Das Pferdesport-Festival von Cheltenham begann am Dienstag, dem zweiten März.
Drei Tage erstklassigen Rennsports; die besten Hindernispferde der Welt drängten sich in den Rennbahnstallungen. Mit dem Flugzeug und per Schiff kamen sie aus Irland: Außenseiter aus den Mooren, von deren sicherem Gang man sich Wunderdinge erzählte, und berühmte Tiere, die auf der grünen Insel Preise und Pokale in rauhen Mengen gewonnen hatten. Pferdetransportwagen aus Schottland, aus Kent, aus Devon kamen in Gloucestershire an. Sie brachten Grand-National-Sieger, Champion-Sprungpferde, die Aristokraten unter den Hindernisspezialisten.
Jeder Amateurjockey, der ein Pferd erbetteln, ausleihen oder kaufen konnte, fand sich ein, da in diesen drei Tagen allein vier große Rennen nur für sie reserviert waren. Es war eine Ehre, in Cheltenham zu reiten, ein unvergeßliches Erlebnis, in Cheltenham zu siegen.
Aber ein Amateurjockey, Alan York, war gar nicht begeistert, als er auf dem Parkplatz vor der Rennbahn ankam. Ich konnte es mir selbst nicht erklären, aber zum zweitenmal rührte mich das Gemurmel der Zuschauer, die erwartungsvollen Gesichter, der Sonnenschein an diesem kühlen Märzmorgen, ja selbst die Aussicht, drei gute Pferde reiten zu können, nicht an.
Vor dem Haupteingang entdeckte ich den Zeitungsverkäufer, mit dem ich in Plumpton gesprochen hatte. Er war ein kleiner, stämmiger Cockney mit gewaltigem Schnurrbart und freundlichem Wesen. Er sah mich kommen und hielt mir eine Zeitung entgegen.
«Guten Morgen, Mr. York«, sagte er.»Kann man heute auf Ihr Pferd setzen?«
«Ein paar Schillinge schon«, erwiderte ich,»aber man muß auf den Iren aufpassen.«
«Sie schaffen es schon.«
«Na, das hoffe ich. «Ich wartete, während er einen Kunden bediente, dann sagte ich:»Erinnern Sie sich an die Schlägerei der Taxichauffeure in Plumpton?«
«So etwas vergißt sich nicht so leicht«, meinte er strahlend.
«Sie haben mir erzählt, daß eine Gruppe von London und die andere von Brighton kam.«
«Ja, das stimmt.«
«Und welche war denn welche?«fragte ich. Er sah mich verständnislos an.
«Welche Gruppe kam aus London und welche aus Brighton?«
«Ach so. «Er verkaufte eine Zeitung an zwei ältere Damen in Tweedkostümen und dicken Wollstrümpfen. Dann drehte er sich wieder um.»Hm. ich sehe die Kerle ziemlich oft, wissen Sie, aber sie sind sehr unfreundlich. Man kann nicht mit ihnen reden. Das ist ganz anders als bei den Privatchauffeuren. Ich könnte die Leute aus Brighton schon herausfinden, wenn ich sie sähe. «Er brach ab, brüllte mit Stentorstimme» Sonderausgabe«, worauf er wieder drei Zeitungen verkaufte. Ich wartete geduldig.
«Wie erkennen Sie diese Leute?«fragte ich.
«An den Gesichtern natürlich. «Er hielt die Frage für albern.
«Ja, aber welche Gesichter? Können Sie sie beschreiben?«
«Ach so, ich verstehe. Da gibt es alle möglichen Sorten.«
«Können Sie nicht wenigstens eines beschreiben?«
Er dachte scharf nach und zerrte an seinem Schnurrbart.»Nun, da gibt es einen Kerl mit Schlitzaugen, der recht unangenehm wirkt. In seinem Taxi möchte ich lieber nicht
fahren. Er hat eine sehr niedrige Stirn. Die Haare wachsen ihm beinahe bis zu den Augenbrauen hinunter. Wozu brauchen Sie ihn eigentlich?«
«Ich brauche ihn nicht«, sagte ich.»Ich möchte nur wissen, wo er herkommt.«
«Aus Brighton, genau. «Er strahlte mich an.»Manchmal ist mir auch ein anderer aufgefallen. Ein junger Bursche mit langen Koteletten. Er säubert sich dauernd mit einem Messer die Fingernägel.«
«Recht vielen Dank«, sagte ich. Ich gab ihm eine Pfundnote. Er grinste breit und steckte sie in eine Innentasche.
