Kapitel Sechzehn Allein daheim

Ich war nicht scharf darauf, das U-Bahnnetz wieder zu betreten, aber Molly bestand darauf. Es kam mir so vor, als ob mir jedes Mal, wenn ich mich in letzter Zeit unter die Erde begeben hatte, schlimme Dinge widerfahren wären. Aber andererseits war es oberirdisch auch nicht so besonders sicher gewesen. Molly und ich gingen den Weg zurück, den wir gekommen waren, und hielten auf den Bahnhof Blackfriars zu, und es war, als ob wir durch Kriegsgebiet gingen. Verunglückte Autos, brennende Geschäfte, Schäden und Trümmer überall. Menschen wankten durch die Gegend, benommen und verwirrt, und schrien und klammerten sich aneinander. Und Leichen, auf der Straße oder aus ausgebrannten Räumlichkeiten auf den Bürgersteig hinausgezerrt, manchmal anständig mit einem Mantel bedeckt, häufiger nicht. Ich fühlte mich wie betäubt, angeekelt: Das hier hätte nicht passieren dürfen! In all den geheimen Kämpfen, die ich jemals gefochten hatte, hatte ich nicht ein einziges Mal zugelassen, dass sie in die wirkliche Welt überschwappten. Und garantiert nie hatte ich zugelassen, dass Zivilisten zu Schaden kamen.

»Hör auf damit!«, sagte Molly ruhig. »Nichts hiervon ist deine Schuld. Das Manifeste Schicksal ist verantwortlich für das, was hier geschehen ist, die Dreckskerle.«

»Wir haben uns von ihnen jagen lassen«, wandte ich ein.

»Was war die Alternative? Nicht weichen und schnell sterben - günstigstenfalls? Ich glaube nicht. Du kannst dir nicht erlauben, geschnappt zu werden, Eddie! Du kannst nicht zulassen, dass dem Manifesten Schicksal eine Waffe wie deine Rüstung in die Hände fällt! Und außerdem musst du in Freiheit bleiben, weil du die Wahrheit kennst! Du hast eine Verantwortung - die Verantwortung, etwas zu tun und das Manifeste Schicksal und deine Familie daran zu hindern, die Welt wie ihr eigenes kleines Privatreich zu führen. Du bist die einzige Hoffnung, die diese Menschen haben!«

»Dann stecken sie in ernsten Schwierigkeiten«, sagte ich nach einer Weile.

»So ist es besser!«, lobte Molly. »Lass dich nicht von diesen Dreckskerlen fertigmachen, Eddie!«

* * *

Der Eingang zum Bahnhof Blackfriars war mit Menschen vollgestopft, Flüchtlinge, die sich vor dem Chaos in den Straßen versteckten. Alle schnatterten und schrien aufeinander ein, aber es war offensichtlich, dass keiner einen Schimmer hatte, was tatsächlich los war. Molly und ich bahnten uns vorsichtig unseren Weg durch das Gedränge auf den Treppen und hinunter auf die Aufzüge zu. Ich hatte mir Sorgen gemacht, dass das Manifeste Schicksal oder meine Familie noch Agenten hier unten in den Bahnhöfen haben könnten, die nach uns Ausschau hielten, aber in einer Menschenmenge dieses Ausmaßes waren Molly und ich bloß zwei Leute mehr. Sogar die blockierten Aufzüge waren voller schockierter und verwirrter Menschen, von denen manche weinten, manche andere trösteten oder selbst getröstet wurden. Keiner von ihnen verstand, was vor sich ging, nur dass sich etwas viel Größeres und Gemeineres als sie selbst in ihre friedlichen Alltagsleben gedrängt hatte. Genau um das zu verhüten, hatte ich mein Leben lang gekämpft.

Ich kam mir vor, als ob ich sie im Stich gelassen hätte, und das bedeutete mir viel mehr, als meine Familie es je getan hatte.

