Simon R. Green WÄCHTER DER MENSCHHEIT

Kapitel Eins Alles bis auf eine Weintraube

Es begann wie eine ganz alltägliche Mission. Ein gewisser Sehr Wichtiger Politiker, dessen Name und Gesicht Ihnen nicht fremd wären, war - sehr heimlich - in die Harley Street in London gekommen, Heimat einer der fachkundigsten - und zweifelsohne einer der teuersten - Stellen für medizinische Spezialbehandlungen der gesamten zivilisierten Welt. Dieser Politiker, lassen Sie ihn uns Mr. President nennen - und nein, nicht der, an den Sie jetzt denken -, hatte sich unter fremdem Namen ein Zimmer im Hospiz Saint Baphomet reservieren lassen, nachdem er sich auf einer Goodwilltour durch Thailand eine übernatürliche Geschlechtskrankheit zugezogen hatte. Er war so dumm gewesen, das Halsband mit der Leine seines Hundeführers abzustreifen und in den Bars der Seitengassen Bangkoks ein bisschen Spaß zu suchen, und hatte so viel Pech gehabt, zu guter Letzt eine Agentin der Dunkelheit, die sich als Ladydingsda verkleidet hatte, zu bumsen. Als Folge davon war Mr. President jetzt sehr hochschwanger mit etwas, was das genaue Gegenteil eines Kinds der Liebe war. Es war angeordnet worden, diese unnatürliche Schwangerschaft gnadenlos und ohne Rücksicht auf den Sprössling zu beenden. Er sollte nicht geboren werden, oder wenn doch geboren, dann nicht frei in der materiellen Welt herumlaufen gelassen werden.

Man hatte mich mit einer Waffe ausgestattet, und man erwartete von mir, dass ich sie benutzte.

(Wie wir das herausgefunden haben? Meine Familie weiß alles. Das ist ihre Aufgabe. Und wenn man so viele Jahrhunderte wie wir auf der guten Seite gekämpft hat, dann ist es unvermeidlich, dass ein weit reichendes Netzwerk von Informanten und Spitzeln entsteht.)

Ich schlenderte, gut sichtbar versteckt, lässig die Harley Street hinunter. Niemand sah zweimal nach mir; niemand tut das je. Ich bin dazu ausgebildet worden, mit der Menge zu verschmelzen, nur ein weiteres Gesicht darin zu sein. Ich trug einen schön anonymen dreiteiligen Anzug, teuer genug, um zur Gegend zu passen, aber nicht elegant genug, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich schritt die Harley Street entlang, als ob ich alles Recht hätte, dort zu sein, weshalb alle anderen einfach annahmen, dass ich das auch hatte. Es ist alles eine Frage der Haltung, ehrlich. Mit der richtigen Haltung kann man sich überall einfügen. Es hilft, dass ich die Art von Gesicht habe, die einen immer an jemand anders erinnert: durchschnittlich, angenehm, nichts, was einem hinterher noch Kopfzerbrechen bereitet. Das Gesicht eines Agenten.

Es ist alles eine Frage der Ausbildung. Auch Sie könnten lernen, wie niemand Besonderes auszusehen, wenn Sie es wollten.

Es war das träge Ende eines Sommernachmittags in London. Angenehm warm unter einem blassblauen Himmel und nur der Hauch einer Brise. Im Hintergrund brauste der Verkehr vorbei, aber die Straße selbst war relativ still und ruhig. Es gab Taxis, die gedrungenen schwarzen Londoner Taxis, die Leute absetzten und mitnahmen, Männer und Frauen sämtlicher Nationalitäten, die sich geflissentlich um ihre eigenen Dinge kümmerten. Und einen großen Prozentsatz, der weder Männer noch Frauen noch etwas in der Art war. Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, wie viele Monster Tag für Tag vor aller Augen offen herumspazieren, vor den Blicken reiner Sterblicher nur durch die oberflächlichste Illusion verborgen. Aber ich bin ein Drood, und ich trage den goldenen Torques um meinen Hals, und deshalb kann ich den Blick benutzen, um alles zu sehen, solange ich es aushalten kann.

