Kapitel 2

Früh am nächsten Morgen fuhr ich Scilla nach Hause. Sie war völlig erschöpft und außerdem durch Beruhigungsmittel halb betäubt. Die Kinder erwarteten sie auf der Treppe vor dem Haus, ernsthaft und großäugig. Hinter ihnen stand Joan, der die Kleinen anvertraut waren; ich hatte am Abend zuvor mit ihr telefoniert. Scilla setzte sich auf die Stufen und weinte sich aus. Die Kinder knieten und saßen neben ihr, umarmten sie und versuchten einen Kummer zu lindern, den sie kaum zu begreifen vermochten. Danach ging Scilla nach oben, um sich hinzulegen. Ich folgte ihr etwas später, zog die Vorhänge vor und strich ihr übers Haar. Sie war sehr schläfrig; ich hoffte nur, daß es viele Stunden dauern würde, bis sie wieder aufwachte.

Ich ging in mein Zimmer und zog mich um. Unten hatte Joan in der Küche das Frühstück für mich hergerichtet: Kaffee, Schinken mit Rührei, frische Semmeln. Ich gab den Kindern die für sie gekaufte Schokolade, und sie saßen um mich herum, während ich mich meinem Frühstück widmete. Joan machte sich auch noch eine Tasse Kaffee.

«Alan?«sagte William. Er war fünf Jahre alt, der Jüngste, und er wartete immer, bis man >ja?< gesagt hatte, bevor er weitersprach.

«Ja?«sagte ich.

«Was ist Daddy passiert?«

Also erzählte ich ihnen alles, bis auf die Sache mit dem Draht.

Sie blieben lange Zeit ungewöhnlich still. Dann fragte Henry mit seinen acht Jahren:»Wird er beerdigt oder verbrannt?«

Bevor ich antworten konnte, entspann sich zwischen ihm und seiner älteren Schwester Polly eine hitzige und erstaunlich

wohlinformierte Diskussion über die jeweiligen Vorteile von Begräbnis und Verbrennung. Ich war entsetzt, zugleich aber auch erleichtert, und Joan, die meinen Blick auffing, mußte sich das Lachen verbeißen.

Die unschuldige Abgebrühtheit ihrer Unterhaltung ließ mich meine Fahrt zurück nach Maidenhead in etwas besserer Stimmung antreten. Ich brachte Bills großen Wagen in die Garage und machte mich in meinem eigenen kleinen dunkelblauen Lotus-Sportwagen auf den Weg. Der Nebel hatte sich völlig aufgelöst, aber ich fuhr trotzdem nicht allzu schnell, weil ich darüber nachdachte, was wohl am besten zu tun sei.

Zuerst suchte ich das Krankenhaus auf, wo ich Bills Sachen in Empfang nahm, Formulare unterschrieb und alles Nötige veranlaßte. Für den nächsten Tag war eine Routineobduktion vorgesehen.

Es war Sonntag. Ich fuhr zur Rennbahn, aber alle Eingänge waren geschlossen. Auch im Büro der Rennleitung in der Stadt konnte ich niemand antreffen. Ich rief die Privatadresse des Rennleiters an, ohne daß sich jemand meldete.

Nach einigem Zögern wählte ich die Nummer des Vorsitzenden im Nationalen Rennsportkomitee, der höchsten Autorität für den Hindernissport. Sir Creswell Stampes Butler erklärte mir, er müsse erst nachsehen, ob Sir Creswell zu sprechen sei. Ich sagte, daß ich unbedingt mit ihm reden müsse. Kurze Zeit später hörte ich seine Stimme.

«Ich hoffe, daß Sie mir wirklich etwas Wichtiges mitzuteilen haben, Mr. York. Ich diniere gerade mit meinen Gästen.«

«Haben Sie schon gehört, Sir, daß Major Davidson gestern nacht gestorben ist?«

«Ja. Es tut mir wirklich sehr leid. «Er wartete. Ich atmete tief ein.