«Viel Glück, Sir«, sagte er. Ich ging in den Wiegeraum und dachte darüber nach, daß meine Freunde mit dem Pferdetransportwagen aus Brighton stammten. Ihr Auftraggeber konnte ja nicht wissen, daß ich sie schon einmal gesehen hatte.
Ich war so in Gedanken versunken gewesen, daß ich jetzt erst Pete Gregorys Stimme hörte.»… hatten unterwegs eine Reifenpanne, aber sie sind sicher angekommen, das ist die Hauptsache. Hörst du eigentlich zu, Alan?«
«Ja, Pete. Entschuldige. Ich habe nachgedacht.«
«Freut mich, daß du das kannst«, meinte Pete und lachte schallend. So ausgekocht und geschickt er sonst war, sein Sinn für Humor blieb der eines Schuljungen. Aber man gewöhnte sich daran.
«Wie geht es >Palindrome«fragte ich. Mein bestes Pferd.
«Sehr gut. Ich habe dir doch gerade erzählt, daß sie eine Reifenpanne. «Er brach ab.»Na ja., willst du mit zum Stall gehen und ihn dir ansehen?«
«Ja, gerne«, sagte ich.
Wir gingen zu den Stallungen. Wegen der strengen Vorschriften mußte mich Pete begleiten. Nicht einmal die Besitzer durften ohne den Trainer zu ihren Pferden, und die
Stallburschen mußten an den Eingängen Ausweise vorzeigen. Das Ganze diente dazu, Doping-Versuche zu unterbinden.
Ich tätschelte mein Pferd, einen herrlichen, acht Jahre alten Braunen mit schwarzen Flecken, und gab ihm ein Stück Zucker. Pete schnalzte mißbilligend mit der Zunge und meinte:»Nicht vor dem Rennen«, wie ein Kindermädchen, das entdeckt hat, daß man seinem Schützling vor dem Essen Süßigkeiten zusteckt. Ich grinste.
«Zucker schafft Energie«, sagte ich, gab >Palindrome< noch ein Stück und streichelte ihn.»Er sieht gut aus.«
«Er müßte gewinnen, wenn du genau aufpaßt«, sagte Pete.»Du darfst diesen Iren nicht aus den Augen lassen. Wenn ihr an den Wassergraben kommt, wird er plötzlich davonschießen, damit er den Hügel mit einem Vorsprung von sechs Längen erreicht. Das probiert er jedesmal. Er läßt sich dann von den anderen den Hügel hinaufhetzen, bis sie keine Kraft mehr fürs Finish haben. Entweder spurtest du mit ihm und gehst mit seinem Tempo den Hügel an, oder, wenn er ausreißt, dann nimmst du den Hügel ohne besonders großes Tempo und gibst Fahrt zu, wenn du auf der anderen Seite wieder herunterkommst. Klar?«
«Wie Glas«, sagte ich. Was immer man auch von Petes Witzen halten mochte, seine Beratung über die Taktik beim Rennen war unschätzbar, und ich verdankte ihm viel.
Ich tätschelte >Palindrome< noch einmal, und wir traten auf den Vorplatz hinaus. Dank der strengen Vorschriften war das die ruhigste und einsamste Stelle der ganzen Rennbahn.
«Pete, weißt du, ob Bill in Schwierigkeiten war?«fragte ich plötzlich.
Er schloß die Tür zu >Palindromes< Abteil, drehte sich um und starrte mich an.
Nach einer Weile sagte er:»Das ist ein großes Wort, Schwierigkeiten. Es hat etwas gegeben.«
«Was denn?«fragte ich, als er wieder verstummte.
Er gab mir keine Antwort und fragte statt dessen:»Wie kommst du auf die Idee, daß er in. Schwierigkeiten gewesen sein könnte?«
Ich erzählte ihm von dem Draht. Er hörte ruhig zu.