Unten auf dem überfüllten Bahnsteig begaben Molly und ich uns unauffällig zu einem Erfrischungsgetränkeautomaten mit einem »Außer Betrieb«-Schild daran. Wir blickten uns rasch um, um uns zu vergewissern, dass niemand uns beobachtete, und dann zog ich den Getränkeautomaten vor. Der Automat bewegte sich glatt und leicht und gab eine Geheimtür in der Wand dahinter frei. Ich musste lächeln. In der Londoner U-Bahn gibt es eine große Anzahl von Geheimtüren, viele davon verborgen hinter »Außer Betrieb«-Verkaufsautomaten. Für die Eingeweihten ist es ein geheimes Zeichen. Das ist der Grund, weshalb so viele dieser Automaten scheinbar ständig außer Betrieb sind. Die Türen führen zu allen möglichen interessanten Orten, und die breite Öffentlichkeit ist sehr viel besser dran, wenn sie nichts von ihnen weiß. Molly murmelte ein paar Worte zu der Geheimtür in der Wand, und sie schwang geräuschlos vor uns auf. Molly und ich schlüpften durch die Öffnung in die Dunkelheit dahinter, und die Tür schloss sich lautlos hinter uns.

* * *

Molly beschwor eine Hand voll Hexenfeuer, und das schimmernde silberne Licht sprühte und knisterte um ihre hochgehaltene Hand. Ein dunkler, dumpfiger Gang, dessen gewölbte Backsteinwände und niedrige Decke sich konstant abwärts neigten, verlief von uns weg. Mollys Hexenlicht konnte die Düsternis nicht weit durchdringen, und die Schatten waren sehr dunkel.

»Kriegst du wirklich nichts Besseres hin als dieses Glimmen?«, fragte ich.

»Doch, aber mehr bin ich nicht bereit zu riskieren. Das hier ist kein Ort, wo man übertriebene Aufmerksamkeit erregen möchte.«

»Wo genau gehen wir eigentlich hin? Sag mir bitte, dass wir nicht wieder in die Kanalisation hinuntersteigen!«

»Wir steigen nicht wieder in die Kanalisation hinunter.«

»Oh, welche Freude!«

»Du fängst an, mir auf den Geist zu gehen, Drood! Dieser Gang führt uns in die Anlagen unter dem U-Bahnnetz. Orte, die von der Eisenbahn verlassen und aufgegeben wurden. Alte Bahnhöfe, zu denen niemand mehr hingeht, eingestellte Linien, Schächte, die nie fertiggestellt wurden - die Art von Sachen.«

Ich nickte. Ich wusste, wo wir waren und wohin wir unterwegs waren; ich wollte Molly nur zeigen, dass ich wieder ich selbst war. Ich konnte das Dröhnen von Zügen hören, die gar nicht so weit von uns vorüberfuhren. Die Geräusche erstarben, während Molly und ich den abfallenden Tunnel hinunter in die Dunkelheit gingen.

»So«, sagte ich nach einer Weile. »Was machen wir, wenn wir auf Trolle stoßen?«

»Mein Plan sieht vor, die Beine in die Hand zu nehmen. Versuch Schritt zu halten!«

»Jemand hat mir erzählt, sie machen sich wieder bereit zu schwärmen.«

»Das passiert alle fünf Jahre; man kann die Uhr danach stellen. Die Trolle übervölkern die Tunnels und brauchen die Nahrungsvorräte auf, bis sie irgendwann der Hunger und der schiere Druck ihrer Zahl nach oben in Richtung Tageslicht und Menschen treibt. So kommen alle paar Jahre die Kopfgeldjäger dazu, gutes Geld zu machen, indem sie in die Schächte hinuntersteigen und die Herde auf eine annehmbare Anzahl herunterkeulen.«

»Ich verstehe nicht, wieso wir die hässlichen Viecher nicht einfach ausrotten«, sagte ich.