«Sein Sturz ist nicht auf einen Unfall zurückzuführen«, sagte ich.

«Wie meinen Sie das?«

«Major Davidsons Pferd ist durch einen gespannten Draht zu Fall gebracht worden«, erwiderte ich.

Ich erzählte ihm von meinem Fund an der Birkenhecke.

«Sie haben wohl Mr. Dace entsprechend unterrichtet?«fragte er. Mr. Dace war Rennleiter für die Bahn in Maidenhead.

Ich erklärte ihm, daß ich Mr. Dace nicht hatte finden können.

«Deswegen rufen Sie bei mir an. Ich verstehe. «Er machte eine Pause.»Nun, Mr. York, wenn Sie sich nicht getäuscht haben, ist die Sache zu ernst, um alleine vom Nationalen Komitee behandelt zu werden. Ich halte es für das beste, wenn Sie die Polizei in Maidenhead so schnell wie möglich informieren. Rufen Sie mich bitte heute abend wieder an. Ich werde inzwischen versuchen, Mr. Dace zu verständigen.«

Ich hängte ein. Immerhin lief die Sache jetzt.

Das Polizeirevier in der verlassenen Straße wirkte düster, schmutzig und wenig einladend. Ich ging hinein. Hinter dem Geländer standen drei Schreibtische; an einem von ihnen saß ein junger Wachtmeister, in eine Zeitung vertieft.

«Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Sir?«sagte er und erhob sich.

«Hat außer Ihnen hier noch jemand Dienst?«erkundigte ich mich.»Einer der Vorgesetzten? Es handelt sich um einen — einen Todesfall.«

«Einen Augenblick, Sir. «Er verließ den Raum durch eine Hintertür. Kurze Zeit später erschien er wieder und sagte:»Würden Sie bitte hier eintreten?«

Ich betrat ein kleines Büro, und er schloß die Tür hinter mir.

Der Mann, der sich hinter dem Schreibtisch erhob, war für einen Polizisten verhältnismäßig klein, stämmig, wahrscheinlich Ende Dreißig. Er schien mir eher robust als intelligent zu sein, aber ich fand später heraus, daß ich mich da getäuscht hatte.

Sein Schreibtisch war mit Papieren und Gesetzbüchern übersät.

«Guten Tag. Ich bin Inspektor Lodge. «Er deutete auf einen Stuhl, setzte sich und begann, seine Papiere zu kleinen Stößen zu ordnen.

«Sie sind wegen eines Todesfalles hier?«Meine eigenen Worte kamen mir jetzt ein wenig albern vor, aber seine Stimme blieb völlig sachlich.

«Es geht um Major Davidson. «begann ich.

«Ach ja. Wir haben einen Bericht bekommen. Er starb gestern im Krankenhaus nach einem Sturz auf der Rennbahn.«

«Dieser Sturz ist mit Absicht herbeigeführt worden«, erklärte ich rundheraus.

Inspektor Lodge starrte mich eine Weile an, dann nahm er ein Blatt Papier aus seiner Schublade, schraubte die Hülse von seinem Füllfederhalter und notierte Datum und Zeit, wie ich sehen konnte. Ein methodischer Mann.

«Wir fangen wohl am besten ganz vorne an«, sagte er.»Wie heißen Sie?«

«Alan York.«

«Alter?«

«Vierundzwanzig.«

«Anschrift?«

Ich nannte Davidsons Adresse und erklärte ihm, daß ich dort die meiste Zeit wohnte.

«Und wo ist Ihr eigentlicher Wohnsitz?«

«In Südrhodesien«, erwiderte ich.»Eine Ranch in der Nähe eines Dorfes mit dem Namen Induna, ungefähr fünfzehn Meilen von Bulawayo entfernt.«

«Beruf?«

«Ich arbeite für meinen Vater in seiner Londoner Niederlassung.«»Welche Firma besitzt Ihr Vater?«

«Die Bailey-York Handelsgesellschaft.«

«Womit handeln Sie?«erkundigte sich Lodge.