Nur ein paar Schritte weiter weg stieg ein Elbenlord, ein Angehöriger einer der zahlreichen Elfenrassen, aus einem Taxi, groß und königlich anzuschauen in seinen leuchtenden Gewändern. Er hatte spitze Ohren, völlig schwarze Augen und einen Ausdruck äußerster Verachtung für die ganze Menschheit in seinem Gesicht. Er zahlte den Taxifahrer mit einer Banknote von hohem Nennwert aus und wies das Wechselgeld mit einer Gebärde aristokratischer Geringschätzung zurück. Der Fahrer wäre gut beraten, diese Banknote schnell bei einer Bank einzuzahlen, bevor sie mit Kalteisen in Berührung kam und sich in ein Blatt oder so was zurückverwandelte. Elben leben, um die Menschheit übers Ohr zu hauen; es ist alles, was ihnen noch geblieben ist.

Überall auf der Straße gingen Geister in Wände oder kamen aus ihnen heraus, Wände, die zu ihren Lebzeiten noch nicht da gewesen waren, gefangen in ihrer Wiederholung wie Insekten in Bernstein. Echos in der Zeit. Dämonen ritten ungeahnt auf den Rücken von Leuten, gruben ihnen die gespornten Fersen tief in Schultern und Rückenmuskeln und flüsterten ihren Reittieren in die Ohren. Man konnte immer sagen, welche Reittiere auf sie hörten, denn deren Dämonen waren fett und aufgebläht. Ein Mann hatte einen beginnenden Heiligenschein; er begleitete einen Freund mit Stigmata. Es sind Momente wie dieser, die einem Hoffnung geben. Ein Alien mit grauer Haut und großen schwarzen Augen erschien aus dem Nichts, die dreifingrige Hand um eine London A-Z gekrallt. Der Ruf der Harley Street reicht weiter, als man denkt.

Keiner von ihnen beachtete mich im Geringsten. Ich habe es Ihnen ja gesagt - ich bin ausgebildet worden.

Es gibt Zeiten, da frage ich mich, ob es nicht nett wäre, ein normales Leben zu führen, mit nur normalen Sorgen und Verantwortungen, und nicht all die Dinge wissen zu müssen, die ich weiß. Nicht all die Dunkelheit auf der Welt sehen zu müssen. Eins der Schafe zu sein und nicht der Schäfer. Aber andererseits kriege ich mit, was wirklich läuft und wer die wirklich bösen Typen sind, und ich darf ihnen regelmäßig in die widerlichen Ärsche treten. Was viel wettmacht.

Die Harley Street besteht noch immer größtenteils aus langen georgianischen Häuserzeilen mit kostspielig langweiligen, anonymen Fassaden. Namen sind kaum welche zu sehen; entweder weiß man, wohin man geht, oder man gehört nicht hierher. Die schweren, insgeheim verstärkten Türen öffnen sich beim Ertönen des Summers nur, wenn man die richtigen Worte zu sagen weiß, durch keins der Fenster lässt sich ins Innere sehen; und viele dieser ehrwürdigen Einrichtungen werden auf Arten bewacht und beschützt, über die man gar nicht erst nachdenken will.

Das waren die, für die ich mich interessierte.

Ich studierte das Hospiz des Heiligen Baphomet aus sicherer Entfernung, während ich scheinbar in mein Handy lauschte. Fabelhafte Dinger, die perfekte Entschuldigung, um mit ausdrucksloser Miene einfach in der Gegend herumzustehen. Es war zwecklos, sich dem Vordereingang des Hospizes auch nur zu nähern: Ich konnte Schicht auf Schicht von Verteidigungsanlagen ausmachen, die zum richtig harten Kern gehörten. Die Art, die nicht einmal eine Leiche zum Identifizieren übrig lässt. Stellen Sie sich übergroße magische Fußangeln mit echt großen Zähnen und einem eingebauten Hang zur Gemeinheit vor. Die Art von Verteidigungsanlagen, die man um ein Krankenhaus herum, das auf bizarre und schreckliche Krankheiten spezialisiert ist, erwarten würde; die Art, von der man wirklich nicht will, dass der Rest der Welt davon erfährt.