«Warum haben wir bisher nichts davon erfahren?«
«Ich verständigte Sir Creswell Stampe und die Polizei, schon vor einer Woche«, erwiderte ich,»aber da der Draht fehlt, lassen sie die Sache auf sich beruhen.«
«Aber du willst das nicht tun?«meinte Pete.»Das ist ganz begreiflich. Ich kann dir leider nicht viel helfen. Ich weiß nur das eine. Bill erzählte mir, daß er einen Anruf erhalten hätte, den er sehr lächerlich fände. Aber ich hörte ihm nicht aufmerksam zu — dachte über meine Pferde nach, du weißt ja, wie es ist. Irgendwie war von einem Sturz >Admirals< die Rede. Er hielt das Ganze für einen Witz, und ich war nicht so interessiert, daß ich mich näher erkundigt hätte. Als Bill ums Leben kam, fragte ich mich, ob nicht doch etwas faul gewesen wäre, aber ich erkundigte mich bei dir, und du sagtest, dir sei nichts aufgefallen.«
«Ja, es tut mir leid«, sagte ich.»Wann hat Bill eigentlich von dem Anruf erzählt?«
«Als ich das letztemal mit ihm sprach«, sagte Pete.»Am Freitagmorgen, kurz bevor ich nach Irland flog. Ich rief ihn an, um ihm mitzuteilen, daß für >Admirals< Start am nächsten Tag in Maidenhead alles vorbereitet sei.«
Wir gingen zum Wiegeraum zurück. Einem plötzlichen Einfall folgend fragte ich:»Pete, benützt du eigentlich die Brighton-Taxis?«
«Nicht sehr oft«, erwiderte er.»Warum?«
«Es gibt da ein paar Taxichauffeure, mit denen ich mich gerne einmal unterhalten hätte«, murmelte ich.
«In Brighton existieren meines Wissens mehrere Taxiunternehmen«, sagte er.»Wenn du einen ganz bestimmten Chauffeur finden willst, warum versuchst du es denn nicht am Bahnhof? Von dort aus habe ich immer ein Taxi genommen. Sie warten dort in Scharen auf die Züge aus London. «Seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als ein irisches Pferd vorbeigeführt wurde.
«Das ist >Connemara Pal<«, sagte Pete neidisch.»Ich bin mit einem von den Stallbesitzern im August vorigen Jahres hinübergefahren, um ihn zu kaufen, aber sie verlangten achttausend. Er war in einer halbverfallenen Hütte hinter einem Schweinestall untergebracht, und deswegen wollte der Käufer diesen Betrag nicht bezahlen. Und schau ihn dir jetzt an. Er hat das Hauptrennen in Leopardstown gewonnen, noch dazu mit zwanzig Längen Vorsprung und ohne sich anzustrengen.«
Im Wiegeraum suchte ich Clem, der sehr viel zu tun hatte, überprüfte mit ihm meine Ausrüstung und ließ feststellen, wieviel Gewicht ich auf >Palindrome< zu bringen hatte.
Kate hatte mir gesagt, daß sie nicht nach Cheltenham kommen würde, deshalb wollte ich zumindest etwas über sie hören.
Dane hatte seinen Umkleideplatz im kleineren der beiden Räume, und er saß nur einen Platz vom Ofen entfernt, ein sicheres Zeichen für sein Ansehen in der Welt der Jockeys. Anfänger müssen in der Nähe der Türen die Zugluft ertragen.
Dane zog gerade seine Nylonstrümpfe an. In beiden Füßen befanden sich große Löcher, aus denen seine Zehen hervorragten.
«Du hast gut lachen«, knurrte Dane.»Für meine Größe werden eben keine Nylons hergestellt.«
«Laß dir doch von Walter dehnbare besorgen«, riet ich ihm.»Hast du heute viel zu tun?«
«Drei Rennen, einschließlich des Championats«, sagte Dane.
«Pete läßt den halben Stall starten. «Er grinste mich an.»Vielleicht habe ich gerade noch genug Zeit, dir von den Penns zu erzählen, wenn du darauf hinauswillst. Soll ich mit Onkel George anfangen oder mit Tante Deb — oder mit. «Er zog seine Seidenbreeches und die Reitstiefel an. Walter, sein Bursche, gab ihm die Jacke.». oder möchtest du etwas über Kate hören?«meinte Dane.
Der Umkleideraum wurde voll. Dane und ich gingen hinaus in den Wiegeraum, wo man wenigstens noch sein eigenes Wort verstand.
«Onkel George ist eine Wucht. Ich erzähle dir aber nichts von ihm, das wäre wirklich zu schade. Tante Deb ist für dich und mich die ehrenwerte Mrs. Penn, und Tante Deb nur für Kate. Sie hat so eine Art eisigen Charme, mit dem sie dir deutlich verrät, daß sie ausgesprochen unhöflich wäre, wenn nicht ihre Vornehmheit dagegen spräche. Sie war nicht mit mir einverstanden. Ich glaube, sie mißbilligt alles, was mit Rennsport zusammenhängt, einschließlich >Heavens Above< und Onkel Georges Vorstellungen von einem Geburtstagsgeschenk.«
«Los, weiter«, drängte ich.