«Mit Kupfer, Blei, Schlachtvieh. Mit allem möglichen. Wir führen vor allem Transporte durch.«

Er schrieb alles nieder.

«Also dann«, er legte den Füllfederhalter weg,»worum geht es eigentlich?«

«Worum es geht, weiß ich nicht«, erwiderte ich.»Aber geschehen ist folgendes. «Ich erzählte ihm alles der Reihe nach. Er hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen, dann meinte er:»Wie kamen Sie überhaupt auf den Verdacht, daß es sich nicht um einen normalen Sturz gehandelt haben kann?«

«>Admiral< ist das beste Sprungpferd im ganzen Land. Ihm unterlaufen keine Fehler.«

Aber ich konnte an seinem Gesicht ablesen, daß er, wenn überhaupt, nur sehr wenig vom Rennsport verstand und seiner Meinung nach ein Pferd ebenso leicht stürzen konnte wie das andere.

Ich versuchte es noch einmal.»>Admiral< ist an Hindernissen einfach ein Genie. Er stürzt bei einer so leichten Hürde nicht, zumal er nicht gedrängt wurde. Der Sprungansatz war ideal, ich habe es gesehen. Nichts konnte unnatürlicher sein als dieser Sturz. Ich hatte sofort den Eindruck, als sei er irgendwie behindert worden. Ich ging später zu der Hecke, um nachzusehen, und ich fand den Draht. Das ist alles.«

«Hm. Hätte das Pferd gewinnen können?«erkundigte sich Lodge.

«Ganz sicher sogar«, sagte ich.

«Und wer hat dann gewonnen?«

«Ich«, gab ich zurück. Lodge schwieg eine Weile und kaute an seinem Federhalter.

«Wie kommen die Rennbahnaufseher zu ihren Posten?«fragte

er.

«Das weiß ich nicht genau. Ich nehme an, daß man sie nur für das jeweilige Rennen einstellt«, erwiderte ich.

«Warum sollte ein solcher Mann den Wunsch haben, Major Davidson etwas anzutun?«murmelte er nachdenklich, und ich sah ihn scharf an.

«Sie glauben wohl, daß ich alles erfunden habe?«brauste ich auf.

«Nein. «Er seufzte.»Das nicht. Vielleicht hätte ich sagen sollen, daß es für eine Person, die Major Davidson etwas antun wollte, doch schwierig gewesen sein müßte, sich als Rennbahnaufseher anstellen zu lassen?«

«Es wäre sogar sehr einfach gewesen.«

«Das müssen wir klären. «Er dachte nach.»War das nicht eine sehr unsichere Art, einen Menschen zu ermorden?«

«Wer das geplant hat, kann nicht vorgehabt haben, ihn zu töten«, meinte ich.

«Warum nicht?«

«Weil es äußerst unwahrscheinlich war, daß er dabei umkommen würde. Ich glaube, daß das Ganze nur dazu dienen sollte, seinen Sieg zu verhindern.«

«Warum ist es so unwahrscheinlich, daß sein Sturz zum Tode führt?«fragte Lodge.»Mir kommt es äußerst gefährlich vor.«

«Es mag wohl sein, daß man darauf hoffte, er würde sich verletzen. Wenn ein Pferd sehr schnell läuft und gegen ein Hindernis prallt, wenn man es nicht erwartet, wird man aus dem Sattel geworfen. Man fliegt durch die Luft und stürzt weit vor jener Stelle zu Boden, an der das Pferd zu Fall kommt. Das kann zwar zu schweren Verletzungen führen, aber Todesfälle gibt es dabei kaum. Bill Davidson dagegen ist nicht nach vorne geschleudert worden. Möglicherweise blieb er in den Bügeln hängen, obwohl ich das nicht glaube. Vielleicht wickelte sich der Draht um sein Bein und hielt ihn zurück. Jedenfalls fiel er kerzengerade herunter, und sein Pferd stürzte auf ihn. Selbst so war es unglaubliches Pech, daß der Sattelbogen ihn in den Magen traf. Die Chance, mit Absicht einen Menschen auf diese Weise umzubringen, ist minimal.«

«Ich verstehe. Offensichtlich haben Sie sich darüber Gedanken gemacht.«

«Allerdings.«

«Fällt Ihnen niemand ein, der den Wunsch gehabt haben könnte, Major Davidson etwas anzutun?«fragte Lodge.