Also entschied ich mich dafür, in das Gebäude neben Saint Baphomet einzubrechen, einer kleineren und noch spezialisierteren Praxis, Dr. Dee & Söhne & Söhne. Sie beschäftigten sich strikt mit Exorzismen - sehr strikt, nach allem, was man hörte. (Ihr Motto: Wir machen ihnen die Hölle heiß.) Ihre Verteidigungsanlagen waren genau so stark, aber mehr darauf ausgerichtet, Dinge drinnen zu halten als Leute draußen, aus dem völlig logischen Grund, dass nur ein Wahnsinniger hineinwollen würde. Die meisten Leute mussten hineingeschleift werden und traten dabei die ganze Zeit schreiend um sich. Aber andererseits bin ich nicht die meisten Leute. Ich steckte mein Handy weg und blickte die Straße hoch und runter, aber wie immer waren alle anderen viel zu sehr in ihre eigenen wichtigen Geschäfte vertieft, als dass sie Interesse für einen Niemand wie mich hätten erübrigen können. Also schlüpfte ich einfach in die schmale verlassene Gasse neben Dr. Dee und aktivierte meine lebende Rüstung.

Die meiste Zeit über liegt sie ruhend als goldener Ring um meinen Hals. Ein Torques, in der alten Sprache. Unsichtbar für jeden, der kein Mitglied der Drood-Familie oder wenigstens ein siebter Sohn eines siebten Sohnes ist. (Von denen scheinen nicht mehr viele rumzulaufen. Ich gebe der Familienplanung die Schuld daran.) Ich sprach innerlich meine aktivierenden Worte, und das lebende Metall im Torques breitete sich aus und bedeckte meinen ganzen Körper, umgab mich binnen eines Moments von Kopf bis Fuß. Es ist ein warmes, erfrischendes Gefühl, als ob man einen alten, vertrauten Mantel anzöge. Als die goldene Maske mein Gesicht und meinen Kopf umhüllte, konnte ich noch deutlicher sehen, sogar all die Dinge, die normalerweise selbst begabten Menschen wie mir verborgen blieben. Ich fühlte mich stärker, scharfsinniger, lebendiger, wie aus einem angenehmen Dösen in völlige Wachheit gerissen. Ich fühlte mich, als ob ich es mit der ganzen verdammten Welt aufnehmen und sie wie ein Baby zum Weinen bringen könnte.

Die Rüstung ist die Geheimwaffe der Drood-Familie. Sie ermöglicht unsere Arbeit. Die Rüstung wird jedem von uns direkt nach der Geburt gegeben, gebunden auf immer an unsere Nervensysteme und unsere Seelen, und während wir die Rüstung tragen, sind wir unantastbar, geschützt vor jeder Form des Angriffs, ob wissenschaftlicher oder magischer Natur. Sie macht uns auch unglaublich stark, verblüffend schnell und völlig unentdeckbar. Meistens.

Mit der Rüstung sehe ich aus wie eine lebende Statue, golden und prächtig, und nirgendwo an der gesamten glatten, glänzenden Oberfläche gäbe es ein Gelenk oder ein bewegliches Teil oder einen Schwachpunkt. Es gibt nicht einmal Seh- oder Atemlöcher in der goldenen Maske, die mein Gesicht bedeckt. Ich brauche sie nicht. Während ich sie trage, ist die Rüstung ich. Sie ist eine zweite Haut, die mich gegen eine gefährliche Welt abschirmt.

Weil ich durch die Maske blickte, konnte ich jetzt deutlich den riesigen Dämonenhund sehen, der die Hintertür zu Dr. Dee bewachte. Nachtschwarz, groß wie ein Bus, muskelbepackt, lag er ausgestreckt auf dem Kopfsteinpflasterplatz und starrte argwöhnisch um sich mit seinem platten, brutalen Gesicht und den lodernden Höllenfeueraugen. Er nagte träge an einem menschlichen Oberschenkelknochen, an dem noch etwas Fleisch hing. Andere Knochen lagen vor dem Hund verstreut, aufgebrochen, um ans Mark zu kommen. Mich überkam eine flüchtige, aber sehr wirkliche Versuchung, mir einen der Knochen zu greifen, ihn zu werfen und apport! zu rufen, nur um zu sehen, was passieren würde. Aber ich schwang mich darüber empor. Schließlich bin ich ein Profi.