«Ach ja, Kate. Die einmalige, wunderbare Kate. Eigentlich heißt sie ja nur Kate Ellery. Nichts von Penn. Onkel George fügte Bindestrich und Penn hinzu, als er sie aufnahm. Er sagte, es wäre einfacher für sie, wenn sie denselben Namen trüge wie er — man könne sich viele Fragen ersparen. Das stimmt wohl auch«, sagte Dane nachdenklich, denn er wußte sehr wohl, daß er mich auf die Folter spannte. Er grinste plötzlich.»Sie schickt dir liebe Grüße.«
Die Welt schien etwas heller zu werden.
«Danke«, sagte ich und versuchte, ein albernes Lächeln zu unterdrücken, was mir nicht ganz gelang. Dane sah mich fragend an, aber ich wechselte das Thema. Wir sprachen über den Rennsport, und nach einer Weile fragte ich ihn, ob Bill
Davidsons Name im Zusammenhang mit irgendwelchen seltsamen Vorkommnissen genannt worden sei.
«Nein, ich habe nie etwas gehört«, erklärte er entschieden.
Ich erzählte ihm von dem Draht. Seine Reaktion war typisch für ihn.»Armer Bill«, sagte er zornig.»Armer alter Bill. Das ist doch nicht zufassen!«
«Wenn du also etwas hörst, was auch nur ganz entfernt von Bedeutung sein könnte.«
«Ich gebe es an dich weiter«, versprach er.
In diesem Augenblick prallte Joe Nantwich mit Dane zusammen, als hätte er ihn nicht gesehen. Er trat einen Schritt zurück, ohne sich zu entschuldigen, und marschierte dann in den Umkleideraum. Seine Augen hatten einen glasigen Blick.
«Er ist betrunken«, sagte Dane ungläubig.»Er stinkt wie eine ganze Schnapsfabrik.«
«Er hat so seine Sorgen«, meinte ich.
«Er wird bald noch ein paar mehr haben. Warte nur, bis einer von der Rennkommission in seine Nähe kommt.«
Joe tauchte neben uns auf. Es stimmte: er trug eine gewaltige Fahne vor sich her. Ohne Vorrede wandte er sich direkt an mich.
«Ich habe wieder eine Warnung bekommen. «Er nahm einen Zettel aus der Tasche. Der Text lautete: >bolingbroke. diese WOCHE<.
«Wann hast du den Brief bekommen?«fragte ich.
«Er lag schon hier, als ich ankam, in meinem Fach.«
«Du hast in der Zwischenzeit ganz schön getankt«, sagte ich.
«Ich bin nicht betrunken«, erwiderte Joe indigniert.»Ich habe mir nur schnell in der Bar ein paar Doppelte genehmigt.«
Dane und ich hoben die Brauen. Die Bar gegenüber dem Wiegeraum war vorne offen, und jeder, der dort zu trinken pflegte, konnte von allen Trainern, Rennstallbesitzern und
Kommissionsmitgliedern gesehen werden. Es gab vielleicht für einen Jockey noch einen einfacheren Weg, beruflich Selbstmord zu begehen, als dort vor dem ersten Rennen ein paar Schnäpse zu sich zu nehmen, aber er fiel mir im Augenblick nicht ein. Joe wurde vom Schluckauf geschüttelt.
Dane nahm mir den Zettel aus der Hand und sah ihn sich an.»Was heißt denn das, >Bolingbroke<. Diese Woche? Warum regst du dich denn so auf?«
Joe entriß ihm das Blatt und stopfte es in die Tasche. Zum erstenmal schien ihm aufgegangen zu sein, daß Dane zugehört hatte.
«Das geht dich einen Dreck an«, fauchte er. Er wandte sich wieder an mich und sagte:»Was soll ich bloß tun?«
«Reitest du heute?«fragte ich.