«Nein«, erwiderte ich.»Er war sehr beliebt.«

Lodge stand auf und streckte sich.»Wir wollen uns Ihren Draht einmal ansehen«, sagte er. Er machte die Tür auf und rief hinaus:»Wright, sehen Sie mal nach, ob Hawkins da ist, und sagen Sie ihm, daß ich einen Wagen brauche.«

Kurze Zeit später fuhr ein Wagen vor. Hawkins steuerte, ich saß mit Lodge im Fond. Die Haupteingänge der Rennbahn waren immer noch geschlossen, aber es gab andere Möglichkeiten, wie ich feststellen konnte. Mit einem der Polizei zur Verfügung stehenden Schlüssel ließ sich ein anderes Tor im Holzzaun öffnen.

«Für den Fall eines Brandes«, sagte Lodge erklärend.

Hawkins fuhr über die Bahn zur Mitte der Anlage, dann holperten wir zur Gegenkurve. Lodge und ich stiegen aus.

Ich führte ihn an der Hecke vorbei zum Seitenteil des Geländers.

«Der Draht liegt da drüben«, sagte ich.

Aber ich irrte mich.

Da war der Pfosten, das Geländer, das lange Gras, die Birkenhecke. Aber kein Draht.

«Sind Sie sicher, daß das die richtige Stelle ist?«fragte Lodge.

«Ja«, erwiderte ich.»Man springt zuerst über dieses Hindernis da drüben«, erklärte ich und deutete auf die etwa dreihundert Meter entfernte Hürde.»Dann kommt ein langes Flachstück, wie Sie selber sehen können. Zwanzig Meter nach dieser Hecke geht es scharf links zur Geraden. Das nächste Hindernis ist ziemlich weit entfernt, damit die Pferde nicht sofort springen müssen, wenn sie um die Kurve gekommen sind. Eine sehr gut angelegte Rennbahn.«

«Sie können sich im Nebel nicht getäuscht haben?«

«Nein. Das ist das richtige Hindernis«, sagte ich.

Lodge seufzte.»Na, dann müssen wir uns eben alles ein bißchen näher ansehen.«

Aber wir fanden nichts als eine schmale Rinne an dem früher weißlackierten Innenpfosten und eine tiefere Rinne am Außenpfosten, wo der Draht sich ins Holz eingegraben hatte. Sie fielen aber nicht besonders auf.

«Das beweist leider sehr wenig«, erklärte Lodge. Stumm fuhren wir nach Maidenhead zurück. Jetzt wußte ich, daß ich tags zuvor irgendeinen Zeugen gebraucht hätte, selbst wenn es der Hausmeister gewesen wäre. Ich hätte den Betreffenden dazu bringen müssen, mit mir zum Hindernis zu gehen und sich den Draht anzusehen. Ich versuchte mich mit dem Gedanken zu trösten, daß der Aufseher wohl mit der Drahtschere zu dem Hindernis zurückgekehrt war, als ich wieder zu den Tribünen ging. Und selbst wenn ich sofort mit einem Zeugen hätte aufwarten können, wäre es wahrscheinlich zu spät gewesen.

Vom Polizeirevier aus rief ich Sir Creswell Stampe an. Diesmal sei er beim Dessert gestört worden, meinte er. Die Nachricht, daß der Draht verschwunden sei, bereitete ihm ebenfalls wenig Vergnügen.