»Oh, das dürfen wir nicht!«, erklärte Molly. »Jede Spezies erfüllt eine Funktion in der Natur, auch wenn wir sie nicht erkennen können. Rotte die Trolle aus, und etwas viel Schlimmeres könnte vortreten, um den freigewordenen Platz einzunehmen. Besser die hässlichen Viecher, die man kennt, als die, die man nicht kennt!«

Wir gingen weiter von einem Tunnel in den nächsten und dann in den nächsten, immer weiter nach unten, tiefer in die Erde hinab. Die Luft wurde heiß und stickig, fast schwül. Wir platschten durch abgestandene Wasserlachen auf dem Boden, und von der Decke tropfte noch mehr Wasser. In dieser Treibhausatmosphäre gediehen Pilze, die, wo sich Wand und Boden trafen, in dicken, weißen Klumpen und an der Decke in aufgedunsenen, fleischigen, verstreuten Massen wuchsen. Riesige Matten aus grünem und blauem Moos überzogen die Wände, fünf, sechs Zentimeter dick, so weit ich blicken konnte. Lange, langsame kleine Wellen versetzten die Oberfläche des Mooses in wogende Bewegung, als ob unsere Anwesenheit es störte.

»Es gibt welche, die sagen, wenn man das Moos isst oder raucht, gewährt es einem den Anblick unsichtbarer Dinge und anderer Welten«, sagte Molly.

»Dafür brauche ich kein Moos«, entgegnete ich. »Das ist ganz normal für mich. Ist dir aufgefallen … dass es hier unten keine Ratten gibt? Nirgends!«

»Ja«, meinte Molly, »ist mir aufgefallen. Die Trolle müssen alle gefressen haben. Und wenn sie gezwungen waren, Ratten zu fressen, so kann es nur deswegen sein, weil sie alles andere schon gefressen haben. Sie müssen wirklich kurz vorm Schwärmen stehen!«

»Vielleicht könnten wir irgendwann anders wiederkommen und den Maulwurf besuchen!«, schlug ich vor.

»Für einen Drood bist du echt ganz schön feige, was?«

»Vorsichtig«, korrigierte ich sie. »Ich ziehe das Wort vorsichtig vor.«

»Hör zu, die Behörden haben inzwischen bestimmt schon Kopfgeldjäger heruntergeschickt.«

»Stimmt«, sagte ich. »Ich glaube, ich habe einen gefunden.«

Wir knieten beide nieder, um die Überreste dessen in Augenschein zu nehmen, was einmal ein weiblicher menschlicher Körper gewesen war. Er lag auf dem Rücken in einer Blutlache, die schon so weit getrocknet war, dass sie sich zäh anfühlte. Seine Lederrüstung war in Fetzen gerissen und der Brustkorb zerschmettert worden, um an das Fleisch darunter zu kommen. Arme und Beine waren abgerissen und die abgenagten Knochen lagen verstreut auf dem Boden herum. Das Gesicht war bis auf die Knochen weggefressen; aus leeren Augenhöhlen und mit blutverschmierten Zähnen grinste uns der Schädel an.

»Irgendeine Idee, wer das gewesen sein könnte?«, fragte ich. Der Zustand der Leiche störte mich nicht; ich habe schon viele Leichen gesehen.

»Nein«, sagte Molly stirnrunzelnd. »Die einzige Kopfgeldjägerin, die ich kenne, ist Janitscharen-Jane, und das hier ist nicht ihre Rüstung.«

»Du kennst Jane?«, fragte ich überrascht.

»Wir haben zusammen an ein paar Fällen gearbeitet. Ich kann mich nur wiederholen, Eddie: Die Welt ist nicht so fein säuberlich in Schwarz und Weiß getrennt, wie deine Familie dich immer glauben machen wollte.«

Ich hob eine Maschinenpistole auf, die nicht weit von der Leiche herrenlos auf dem Boden lag, und untersuchte sie gründlich. »Sieht nicht so aus, als ob sie dazu gekommen wäre, einen Schuss abzugeben. Aber … wo sind die übrigen Waffen? Ich kann nicht glauben, dass irgendein Kopfgeldjäger mit nur einem Gewehr auf Trolljagd geht!«

Wir schauten uns um, aber es war sonst weder etwas bei der Leiche noch in ihrer Nähe. Molly und ich blickten einander an.

»Sie können sie nicht mitgenommen haben«, sagte Molly.