«Ich trete im vierten und im letzten Rennen an. Diese verdammten Amateure haben heute zwei Rennen ganz für sich. Eigentlich eine Frechheit, nicht wahr, daß uns nur vier Rennen bleiben, damit wir unseren Unterhalt verdienen können? Warum begnügen sich diese Angeber nicht mit ihren Querfeldeinrennen?«
Dane lachte. Joe war nicht so betrunken, daß er nicht gemerkt hätte, vor wem er sich hier ausließ. Mit weinerlicher Stimme fügte er hinzu:»Ich habe dich doch nicht persönlich gemeint, Alan.«
«Wenn du trotz deiner Meinung über Amateurjockeys von mir einen Rat annehmen willst«, erwiderte ich,»dann trinkst du jetzt drei Tassen Kaffee und läßt dich solange wie möglich nicht blicken.«
«Ich meine doch, was ich wegen dieses Zettels unternehmen soll?«
«Ich würde mich überhaupt nicht darum kümmern«, meinte ich.»Ich glaube, daß das Ganze nicht ernstgemeint ist.
Vielleicht weiß der Absender, daß du deine Sorgen gern in Whisky ertränkst. Er verläßt sich wohl darauf, daß du dich selber erledigst, ohne daß er mehr zu tun hätte, als Drohbriefe zu schicken.«
«Das kann man mit mir aber nicht machen«, knurrte Joe wütend. Er wankte zur Tür hinaus, anscheinend auf der Suche nach schwarzem Kaffee. Bevor Dane mich fragen konnte, was hier gespielt wurde, schlug ihm Sandy Mason, der Joe angewidert nachsah, kräftig auf die Schulter.
«Was ist denn mit dem blöden Kerl los?«fragte er, wartete die Antwort aber gar nicht ab. Er sagte:»Hör zu, Dane, klär mich doch mal über Gregorys Pferd auf, das ich im ersten Rennen reite. Soviel ich weiß, habe ich es zuvor noch nicht gesehen. Vielleicht gefällt dem Besitzer mein rotes Haar.«
«Mach ich«, sagte Dane. Sie besprachen die Meriten des Pferdes, und ich wollte mich entfernen. Aber Dane berührte mich am Arm.
«Bist du einverstanden, wenn ich anderen Leuten, zum Beispiel Sandy hier, von dem Draht erzähle?«
«Ja, tu das. Vielleicht erfährst du bei irgendeinem etwas, das mir weiterhilft. Aber sei vorsichtig. «Ich überlegte, ob ich ihm von meinem Erlebnis mit dem Transportwagen erzählen sollte, aber das war eine lange Geschichte, deshalb fügte ich nur hinzu:»Vergiß nicht, daß du dabei jemandem auf die Zehen treten kannst, der keine Skrupel hat, Mißliebige auszuschalten.«
Er sah mich überrascht an.»Ja, du hast recht. Ich paß schon auf.«
Wir wandten uns wieder Sandy zu.
«Warum seid ihr denn beide so ernst? Hat jemand das hübsche Mädchen geklaut, auf das ihr so scharf seid?«fragte er.
«Es handelt sich um Bill Davidson«, sagte Dane.
«Was ist denn mit ihm?«
«Der Sturz, bei dem er ums Leben kam, ist durch einen über das Hindernis gespannten Draht verursacht worden. Alan hat es gesehen.«
Sandy machte ein bestürztes Gesicht.»Alan hat es gesehen«, wiederholte er, und als ihm die Bedeutung dieser Worte aufging, flüsterte er:»Aber das ist ja Mord.«
Ich erklärte ihm, aus welchen Gründen ein Mord nicht beabsichtigt gewesen sein konnte.»Da hast du wahrscheinlich recht«, sagte er.»Was willst du unternehmen?«
«Er versucht, herauszubekommen, was hinter der ganzen Sache steckt«, erklärte ihm Dane.»Wir dachten, du könntest ihm vielleicht helfen. Hast du irgend etwas gehört, was eine Erklärung dafür sein könnte? Die Leute sprechen ja über allerhand.«
«Ja, aber meistens über ihre Freundinnen, über Wetteinsätze und so weiter. Allerdings nicht Major Davidson. Wir waren nicht gerade enge Freunde, weil er glaubte, ich hätte ein Pferd stehenlassen, das einem seiner Bekannten gehörte. Na ja«, meinte Sandy mit ansteckendem Grinsen,»vielleicht habe ich das auch wirklich getan. Jedenfalls kam es zwischen ihm und mir vor ein paar Monaten zu einer kleinen Auseinandersetzung.«
«Du kannst aber wenigstens nachforschen, ob deine Buchmacherfreunde irgendwelche Gerüchte aufgeschnappt haben«, schlug Dane vor.»Denen entgeht so leicht nichts.«
«Okay«, sagte Sandy.»Ich geb’s weiter, dann werden wir schon sehen, was dabei herauskommt. Komm jetzt, wir haben nicht mehr viel Zeit bis zum ersten Rennen, und ich möchte wissen, was dieser Gaul für Tücken hat. «Als Dane zögerte, meinte er:»Na los, du brauchst nichts zu verheimlichen. Gregory bittet mich nur, für ihn zu reiten, wenn er ein Biest hat, auf das sich kein vernünftiger Mensch setzt.«
«Es ist eine Stute, die immer in den unteren Teil der Hindernisse hineinrennt, als wären sie nicht vorhanden. Meistens landet sie im Graben.«
«Danke«, sagte Sandy, dem das nichts auszumachen schien.»Ich zieh ihr mit der Peitsche ein paar über, dann wird sie schon Vernunft annehmen. Bis später. «Er verschwand im Umkleideraum.