«Sie hätten doch sofort einen Zeugen beischaffen und den Draht fotografieren, ja ihn mitnehmen müssen. Ohne Beweismaterial können wir nichts unternehmen. Ich begreife auch nicht, warum Sie nicht schon früher etwas unternommen haben. Sie sind sehr unzuverlässig, Mr. York. «Und mit diesen Worten legte er auf.

Bedrückt fuhr ich nach Hause. Ich öffnete leise die Tür zu Scillas Zimmer und warf einen Blick hinein. Ihre Atemzüge gingen tief und gleichmäßig, sie schlief noch fest.

Unten saßen Joan und die Kinder vor dem heimeligen Kaminfeuer und spielten Poker. Ich hatte es ihnen an einem regnerischen Tag beigebracht, als die Kinder ihrer Spielsachen überdrüssig geworden waren, geschrieen und miteinander gestritten hatten, bis es uns zu bunt wurde. Poker, das die Cowboys in den Wildwestfilmen zu spielen pflegten, bewirkte ein Wunder.

Henry entwickelte sich im Verlauf weniger Wochen zu einem gewiegten Pokerspezialisten. Seine Begabung für Mathematik erlaubte ihm, mit großer Präzision abzuschätzen, welche Karten auftauchen mußten; sein Gedächtnis funktionierte ausgezeichnet, und seine harmlose Miene lockte manchen nichtsahnenden Erwachsenen in die Falle. Ich bewunderte Henry. Er konnte einen Engel bluffen.

Polly beherrschte das Spiel auch recht gut, und sogar William vermochte einen >Flush< von einem >Full house< zu unterscheiden.

Sie spielten schon eine ganze Weile. Henry besaß wie gewöhnlich dreimal soviel Spielmarken wie irgendein anderer.

Polly sagte:»Henry hat alles gewonnen, deswegen mußten wir neu aufteilen und von vorne anfangen.«

Henry grinste. Ich nahm ihm zehn Chips ab und setzte mich zu ihnen. Joan teilte aus. Sie gab mir zwei Fünfen, und ich zog mir eine dazu. Henry legte nur zwei Karten ab, ließ sich ein Paar dafür geben und machte ein zufriedenes Gesicht.

Die anderen gaben innerhalb der ersten beiden Runden auf. Dann erkühnte ich mich, zwei weitere Marken in die Mitte zu

Henry warf mir einen Blick zu, um sich zu vergewissern, daß ich ihn auch beobachtete, dann tat er sehr unentschlossen, trommelte mit den Fingern auf den Tisch und seufzte. Da ich wußte, wie gern er bluffte, nahm ich an, daß er hervorragende Karten hatte und mir nur möglichst viele Marken abnehmen wollte.

«Ich gehe mit und erhöhe um einen«, sagte er schließlich. Ich wollte noch zwei Marken hinzugeben, besann mich aber anders und sagte:»Nein, mein Lieber, mit mir nicht«, und ich warf meine Karten hin. Ich schob ihm die vier Marken zu.»Da, hier hast du; mehr bekommst du diesmal nicht.«

«Was hast du denn gehabt, Alan?«Polly drehte meine Karten um und zeigte die drei Fünfen. Henry grinste. Sanft legte er seine Karten mit dem Bild nach oben auf den Tisch. Er hatte zwei Könige. Nur zwei.

«Diesmal habe ich dich erwischt, Alan«, meinte er vergnügt.

William und Polly ächzten.

Wir spielten, bis ich meine Ehre gerettet und Henry eine hübsche Anzahl Marken abgenommen hatte. Dann war Schlafenszeit für die Kinder, und ich ging hinauf, um nach Scilla zu sehen.

Sie lag wach im Dunkeln.

«Komm ’rein, Alan.«

Ich trat ans Bett und knipste die Nachttischlampe an. Sie hatte den ersten Schock überwunden und wirkte ruhig und beherrscht.

«Hast du Hunger?«fragte ich.

«Stell dir vor, ich möchte wirklich etwas essen«, sagte sie überrascht.