»Warum nicht?«

»Trolle sind nur Tiere! Sie benutzen keine Werkzeuge oder Waffen.«

»Tiere entwickeln sich. Besonders unter dem Druck von äußeren Kräften. Trolle, die gelernt haben, Waffen zu benutzen - also, das ist echt gruselig!«

»Wir müssen weiter!«, drängte Molly, indem sie aufstand und sich noch einmal schnell umschaute. »Wir müssen rein, dem Maulwurf einen Besuch abstatten und wieder raus, bevor die Trolle schwärmen.«

»Entspann dich«, sagte ich. »Sie können uns nichts anhaben. Ich habe meine Rüstung, und du hast deine Zauberei.«

»Deine Rüstung mag dich vielleicht vor direkten Angriffen schützen, aber eine ganze Horde Trolle könnte dich auf den Arsch werfen, dich in ihre tiefen Speisekammern tragen und dich dort einfach festhalten, bis du aus deiner Rüstung rauskommen musst. Und dann …« Wir blickten beide auf die halb aufgefressene Kopfgeldjägerin. »Es gibt eine Grenze für das, was ich momentan mit meiner Zauberei machen kann«, fuhr Molly widerstrebend fort. »Die meisten meiner gespeicherten Ressourcen habe ich aufgebraucht; etwas Großes würde mich wegputzen.«

»Das hättest du nicht vielleicht erwähnen können, bevor wir hier runtergegangen sind?«, fragte ich.

Unvermittelt blickten wir uns beide um: In der Dunkelheit um uns herum waren Geräusche. Molly schwenkte ihr Hexenfeuer hin und her und beleuchtete die dunklen Münder von Tunnelöffnungen vor und hinter uns. Von nicht weit weg drang schrilles Jaulen und Heulen zu uns und das langsame, durchdringende Geräusch von Klauen und Krallen, die über Stein kratzten. Wir sahen rasch den Gang auf und ab, aber die vielen überlappenden Echos machten es unmöglich zu sagen, aus welcher Richtung ein Geräusch kam. Molly und ich standen Rücken an Rücken und atmeten schwer. Und dann, von hinter uns, von dort, wo wir hergekommen waren, erscholl das lauter werdende Geräusch von schweren Füßen in Bewegung, von schweren Körpern, die durch den Tunnel auf uns zugepoltert kamen. Molly spurtete los in die Dunkelheit vor uns, und ich war direkt hinter ihr.

Je tiefer wir kamen, desto verwahrloster wurden die Tunnels. Die alten Backsteinwände fingen an rissig zu werden und auseinanderzufallen. Pilze und Moos fanden hervorragende Bedingungen und verdeckten menschliches Wirken unter runden, organischen Formen. Tunnelöffnungen wechselten mit zerklüfteten Löchern ab, die durch das alte Mauerwerk geschlagen worden waren, finstere Risse wie offene Wunden. Wesen bewegten sich in der Dunkelheit und zischten uns an, wenn wir vorüberkamen. Molly und ich rannten weiter, verlangten uns das Letzte ab, schauten nicht einmal in die Öffnungen hinein, und hinter uns dröhnte das stetig näher kommende Poltern der Trolle.

Ich hätte hochrüsten können und sie binnen eines Moments hinter mir lassen können, aber Trolle waren magieempfindlich. Sie hätten meine Rüstung mühelos aufspüren können, auch in völliger Dunkelheit. Schon die geringe Magie des Hexenfeuers war ein kalkuliertes Risiko.

»Wie weit noch bis zum Maulwurf?«, fragte ich zwischen keuchenden Atemzügen.

»Ich bin … nicht ganz sicher«, antwortete Molly.

»Was?«

»Hey, es ist lange her, dass ich zum letzten Mal hier unten war! Es könnte sein, dass wir ein bisschen … im Kreis gegangen sind.«

Ohne mein Tempo im Geringsten zu verlangsamen, griff ich in meine Jacke und zog den Notfallkompass heraus, den der Waffenschmied mir im Herrenhaus gegeben hatte.

»Ich weiß, wo Norden ist«, sagte Molly, »und es hilft mir wirklich nicht weiter!«

»Dieser spezielle Kompass ist so konstruiert, dass er einem den besten Ausweg aus jeder Notlage zeigt«, erläuterte ich ihr, während ich versuchte, das Ding beim Laufen so ruhig wie möglich zu halten. Die Kompassnadel schnellte hin und her und blieb dann auf Nordost stehen, just als in dieser Richtung eine neue Tunnelöffnung auftauchte. Die Nadel bewegte sich und zeigte genau auf die Öffnung. »Hier entlang!«, sagte ich.