Ich ging geradewegs auf den Dämonenhund zu, und er konnte mich nicht sehen oder hören oder riechen. Was auch ganz gut so war; ich war nicht auf der Suche nach einem Kampf. Nicht mit etwas so Großem und infernalisch Fiesem jedenfalls. Ich bewegte mich vorsichtig an dem Hund vorbei, sorgfältig darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. Die Rüstung hat ihre Grenzen. Ich untersuchte die verschlossene Hintertür: sehr alt, sehr knifflig, sehr sicher. Kinderspiel. Ich langte mit meiner goldenen Hand durch meine goldene Seite, so mühelos, als ob ich die Hand in Wasser tauchte, und nahm die Hand der Herrlichkeit heraus, die mir vom Plattner und Waffenschmied der Familie eigens für diesen Auftrag geschickt worden war. Die Hand der Herrlichkeit ist eine menschliche Hand, die einem Gehenkten direkt nach seinem Tod abgeschnitten und dann auf gewisse unerfreuliche Weisen behandelt wird, sodass aus den Fingern Kerzen werden. Zündet man diese Kerzen an, auf die richtige Art und mit den richtigen Worten, kann die Hand der Herrlichkeit jedes Schloss öffnen, jedes Geheimnis offenbaren. Die Familie stellt diese schrecklichen Dinger aus den Leichen unserer gefallenen Feinde her. Wir machen auch noch andere Sachen mit den Leichen, echt ziemlich entsetzliche Sachen. Noch ein Grund, uns nicht auf sich wütend zu machen.

Ich zündete die Kerzen an und sprach innerlich die Worte, und der Dämonenhund hob seinen plumpen Kopf und witterte misstrauisch in die unbewegte Luft. Ich erstarrte, und langsam senkte der Hund seinen brutalen Kopf wieder. Das Schloss hatte sich bereits geöffnet, also öffnete ich die Tür sacht nach innen. Der Hund blickte nicht einmal um sich. Vorsichtig schob ich mich hinein und drückte die Tür leise hinter mir zu. Sie verschloss sich wieder, und ich entspannte mich ein bisschen. Wahrscheinlich könnte ich es in meiner Rüstung mit einem Dämonenhund aufnehmen, aber ich hatte keine Lust, dieses wahrscheinlich einer Prüfung zu unterziehen, wenn es nicht absolut unumgänglich war. Dämonenhunde sind auf die Seele abgerichtet.

Ich steckte die Hand der Herrlichkeit weg und studierte meine neue Umgebung. Bei Dr. Dee war es düster und dunkel, und die nackten Steinwände des Flurs trieften vor Wasser und anderen Flüssigkeiten. Im nackten Steinfußboden waren verrostete Eisengitter, durch die sie abliefen. Ich ging weiter, und es war, als ginge man durch ein Schlachthaus der Seele. Dies war ein Ort, wo regelmäßig schlimme Dinge geschahen. Ein Ort, wo das Geschehen echt schlimmer Dinge nur zum normalen Betrieb gehörte.

Ich bewegte mich geräuschlos den langen Steinkorridor entlang, erreichte die stumpfe Ecke an seinem Ende und kam in einer höhlenartigen Halle heraus, die mit Reihen über Reihen kastenartiger Käfige gefüllt war, jeder gerade groß genug, um einen Mann aufzunehmen, oder eine Frau oder ein Kind. Die Gitterstäbe der Käfige waren aus massivem Silber, ebenso wie die schweren Ketten, die die Gefangenen festhielten. Das einzige Licht kam von einem großen eisernen Kohlenbecken am anderen Ende der Halle, ein blutroter Schein in der Düsterkeit um die langgriffigen Instrumente der Zerstörung herum, die das Kohlenbecken erhitzte. Ich ging ruhig den schmalen Mittelgang zwischen den beiden Käfigreihen hinunter, sorgfältig darauf bedacht, nicht nach links oder rechts zu sehen. Hier gab es keine Unschuldigen. Sie waren besessen, Spielzeuge der Hölle, hierhergebracht, um von ihrer Last befreit zu werden. Auf die eine oder andere Weise.

Die meisten von ihnen konnten mich nicht sehen, also machten sie sich nicht die Mühe, eine Schau abzuziehen. Aber eine dunkle, ungeschlachte Gestalt hob ihren verstümmelten Kopf und starrte mich direkt aus Augen an, die so golden wie meine Rüstung glühten. Sie sprach zu mir, und ich erschauderte bei dem Geräusch. Ihre Stimme war wie die eines Engels mit Syphilis, wie die einer Rose mit Krebs, wie die einer Braut mit Zähnen in der Vagina. Sie versprach mir Dinge, wunderbar furchtbare Dinge, wenn ich sie nur freiließe. Ich ging weiter. Sie lachte leise in der Dunkelheit hinter mir, wie ein kleines Kind.