Ich ging nach unten, und Joan machte etwas zu essen. Ich trug das Tablett hinauf. Später erzählte sie mir, wie sie Bill kennengelernt hatte, wie sie einander begegnet waren, wie schön

alles gewesen wäre. Ihre Augen glänzten. Sie sprach sehr lange von Bill, und ich unterbrach sie nicht, bis ihre Lippen zu zittern begannen. Dann erzählte ich ihr von Henry und seinen zwei Königen; sie lächelte und wurde wieder ruhiger.

Ich hätte sie gerne gefragt, ob Bill in letzter Zeit in Schwierigkeiten gewesen oder irgendwie bedroht worden wäre, aber das hatte noch Zeit. Ich wartete, bis sie ein Schlafmittel genommen hatte, knipste das Licht aus und sagte ihr gute Nacht. Als ich mich in meinem Zimmer auszog, spürte ich erst, wie müde ich war. Ich fiel buchstäblich ins Bett und schlief sofort ein.

Eine halbe Stunde später schüttelte mich Joan.»Mr. York, wachen Sie doch auf. Ich habe schon eine Ewigkeit an Ihre Tür geklopft.«

«Was ist denn los?«

«Sie werden am Telefon verlangt.«

«Das darf doch nicht wahr sein«, stöhnte ich. Ich schaute auf die Uhr. Elf.

Ich wankte die Treppe hinunter.

«Hallo?«

«Mr. Alan York?«

«Ja.«

«Bleiben Sie bitte am Apparat. «Es knackte ein paarmal. Ich gähnte.

«Mr. York? Ich soll Ihnen etwas von Inspektor Lodge ausrichten. Er möchte, daß Sie morgen nachmittag um vier Uhr ins Polizeirevier nach Maidenhead kommen.«

«Gut, ich werde da sein«, sagte ich. Ich legte auf, ging ins Bett zurück und schlief wie ein Murmeltier.

Lodge erwartete mich. Er stand auf, gab mir die Hand und deutete auf einen Stuhl. Bis auf einen Aktendeckel war die

Schreibtischplatte völlig leer. Hinter mir an einem kleinen Tisch in der Ecke saß ein uniformierter Wachtmeister mit Notizblock und Bleistift.

«Ich habe hier ein paar Vernehmungsniederschriften«, Lodge tippte auf die Akte,»über die ich mit Ihnen sprechen möchte. Danach muß ich Sie einiges fragen. «Er schlug die Akte auf und nahm zwei Blätter heraus.

«Das hier ist die Aussage von Mr. G. L. Dace, Rennleiter in Maidenhead. Er gibt an, daß neun Aufseher, also jene Männer, die neben den Hindernissen stehen, um sie während des Rennens notfalls wieder aufzubauen, fest angestellt sind. Bei dem bewußten Rennen waren nur drei Aufseher neu. «Lodge nahm das nächste Blatt zur Hand.»Das ist die Aussage George Watkins’, eines der fest angestellten Aufseher. Er erklärt, daß die Männer unter sich auslosen, wer welches Hindernis zu übernehmen hat. Am Freitag wurde wie üblich gelost, aber am Samstag erbot sich einer der Neulinge, das am weitesten entfernte Hindernis zu übernehmen. Niemand machte das gerne freiwillig, sagte Watkins, weil man zwischen den Rennen nicht zu den Buchmachern zurückgehen könne. Man war also froh, daß der Fremde das Hindernis übernahm, und loste nur die übrigen aus.«

«Wie sah denn dieser Aufseher aus?«erkundigte ich mich.

«Sie haben ihn doch selbst gesehen«, meinte Lodge.