»Deine Familie hat immer die besten Spielsachen!«, meinte Molly, und ohne langsamer zu machen stürmten wir in den neuen Tunnel.

Wir liefen weiter, folgten der Nadel von Tunnel zu Tunnel. Das Jaulen und Heulen kam jetzt von allen Seiten. Der letzte Tunnel endete schließlich in einem natürlichen Steinraum samt Stalaktiten und Stalagmiten. Seltsame mineralische Linien in den Wänden fingen das Hexenfeuer auf, leuchteten hell und drängten die Dunkelheit zurück. Die Kompassnadel pendelte hin und her, als sei sie verwirrt, und ich machte stolpernd Halt, um darauf zu warten, dass sie zu einem Entschluss kam. Molly stützte sich auf mich und schnappte nach Luft; ich selbst war nicht viel besser dran. Mein Arm und meine Schulter brachten mich um.

»Wir stecken in Schwierigkeiten«, stellte Molly fest.

»Nein, wirklich?«, sagte ich. »Jetzt überraschst du mich aber! Zeig uns den Weg zum Maulwurf, du nutzloses Stück Scheiße!« Und ich gab dem Kompass ein paar Klapse, um ihm zu zeigen, dass ich es ernst meinte.

»Nein«, sagte Molly. »Ich meine, dass ich diesen Ort überhaupt nicht kenne. Ich bin auf keinem meiner früheren Abstecher zum Unterschlupf des Maulwurfs jemals hier gewesen. Bist du sicher, dass auf das Ding Verlass ist?«

»Na klar!«, log ich. Die Kompassnadel entschied sich endlich dazu, geradeaus zu zeigen. Ich sah Molly an. »Bereit, noch ein bisschen zu laufen?«

Sie rang sich ein schnelles Lächeln ab. »Ich stelle fest, dass die unmittelbare Aussicht, bei lebendigem Leib gefressen zu werden, wunderbar dazu beiträgt, dass man sich auf eine körperliche Aktivität konzentrieren kann.«

»Ich liebe es, wenn du dich gewählt ausdrückst!«, erwiderte ich.

Und in diesem Moment brach eine ganze Masse von Trollen aus einem Seitentunnel direkt hinter uns hervor, die sich in ihrer Begierde, uns zu erreichen, mit Zähnen und Klauen untereinander bekämpften. Molly und ich sprinteten wieder los in die Richtung, die uns die Nadel anzeigte, aber keiner von uns war mehr so schnell wie vorher. Ich hatte nur einen flüchtigen Blick auf die Trolle hinter uns erhascht, aber das war genug. Ich hatte früher schon Trollen gegenübergestanden, und sie hatten sich nicht verändert. Trolle sind gewaltige, gebeugt gehende Kreaturen von gelbweißer Farbe und langem, hoch aufgeschossenem Körperbau. Gezackte Krallen an knochigen Händen, bösartige Klauen an langen und dünnen Füßen. Aus ihren Rücken, Armen und Beinen ragen Knochensporne und -stacheln heraus. Ihre Köpfe sind lang, pferdeähnlich, mit Mäulern vollgepackt mit dicken, blockartigen Zähnen. Ihre Augen sind groß und schwarz und reglos. Sie laufen auf allen vieren und stützen sich dabei wie Menschenaffen auf den Knöcheln ab. Sie gaben sich nicht mehr mit Jaulen und Heulen ab, jetzt, wo sie ihre Beute gefunden hatten; stattdessen kamen von hinter uns dunkle, tiefe Hustlaute, drängend und hungrig.

Ich schaute nicht zurück. Ich wusste, wie schnell sie sich bewegen konnten. Und was sie tun würden, wenn sie uns fingen.