Indem ich dem Grundriss folgte, den ich zuvor auswendig gelernt hatte, ging ich ein Stockwerk höher in den Wohnbereich des Gebäudes, wo Patienten auf dem Wege der Besserung ganz behutsam wieder der geistigen Gesundheit zugeführt wurden. Überall, wohin ich blickte, konnte ich Geisterbilder versteckter Verteidigungssysteme sehen, bereit, beim kleinsten Anzeichen eines Eindringlings augenblicklich in Aktion zu treten. Nur meine Rüstung verhinderte, dass Dr. Dees Sicherheitsmaßnahmen eine Reihe von Alarmen und Vergeltungsmaßnahmen auslöste. Selbstverständlich gab es überall Kameras, einschließlich infraroter, und sie waren mit dem Weihwassersprinklersystem gekoppelt, aber meine Rüstung definiert den Begriff Heimlichkeit neu. Niemand sieht mich, außer ich will gesehen werden.

Schon bald kam ich zu der Mauer, die Dr. Dee mit Saint Baphomet verband, und brauchte nur noch die tragbare Tür, die der Waffenschmied mir geschickt hatte, herauszunehmen und an die Wand zu klatschen. Sie entfaltete sich schnell und bildete eine völlig normal aussehende Tür, komplett mit Messinggriff. Ich öffnete sie, trat hindurch in das nächste Gebäude und zog sie danach von der Wand ab. Schnell schrumpfte sie wieder zu einem kleinen Gummiball aus etwas zusammen, was viel zu kompliziert war, als dass ich es hätte verstehen können und ich steckte sie zurück in meine Tasche. Meine Familie hat die besten Spielzeuge. Danach brauchte ich nur noch dem Grundriss des Saint Baphomets zu folgen, den ich ebenfalls auswendig gelernt hatte, um direkt ins Zimmer von Mr. President zu gelangen.

(Nein, nicht der, an den Sie jetzt denken. Ganz entschieden nicht. Sie müssen mir vertrauen, wenn ich Ihnen diese Dinge erzähle.)

Das Hospiz war voller heller Lichter und seine Wände in fröhlichen Farben gestrichen, aber die magischen Schutzvorrichtungen waren genauso stark wie die bei Dr. Dee. Überall gab es Kameras, die einander amtlich zusurrten, während sie hin- und herschwenkten, und Bewegungsmelder flimmerten rot auf Knöchelhöhe. Doch ich ging ungesehen, der Geist in der Maschine. Niemand sieht uns - außer wir wollen gesehen werden. Die Luft roch nach Desinfektionsmitteln und etwas Fauligem, das nicht völlig unter teurem Blumenparfum vergraben war.

Ich gelangte unangefochten nach oben zu der Station im Dachgeschoss, wo alle wirklich interessanten Patienten untergebracht waren, und wanderte lautlos durch den bis in den letzten Winkel erleuchteten Korridor, wobei ich hier und da stehen blieb, um durch einige Fenster in den Türen zu spähen, an denen ich vorbeikam, nur so aus Neugier. Na ja, würden Sie das etwa nicht? Man hatte mich bereits genau darüber informiert, weshalb jeder einzelne Patient sich hier aufhielt, und ich musste einfach ab und zu einen schnellen Blick riskieren.

Ein Starkoch mit eigener Fernsehsendung war hier, um eine Tätowierung auf die harte Tour entfernt zu kriegen. Offenbar war die Hand des Tätowierers genau im falschen Moment ausgerutscht, während er eine alte chinesische Redensart mit Tinte schrieb, wodurch aus einer simplen Beschwörung für Glück eine unverblümte Beschwörung für richtig schlimmes Pech wurde. Als Folge davon war das berühmte West-End-Restaurant des Kochs während eines Ausbruchs von Lebensmittelvergiftung niedergebrannt, in seiner Livesendung hatte er explosiven Durchfall gehabt, seine besten Rezepte waren im Internet aufgetaucht und er war siebzehn Mal vom Blitz getroffen worden. In seiner eigenen Küche. Eine derartige Tätowierung verändert man nicht einfach mit dem Laser, also häuteten sie ihm Zentimeter für Zentimeter den Rücken, um sie loszuwerden. Im Augenblick lag der berühmte Koch auf seinem Bauch im Bett, schluchzend wie ein Baby. Nächstes Mal würde er sich mit Mama oder seiner Lieblingsfußballmannschaft begnügen.