«Nein, nicht richtig«, sagte ich.»Für mich war er nur irgendein Mann, ich habe ihn nicht angesehen. Bei jedem Hindernis steht mindestens eine Aufsichtsperson. Ich würde keine davon wiedererkennen.«

«Watkins denkt, daß er diesen Mann wiedererkennen würde, aber er vermag ihn nicht zu beschreiben. Unauffällig, sagte er. Nicht groß, nicht klein. In mittlerem Alter, glaubt er. Er trug eine Mütze, einen alten, grauen Anzug und einen weiten Mantel.«

«Er nannte sich Thomas Cook«, fuhr Lodge fort.»Im Augenblick habe er keine Arbeit, aber nächste Woche werde er eine Stellung annehmen; in der Zwischenzeit wolle er sich ein paar Shillinge verdienen. Sehr plausibel, nichts Ungewöhnliches an ihm, behauptet Watkins. Allerdings sprach er wie ein Londoner, nicht mit einem Berkshire-Akzent.«

Lodge nahm ein drittes Blatt aus der Akte.»Hier die Aussage von John Russell, einem der Sanitäter. Er erklärt, neben dem ersten Hindernis auf der Geraden gestanden zu haben. Wegen des Nebels konnte er nur drei Hindernisse sehen: das, neben dem er stand, das nächste auf der Geraden und das am weitesten entfernte, an dem Major Davidson stürzte.

Als Russell gesehen hatte, wie Major Davidson aus dem Sattel fiel, ging er auf das Hindernis zu; Sie ritten an ihm vorbei und schauten sich um. Er begann zu laufen. Er fand Major Davidson auf dem Boden liegend vor.«

«Hat er den Draht gesehen?«fragte ich schnell.

«Nein. Ich wollte von ihm wissen, ob er irgend etwas Ungewöhnliches bemerkt habe. Von Draht sprach ich nicht. Er verneinte.«

«Hat er nicht gesehen, daß der Aufseher den Draht zusammenrollte, während er auf ihn zu lief?«

«Ich fragte ihn, ob er Major Davidson oder den Aufseher habe sehen können, während er auf die beiden zurannte. Er meinte, das sei wegen der scharfen Kurve und der Hecken erst aus nächster Nähe möglich gewesen. Er lief wohl um die Bahn, statt den kürzesten Weg zu wählen, der ihn durch das hohe, nasse Gras geführt hätte.«

«Ich verstehe«, sagte ich niedergeschlagen.»Und was tat der Aufseher, als Russell ankam?«

«Er stand neben Major Davidson und starrte auf ihn hinunter;

angeblich habe er ein erschrockenes Gesicht gemacht. Das überraschte Russell, weil ihm Major Davidson nur leicht verletzt zu sein schien. Er winkte mit seiner weißen Flagge, der nächste Sanitäter sah es und gab das Signal weiter.«

«Und was trieb der Aufseher dann?«

«Nichts Besonderes. Er blieb am Hindernis stehen, nachdem der Krankenwagen Major Davidson abgeholt und Russell erklärt hatte, daß er dort gewesen sei, bis das letzte Rennen abgeblasen wurde.«

Ich versuchte, mich an einen Strohhalm zu klammern und sagte:»Ist er mit den andern Aufsehern zum Tribünenbau gegangen, um sich auszahlen zu lassen?«

Lodge sah mich interessiert an.»Nein«, sagte er.»Das hat er nicht getan.«

Er nahm sich das nächste Blatt vor.»Diese Aussage stammt von Peter Smith, Pferdebursche im Stall Gregory, wo >Admiral< trainiert wird. Er gibt an, daß >Admiral< davongelaufen sei und versucht habe, eine Schwarzdornhecke zu überspringen. Das Pferd schaffte es nicht; es stand zitternd und blutend davor. Man fand zahlreiche Schürfwunden. «Er sah auf.»Wenn der Draht irgendeine Spur hinterlassen hatte, so ist sie jetzt jedenfalls nicht mehr zu finden.«

«Sie haben sehr schnell und gründlich gearbeitet«, meinte ich.