Dane sah ihm nach.»Es gibt wirklich kein Pferd, vor dem dieser Bursche Angst hat«, sagte er voll Bewunderung.
«Nerven hat er keine«, gab ich zu.»Warum läßt denn Pete ausgerechnet hier ein solches Tier laufen?«
«Der Besitzer versteift sich eben darauf, in Cheltenham vertreten zu sein. Du weißt ja, wie es ist. Es gehört einfach dazu.«
Wir gingen ins Freie. Dane wurde sofort von ein paar Sportjournalisten in Beschlag genommen, die ihn über die Aussichten seines Pferdes im Gold Cup befragten, um den es zwei Tage später gehen sollte. Kurze Zeit später begann die Rennveranstaltung.
Sandy brachte die Stute über den ersten Graben, landete aber im zweiten. Fluchend und mit breitem Grinsen kam er zurück.
Dane, wie ein Besessener reitend, gewann das Hindernischampionat um eine Nasenlänge. Pete, der sein Pferd streichelte und gemeinsam mit dem Besitzer die Glückwünsche der sich um den Sattelplatz drängenden Menschen entgegennahm, freute sich so, daß er kaum ein Wort hervorbrachte.
Er war so hingerissen, daß er bei meinem Start sogar vergaß, einen seiner üblichen Witze zu machen. Und als ich, der ich, seinem Ratschlag bedingungslos folgend, den Iren während des ganzen Rennens beschattete, bis zum letzten Hindernis eine knappe Länge hinter ihm lag und fünfzig Meter vor dem Ziel im Spurt an ihm vorbeiging, war Pete der Glücklichste aller Menschen.
Ich hätte ihn umarmen können, so begeistert war ich. Obgleich ich in Rhodesien mehrere und seit meiner Ankunft in
England etwa dreißig Rennen gewonnen hatte, war das mein erster Sieg in Cheltenham. Ich fühlte mich so hochgestimmt, als hätte ich bereits den Champagner getrunken, der wie üblich am Championatstag kistenweise im Umkleideraum stand. Ich schwebte zur Waage, um mich überprüfen zu lassen, zog mich um und war immer noch nicht auf festem Boden gelandet, als ich wieder das Freie erreichte. Ich war so glücklich, daß ich wie ein Kind hätte Purzelbäume schlagen mögen.
Der Gedanke an Bill war weit zurückgedrängt worden, und ich ging nur zum Parkplatz für die Pferdetransportwagen, weil ich es mir von Anfang an vorgenommen hatte.
Er war überfüllt. An jedem Rennen nahmen ungefähr zwanzig Pferde teil, und nahezu alle verfügbaren Transportwagen mußten in Dienst genommen worden sein. Ich schlenderte die Reihen entlang, zufrieden vor mich hin summend, und sah mit geteilter Aufmerksamkeit auf die Nummernschilder.
Und da war es.
APX 708.
Mit einem Schlag war meine gute Stimmung dahin.
Es gab keinen Zweifel, daß es sich um denselben Wagen handelte. Üblicher Jennings-Aufbau aus Holz. Ziemlich alt, abblätternde Lackierung. Weder an den Türen noch an den Wänden des Aufbaus befand sich der Name des Besitzers oder des Trainers.
Das Führerhaus war leer. Ich ging nach hinten, öffnete die Tür und stieg ein. Das Innere war leer, bis auf einen Eimer, eine Heuraufe und eine Decke. Auf dem Boden war Stroh aufgeschüttet.
