Eingangstreppe und sprach mit dem livrierten Portier.
Kurz bevor wir Kates Wagen erreichten, fuhr ein Taxi an uns vorbei und hielt vor dem Pavillon Plaza. Es war ein schwarzes Taxi mit gelbem Wappen an der Tür, und diesmal konnte ich den Namen lesen: >Marconicars<. Ich sah mir den Fahrer an. Er hatte eine lange Nase und ein fliehendes Kinn; er war mir nie begegnet.
Clifford Tudor sagte noch etwas zu dem Portier, marschierte dann die Treppe hinunter und stieg in das Taxi, ohne dem Chauffeur überhaupt mitzuteilen, wohin er fahren wollte. Das Taxi brauste davon.
«Wohin sahen Sie eigentlich?«sagte Kate.
«Es ist nichts Besonderes«, antwortete ich.»Ich erzähle es Ihnen, wenn Sie mit mir im Pavillon Plaza-Hotel Tee trinken wollen.«
«Da ist es stocklangweilig«, sagte sie.»Tante Deb wäre damit einverstanden.«
«Ich muß wieder ein bißchen Detektiv spielen«, erklärte ich.
«Also gut. Haben Sie Ihr Vergrößerungsglas zur Hand?«
Wir betraten das Hotel. Kate entschuldigte sich für einen Augenblick, um ihre Frisur zu ordnen. Ich fragte das junge Mädchen an der Rezeption, ob sie wisse, wo ich Clifford Tudor finden könne.
Sie strahlte mich an, und ich grinste ermutigend.
«Sie haben ihn leider eben verfehlt«, erwiderte sie.»Er ist in seine Wohnung zurückgefahren.«
«Kommt er oft hierher?«fragte ich.
Sie sah mich überrascht an.»Ich dachte, Sie wüßten Bescheid. Er sitzt im Aufsichtsrat und ist einer der größten Aktionäre. Das Ganze hier gehört ihm fast alleine, und er hat mehr zu reden als der Geschäftsführer, wie es zu leiten ist.«
«Hat er einen Wagen?«fragte ich.
Die Frage war ziemlich seltsam, aber das Mädchen schnatterte unbeirrt weiter.»Ja, er hat einen riesengroßen Wagen mit viel Chrom. Große Klasse. Aber er benützt ihn natürlich nicht. Meistens fährt er mit den Taxis. Gerade vor ein paar Minuten habe ich eines von diesen Funktaxis für ihn gerufen. Sie sind wirklich sehr brauchbar. Man ruft nur die Zentrale an, und von dort wird die Nachricht an das in nächster Nähe befindliche Taxi weitergegeben. Alle unsere Gäste bedienen sich.«
«Mavis!«
Das geschwätzige Mädchen verstummte und sah sich schuldbewußt um. Eine ernste, junge Frau war aufgetaucht.
«Danke für die Vertretung, Mavis. Du kannst jetzt gehen«, sagte sie. Mavis lächelte mir zu und verschwand.
«Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?«Sie war sehr höflich, aber offensichtlich nicht zum Klatschen aufgelegt.
«Äh — können wir Tee haben?«fragte ich.
Sie sah auf die Uhr.»Es ist schon ein bißchen spät, aber Sie können sich ins Foyer setzen, wo Sie der Ober bedienen wird.«
Kate betrachtete kurze Zeit später die Brötchen mit Fischpaste und machte ein saures Gesicht.»Das gehört wohl zu den Gefahren im Leben eines Detektivs?«meinte sie.»Was haben Sie eigentlich herausgefunden?«
Ich sagte, ich sei mir nicht ganz sicher, aber ich interessiere mich für alles, was mit den Taxis oder Bills Tod auch nur
entfernt in Verbindung stünde. Und das sei bei Clifford Tudor nun einmal der Fall.
«Bestimmt nichts dran«, sagte Kate kurz und bündig.