«Ja. Glücklicherweise waren alle Leute gleich aufzutreiben.«

Ein Blatt blieb noch übrig. Lodge nahm es zur Hand und sagte:»Das ist der Obduktionsbericht. Als Todesursache wurde angegeben >multiple innere Verletzungen<. Man stellte einen Leberund Milzriß fest. «Er lehnte sich zurück und betrachtete seine Hände.»Nun, Mr. York, man hat mich angewiesen, Ihnen einige Fragen zu stellen, die«- er sah mich plötzlich an —,»die Ihnen nicht angenehm sein werden. Ich muß Sie trotzdem bitten, sie mir zu beantworten. «Er lächelte freundlich.»Schießen Sie los«, sagte ich.

«Lieben Sie Mrs. Davidson?«

Ich fuhr hoch.»Nein«, sagte ich.

«Aber Sie wohnen bei ihr?«

«Ich wohne mit der ganzen Familie zusammen«, gab ich zurück.

«Warum?«

«Ich habe in England kein Zuhause. Als ich Bill Davidson kennenlernte, lud er mich übers Wochenende in sein Haus ein. Es gefiel mir dort sehr gut, und anscheinend mochte man mich. Jedenfalls wurde ich oft eingeladen. Bill und Scilla schlugen mir schließlich vor, ich solle ganz zu ihnen ziehen. Ein- oder zweimal wöchentlich übernachte ich in London.«

«Wie lange wohnen Sie schon bei den Davidsons?«fragte Lodge.

«Etwa sieben Monate.«

«Kamen Sie mit Major Davidson gut aus?«

«Natürlich, sehr gut sogar.«

«Und auch mit Mrs. Davidson?«

«Allerdings.«

«Aber Sie lieben sie nicht?«

«Ich habe sie sehr gern. Wie eine ältere Schwester«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.»Sie ist zehn Jahre älter als ich.«

Lodges Gesichtsausdruck besagte deutlich, daß es hier nicht aufs Alter ankam. Erst jetzt bemerkte ich, daß der Wachtmeister in der Ecke meine Antworten niederschrieb.

«Sie hatte nur Augen für ihren Mann und er für sie.«

Lodges Mundwinkel zuckten. Irgendwie schien ihn das zu amüsieren.

«Soviel ich gehört habe, war Major Davidson der beste Amateur im Hindernisrennsport?«

«Ja.«

«Und Sie lagen vor einem Jahr hinter ihm an zweiter Stelle, nachdem Sie erstmals eine Saison lang in England geritten waren?«

Ich starrte ihn an.»Sie sind aber plötzlich sehr gut unterrichtet.«

«Waren Sie im vergangenen Jahr zweitbester Amateur hinter Major Davidson? Wären Sie nicht diesmal wieder Zweiter geworden? Ist es nicht ebenfalls wahrscheinlich, daß Sie in Zukunft die Rangliste der Amateur Jockeys anführen?«

«Ja zu eins, ja zu zwei und hoffentlich zu Nummer drei«, meinte ich. Der Sinn dieser Fragen war nur allzu deutlich, aber ich dachte gar nicht daran, ungebeten meine Unschuld zu beteuern. Ich wartete ab.

Eine ganze Minute verging. Dann grinste Lodge.»Nun, ich glaube, das wäre alles, Mr. York. Man wird Ihre gestrige Aussage und diese Vernehmung abtippen. Ich möchte Sie bitten, das Ganze dann zu lesen und zu unterschreiben. «Der Polizist mit dem Notizbuch stand auf und ging in das andere Büro.

«Die gerichtliche Untersuchung über Major Davidsons Tod wird am Donnerstag abgehalten«, sagte Lodge.»Man wird Sie als Zeugen brauchen; ebenso Mrs. Davidson, wegen der Identifizierung. Wir setzen uns mit ihr in Verbindung.«

Er unterhielt sich mit mir über den Rennsport, bis die Niederschrift fertig war. Ich las sie sorgfältig durch und unterschrieb.

Er stand auf, streckte mir die Hand entgegen, und ich schüttelte sie. Er war mir sympathisch. Ich fragte mich nur, wer ihn angewiesen hatte, festzustellen, ob ich für das Verbrechen, das ich gemeldet hatte, selbst die Verantwortung trug.

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