Im Zimmer neben ihm litt eine Frau an akutem Schwerkraftmangel. Das Personal hatte sie auf dem Bett festschnallen müssen, um sie am Wegschweben zu hindern. Ihre langen Haare flossen nach oben. Hinter der nächsten Tür lag irgendein bedauernswerter Unglücklicher, der den Fehler gemacht hatte, unvoreingenommen und wirklich offenen Geistes in eine Séance zu gehen, und jetzt war er von tausendundeinem Dämon besessen. In seiner Zwangsjacke irrte er in seinem Zimmer hin und her und schrie in Zungen, während er von den Gummiwänden abprallte und die Dämonen in ihm untereinander die Vorherrschaft auskämpften. Es schien sie nicht zu scheren, dass sie dabei aus ihrem Wirt ein richtiges Durcheinander machten. Er hätte wirklich zu Dr. Dee gehen sollen. Man bekommt, wofür man bezahlt.

Die nächsten paar Zimmer beherbergten eine abgetrennte Hand, die versuchte, sich einen neuen Körper wachsen zu lassen, einen Zeitagenten, dessen letzte Regeneration schrecklich schiefgelaufen war und sein Innerstes nach außen gekehrt hatte, und einen bekümmert aussehenden Werwolf mit Räude. Es muss wohl auch solche geben.

Ich spähte vorsichtig um die Ecke des Korridors, und da war es: das Zimmer von Mr. President. Ein bewaffneter Wachposten saß direkt vor seiner Tür, im Augenblick völlig in sein Muskelmännermagazin vertieft. Ich überprüfte es sorgfältig, aber das war alles. Ein bewaffneter Wachposten. Sie versuchten es nicht einmal richtig. Ich ging geradewegs zu dem Mann hin, und er wusste nicht einmal, dass ich da war, bis ich einen speziellen Nervenknoten in seinem Hals zusammendrückte und er sofort einschlief. Ich setzte ihn in seinen Stuhl zurück, nachdem ich ihn von der Tür weggerückt hatte. Ich spähte durchs Fenster, und da war Mr. President, unruhig auf dem Rücken schlafend, und sein geschwollener Bauch drückte das Bettzeug hoch. Eine Schwangerschaft kann sehr ermüdend sein, habe ich mir zumindest sagen lassen. Mr. Presidents Gattin hielt in einem Stuhl neben seinem Bett ein Nickerchen. Welch verständnisvolle und große Stütze ihres Mannes.

Ich langte unter meine Rüstung und griff nach der Waffe in dem Halfter an meiner Hüfte. Der Waffenschmied hatte mich im Lauf der Jahre mit vielen verschiedenen Waffen ausgestattet, aber die hier war wirklich ziemlich speziell. Ein Nadelrevolver mit einer Druckgastrommel, der Splitter aus gefrorenem Weihwasser abfeuerte. Sehr leise, sehr effizient.

Ich gab mich nicht erst mit der Hand der Herrlichkeit ab, sondern trat die verschlossene Tür einfach mit einem goldenen Fuß ein. Sie flog krachend auf, und Mr. President setzte sich im Bett auf und sah mich direkt an. Das Baby, dessen Wirt er war, musste seine Sinne geschärft haben. Er warf einen einzigen Blick auf mich in meiner goldenen Rüstung und fing an zu schreien, dass ich hier sei, um ihn zu ermorden. Ich zielte sorgfältig und schoss auf seine Frau, die gerade halb aus ihrem Stuhl hochgekommen war. Die Eisnadel traf sie direkt in die Drosselvene, trat in ihren Blutkreislauf ein und zerschmolz zu Weihwasser, und Mr. Presidents Frau verfiel in Zuckungen, während der Dämon, von dem sie besessen war, herausgezwungen wurde.

Sie war die ganze Zeit über meine Zielperson gewesen. Der Dämon hatte sich in ihr versteckt, während ihr Mann Ausgang hatte und Pitsche-Patsche mit dem Ladydingsda spielte, und dann unentdeckt darauf gewartet, dass Mr. President® Baby durch einen Kaiserschnitt auf die Welt kam. Dann konnte der Dämon das unnatürliche Baby besitzen und eine dauerhaft körperliche Gestalt annehmen, sicher vor allen Exorzismusversuchen. Wer weiß, wie seine Pläne anschließend aussahen? Meine Familie hatte keine Lust gehabt, untätig zu warten, bis sie es herausfand.