Ich seufzte.»Ich glaube es auch nicht.«
«Was kommt jetzt?«
«Wenn ich herausfinden könnte, wem die Taxis mit den gelben Wappen gehören.«
«Wir rufen einfach an und fragen«, sagte Kate und erhob sich. Wir gingen zur Telefonzelle und suchten die Nummer heraus.
«Ich mach das«, erklärte sie.»Ich werde sagen, daß ich eine Beschwerde vorzubringen hätte und dem Inhaber selbst schreiben möchte.«
Sie wählte die Nummer der Taxizentrale und gab eine herrliche Vorstellung; sie verlangte die Namen und Adressen der Eigentümer, Geschäftsführer und Anwälte. Schließlich legte sie den Hörer auf und sah mich mißmutig an.
«Man wollte mir nichts sagen«, beklagte sie sich.»Der Mann war ja wirklich geduldig. Er ließ sich nicht einmal aus der Ruhe bringen, als ich unhöflich wurde, aber er sagte nur immer wieder: >Bitte schreiben Sie uns in allen Einzelheiten, und wir werden Ihre Beschwerde untersuchen. < Er sagte, es sei bei der Firma nicht üblich, die Namen der Eigentümer bekanntzugeben, und er besitze jedenfalls keine Ermächtigung dazu. Er gab nicht einen Zentimeter nach.«
«Schon gut. Sie haben es jedenfalls prima gemacht. Ich dachte mir schon, daß wir nichts erfahren werden. Aber das bringt mich auf eine Idee. «Ich rief das Polizeirevier in Maidenhead an und fragte nach Inspektor Lodge. Er sei nicht im Dienst, hieß es. Ob ich eine Nachricht zu hinterlassen wünsche.
«Hier ist Alan York«, sagte ich.»Würden Sie bitte Inspektor Lodge fragen, ob er feststellen kann, wem die Marconicar-Funktaxis in Brighton gehören. Er weiß schon, worum es sich handelt. «Die Stimme aus Maidenhead erklärte, daß man Inspektor Lodge am nächsten Morgen verständigen würde, aber man könne nichts versprechen. Ich bedankte mich und hängte ein.
Kate stand in der Telefonzelle ganz nahe bei mir. Ich küßte sie sanft. Ihre Lippen waren weich. Sie legte die Hände auf meine Schultern, sah mir in die Augen und lächelte. Ich küßte sie wieder.
Ein Mann öffnete die Tür zur Zelle. Er lachte, als er uns sah.»Entschuldigen Sie., ich möchte telefonieren.«
Verwirrt verließen wir die Kabine.
Ich sah auf die Uhr. Es war beinahe halb sieben Uhr.
«Wann erwartet uns Tante Deb zurück?«fragte ich.
«Abendessen um acht Uhr. Bis dahin haben wir Zeit«, sagte Kate.»Schauen wir uns noch ein bißchen die Schaufenster an.«
Wir gingen langsam durch die Seitenstraßen Brightens, blieben vor jeder hellerleuchteten Auslage stehen und bewunderten sie. Und in einigen verschwiegenen Ecken setzten wir das fort, wobei wir in der Telefonkabine unterbrochen worden waren.
Kates Küsse waren süß und jungfräulich. Sie zeigte sich unerfahren, und obwohl sie ab und zu in meinen Armen zitterte, spürte ich keine Leidenschaft. Als wir uns in einer der Straßen gerade überlegten, ob wir umkehren sollten, wurde hinter uns Licht eingeschaltet. Wir sahen uns um. Der Besitzer der >Blue Duck< öffnete eben sein Lokal. Es sah sehr gemütlich aus.
«Wie wär’s mit einem kleinen Schluck, bevor wir heimfahren?«schlug ich vor.
«Einverstanden«, sagte Kate. Und auf diese zufällige Art taten wir den entscheidendsten Schritt an diesem Nachmittag.
Wir betraten die >Blue Duck<