Die Pferdedecke konnte mir einen Hinweis darauf geben, woher der Wagen stammte, dachte ich. Die meisten Trainer und manche Eigentümer lassen ihre Anfangsbuchstaben in den Ecken einnähen.
Ich hob die Decke auf. Sie war dunkelbraun. Ich fand die Anfangsbuchstaben und stand da wie eine Marmorstatue. Deutlich zu sehen, in gelbem Garn, waren die Buchstaben A.Y.
Die Decke gehörte mir.
Pete, den ich nach einer Weile aufgabelte, machte nicht den Eindruck, als würde er Fragen beantworten, die längeres Nachdenken verlangten. Er lehnte im Wiegeraum an einer Wand, in einer Hand ein Glas Sekt, in der anderen eine Zigarre, umgeben von einer Anzahl seiner Freunde. An den rosigglänzenden Gesichtern konnte ich ablesen, daß man schon geraume Zeit feierte.
Dane drückte mir ein Glas in die Hand.
«Wo bist du denn gewesen? Hast dich gut gehalten auf Palindrome. Hoch die Tassen! Der Besitzer zahlt.«
Ich leerte mein Glas und sagte:»Gut gemacht, alter Knabe. Trinken wir auf den Gold Cup.«
«Soviel Glück habe ich auch wieder nicht«, meinte Dane.»Ich hole eine neue Flasche«, sagte er und tauchte im Gewühl unter.
Ich sah mich um. Joe Nantwich stand in einer Ecke, und Mr. Tudor redete wütend auf ihn ein.
Dane kam mit einer frischgeöffneten Flasche zurück und füllte unsere Gläser. Er folgte meinem Blick.
«Ich weiß nicht, ob Joe nüchtern war, aber das letzte Rennen hat er ganz schön verkorkst, nicht wahr?«
«Ich habe es nicht gesehen.«
«Da hast du aber etwas versäumt. Er dachte gar nicht daran, sich anzustrengen. Auf der Gegengeraden wäre sein Pferd beinahe eingeschlafen, dabei galt es als zweiter Favorit. Was du jetzt siehst, ist Joes Entlassung.«
«Diesem Mann gehört >Bolingbroke<«, sagte ich.
«Ja, das stimmt. Es ist derselbe Stall. Joe ist doch ein ausgemachter Trottel. Rennstallbesitzer mit fünf oder sechs guten Pferden findet man auch nicht mehr jeden Tag.«
Clifford Tudor wandte sich von Joe ab, und wir hörten noch seine letzten Worte.»… Sie glauben, daß Sie mich zum Narren halten können. Die Rennkommission soll Sie ruhig sperren.«
Er stapfte an uns vorbei, nickte mir zu und ging hinaus.
Joe suchte Halt an der Wand. Er war blaß und schwitzte. Er sah krank aus. Er machte ein paar Schritte auf uns zu und fing an zu reden, ohne daran zu denken, daß ihn Mitglieder der Rennleitung und der Obersten Pferdesportkommission hören konnten.
«Ich bin heute früh angerufen worden. Das war wieder dieselbe Stimme. Der Mann sagte: >Gewinnen Sie das sechste Rennen nicht<, und legte auf, bevor ich etwas sagen konnte. Und dann der Zettel mit >Bolingbroke, nächste Woche<… Ich begreifs nicht. Und ich hab das Rennen nicht gewonnen, und jetzt sagt dieser verdammte Kerl, daß er einen anderen Jockey nehmen wird. Und die Rennleitung will eine Untersuchung durchführen., und außerdem ist mir schlecht.«
«Wie wär’s mit einem Schluck Sekt?«fragte Dane.
«Hau doch ab«, fauchte Joe und entschwand in Richtung Umkleideraum.
«Was zum Teufel ist eigentlich los?«fragte Dane.
«Ich weiß es nicht«, sagte ich. Joes Sorgen interessierten mich mehr und mehr. Der Anruf paßte nicht mit den Drohbriefen zusammen, dachte ich.»Ich möchte wissen, ob Joe immer die Wahrheit sagt«, meinte ich.
«Höchst unwahrscheinlich«, erwiderte Dane.
Ein Offizieller kam daher und erinnerte uns daran, daß man es selbst nach dem Hürdenchampionat nicht gern sehe, wenn im Wiegeraum getrunken werde, und wir könnten doch auch in den
Umkleideraum gehen. Dane befolgte diesen Rat, aber ich leerte mein Glas und ging ins Freie.