Wir hatten alle Das Omen gesehen.

Die Gattin fiel auf alle viere, zitternd und von Krämpfen befallen, während ihr Ehemann zusah, geschockt und stumm vor Grauen. Schwarzer Schleim brach aus ihrem Mund, aus ihrer Nase, aus ihren Ohren und lief ihr sogar als zähflüssige schwarze Tränen übers Gesicht. Immer mehr von dem Zeug quoll aus ihr heraus, immer schneller, und bildete eine immer größer werdende Lache schwarzer, teeriger Substanz auf dem Boden vor ihr. Und aus diesem schwarzen Ektoplasma erschuf sich der Dämon einen neuen Körper, sein letzter verzweifelter Versuch, eine körperliche Gestalt in der materiellen Welt anzunehmen.

Eine untersetzte, kraftvolle Form drängte aus der schwarzen Lache nach oben: zuerst lange, muskulöse Arme, dann eine breite Brust und Schultern und zuletzt ein gehörnter Kopf mit Augen wie glühende Kohlestücke. Ich schoss mit einer weiteren Weihwassernadel darauf und sie heulte schrecklich, hörte aber nicht auf zu wachsen. Entschlossenes Kerlchen. Der Dämon zog sich aus der schwarzen Lache hoch und türmte sich jetzt über mir empor. Seinen Händen wuchsen lange Klauen, und ein breites Lächeln teilte das finstere Gesicht und ließ mich Reihe um Reihe nadelspitzer Zähne sehen. Er sah aus wie das, was er war: gemein und böse und furchtbar stark. An manchen Tagen muss man die Dinge halt auf die harte Tour erledigen.

Der Dämon wogte vorwärts und schlug mit einer klauenbewehrten Hand nach mir. Funken stoben, als die Klauen harmlos an meiner gepanzerten Brust abrutschten. Ich versetzte dem Dämon einen Faustschlag an den Kopf, und dicke Brocken schwarzen Ektoplasmas flogen durch die Gegend, als meine mit goldenen Spitzen bestückten Fingerknöchel durch sein Pseudofleisch rissen. Wieder und wieder schlug ich zu, prügelte ihn nieder und trieb ihn zurück, während all seine stärksten Hiebe harmlos an meiner gepanzerten Gestalt abglitten. Ich bekam einen seiner um sich schlagenden Arme zu fassen, nahm meine Kräfte zusammen und riss ihn geradewegs ab. Der Dämon heulte auf, und sein Körper begann, einfach zu zerfallen, nicht länger in der Lage, angesichts einer solch groben Behandlung seinen Zustand aufrechtzuerhalten. Die dunkle Gestalt brach in dickflüssige Pfützen stinkenden, verfaulenden Ektoplasmas zusammen, und der Dämon stürzte brüllend zurück in die Hölle.

Ich schüttelte tropfenden schwarzen Schleim von meinen gepanzerten Fäusten und gönnte mir einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen. Das Gute daran, Dämonen aus der Hölle die Scheiße aus dem Ektoplasmaleib zu prügeln, ist, dass man sich anschließend nicht im Geringsten schuldig fühlen muss.

Ich blickte mich nach Mr. President um. Er war nicht mehr im Bett, sondern hatte sich furchtsam in die entfernteste Zimmerecke gekauert. Er sah, dass ich ihn anschaute, und wimmerte schwach. Ich nahm meine Nadelpistole heraus und schoss auch auf ihn. Das Weihwasser würde dafür sorgen, dass, was immer man schließlich aus ihm herausholte, tot geboren und keine Gefahr für irgendjemand darstellen würde. Er keuchte und riss die Augen auf, als er die Veränderungen spürte, die in ihm vorgingen. Dann wandte er den Blick ab und verfluchte mich leise, aber daran war ich gewöhnt.

»Dachten sie wirklich, Sie könnten das vor uns verbergen, Mr. President?«, sagte ich. »Nächstes Mal vergessen Sie Ihren Stolz und kommen zuerst zu uns. Oder noch besser, halten Sie sich von den Ladydingsdas fern.«

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