Pete wollte auch nach Hause, aber seine Freunde wollten ihn noch in irgendein Lokal verschleppen. Ich befreite ihn von seinen Bewunderern, und wir gingen gemeinsam zum Ausgang.
«Mensch, das war ein Tag!«sagte Pete, wischte sich mit einem weißen Taschentuch die Stirn und warf seinen Zigarrenstummel weg.
«Ein herrlicher Tag«, stimmte ich zu und sah ihn forschend an.
«Du brauchst gar kein besorgtes Gesicht zu machen, Alan. Ich bin ganz nüchtern und fahre jetzt nach Hause.«
«Gut. Dann wird es dir ja nicht schwerfallen, mir eine kleine Frage zu beantworten?«
«Schieß los.«
«In welchem Transportwagen ist >Palindrome< nach Cheltenham gekommen?«fragte ich.
«Was? Ich habe einen gemietet. Fünf Pferde von mir sind heute gelaufen; drei wurden in meinem eigenen Wagen transportiert. Für >Palindrome< und den Dreijährigen mußte ich ein Fahrzeug mieten.«
«Und wo hast du es gemietet?«
«Was hast du denn?«fragte Pete.»Ich weiß, daß der Wagen alt ist und unterwegs eine Reifenpanne hatte, aber das hat >Palindrome< nichts geschadet, sonst hätte er nicht gewonnen.«
«Nein, darauf kommt es mir nicht an«, sagte ich.»Ich möchte nur wissen, woher der Wagen stammt.«
«Es lohnt sich nicht, ihn zu kaufen. Viel zu alt.«
«Pete, ich will ihn nicht kaufen. Du sollst mir nur sagen, woher er kam.«
«Von der Firma, bei der ich gewöhnlich miete, Littlepeth in
Steyning. «Er runzelte die Stirn.»Warte mal. Zuerst hieß es, daß alle Wagen bestellt seien, dann erklärten sie mir, daß ich einen Transporter bekommen könnte, wenn mir das Alter nichts ausmache.«
«Wer hat ihn gesteuert?«
«Einer ihrer Chauffeure. Er fluchte ein bißchen, weil er dieses alte Ding übernehmen mußte.«
«Kennst du ihn näher?«
«Das kann man nicht gerade sagen. Er fährt oft die gemieteten Wagen, das ist alles. Gemeckert wird bei dem immer. Worum geht es eigentlich?«
«Es kann mit Bills Tod zu tun haben«, sagte ich,»aber ich bin mir nicht sicher. Kannst du herausfinden, woher der Wagen wirklich kommt? Erkundigst du dich bei der Firma? Laß mich aber aus dem Spiel.«
«Ist es wichtig?«fragte Pete.
«Ja, sehr.«
«Ich rufe morgen früh an.«
Als wir uns am nächsten Tag trafen, sagte Pete:»Ich habe mich nach dem Wagen erkundigt. Er gehört einem Farmer in der Nähe von Steyning. Ich habe Name und Adresse hier. «Er zog einen Zettel aus der Brusttasche und gab ihn mir.»Das wolltest du doch wissen?«
«Ja, vielen Dank«, sagte ich und steckte den Zettel ein.
Am Ende des Festivals hatte ich die Geschichte von dem Draht mindestens zehn weiteren Leuten erzählt, und sie verbreitete sich rasch.
Ich erzählte sie dem dicken Lew Panake, dem gutgekleideten Buchmacher, bei dem ich ab und zu wettete. Er versprach mir, sich bei den >Jungs< zu erkundigen und mir Bescheid zu geben.
Ich erzählte sie Calvin Bone, einem professionellen Wetter, der immer wußte, wenn irgend etwas faul war.
Ich erzählte sie einem ausgekochten kleinen Schlepper, der sich seinen Unterhalt damit verdiente, Informationen an alle weiterzugeben, die dafür bezahlten.
Ich erzählte sie dem Zeitungsverkäufer, der an seinem Schnurrbart zerrte und einen Kunden ignorierte.
Ich erzählte sie einem Sportjournalisten, dem noch kein Skandal entgangen war.
Ich erzählte sie einem Kameraden von Bill aus der Militärzeit; ich erzählte sie im Wiegeraum; ich erzählte sie Pete Gregorys erstem Pfleger.
Ich säte also Wind, und es brachte mir zunächst gar nichts ein. Der Sturm würde schon von selbst kommen.