Sie waren nah, und sie kamen näher. Mein Atem brannte in meiner sich schnell hebenden und senkenden Brust, und mein schlimmer Arm und meine schlimme Schulter schrien vor Schmerz. Neben mir konnte ich Molly nach Luft schnappen hören. Wir wurden langsamer, obwohl wir wussten, dass das unseren Tod bedeutete. Also rüstete ich hoch, nahm Molly in meine starken goldenen Arme und spurtete mit übernatürlicher Geschwindigkeit durch die dunklen Tunnels. Molly hatte keine Luft, um über ein überraschtes Quieksen hinaus irgendwelche Einwände zu erheben, und dann klammerte sie sich fest an mich, als ich durch das Tunnellabyrinth raste. Sie hielt das Hexenfeuer vor uns hin, dessen Licht sich strahlend auf meiner goldenen Rüstung widerspiegelte.

Die Trolle konnten es zwar nicht mit meinem gesteigerten Tempo aufnehmen, aber sie gaben auch nicht auf. Noch immer konnte ich ihr Poltern hinter uns hören. Rissige Backsteinmauern zuckten an uns vorbei, als ich weiterraste, während ich mich auf die Nadel des Kompasses konzentrierte, der bündig in meiner goldenen Handfläche eingebettet lag. Plötzlich schrie Molly auf und zeigte auf eine Stelle vor uns, und ich blieb rutschend stehen. Molly entwand sich ungeduldig meinen Armen, als ich sie absetzte, und rannte zu einer Vertiefung in einer Steinmauer, die für mich genau wie alle anderen aussah.

»Das ist sie! Das ist die Stelle! Ich erkenne sie wieder … Die Tür ist genau hier, Eddie! Genau hier … irgendwo …«

Sie beugte sich dicht heran und fuhr mit den Händen über die raue Steinoberfläche. Ich konnte keine Tür erkennen. Ich drehte mich um und schaute den Weg zurück, den wir gekommen waren. Ich konnte keine Trolle sehen, aber ich konnte hören, wie sie aus der Dunkelheit auf uns zukamen. Sie hörten sich echt wütend an. Molly schrie erneut auf, und ich drehte mich wieder um und sah, wie sie die Umrisse einer Tür in dem dunklen, schmutzigen Stein nachzog.

»Das ist eindeutig die Tür! Führt direkt zum Maulwurf!«

»Dann möchtest du sie vielleicht öffnen?«, schlug ich vor. »Die Trolle werden jeden Moment hier sein.«

»Die kann ich nicht öffnen! Nur der Maulwurf kann sie öffnen!«

»Tritt zur Seite!«, forderte ich sie auf. »Ich werde sie einschlagen.«

»O nein, das wirst du verdammt noch mal nicht!«, sagte Molly, hielt mich an einem goldenen Arm fest und starrte direkt in meine Maske. »Der Maulwurf schätzt seine Ungestörtheit, und du kannst einen Batzen Geld darauf wetten, dass diese Tür durch Sicherheitsmaßnahmen geschützt ist, die alles andere als von Pappe sind! Du brauchst sie nur komisch anzugucken, und sie könnte diesen ganzen Abschnitt in die Luft jagen! Lass mich mit dem Maulwurf reden. Hier gibt es irgendwo eine Sprechanlage …«

Sie ging wieder zur Mauer. »Maulwurf! Hier ist Molly Metcalf; kennst du mich noch? Ich habe den kompletten Satz der Desperate Housewives-DVDs … Hör zu, bei mir ist der neue vogelfreie Drood, und wir müssen unbedingt reinkommen und mit dir reden! Sofort!«

Es gab eine besorgniserregend lange Pause. Die Trolle kamen näher. Ich konnte die Vibrationen ihrer wuchtigen Schritte durch den Steinboden spüren. Ich schloss den Kompass in meiner Rüstung weg und griff nach dem Repetiercolt. Die Trolle brachen aus der Tunnelöffnung hinter uns hervor und griffen mit langen, stachelbewehrten Armen nach uns. Molly schrie mir zu, die Augen zuzumachen, und ich drückte sie zu, gerade noch rechtzeitig, denn sie warf den Trollen den gleichen strahlenden Lichtschein entgegen, den sie auch im Bahnhof Paddington benutzt hatte. Die Trolle blieben schlagartig stehen und fielen übereinander, während sie in unerträglichen Schmerzen nach ihren geblendeten, lichtempfindlichen Augen griffen. Ich trat vor und tötete das erste halbe Dutzend mit meinen goldenen Fäusten, indem ich ihnen die schweren Schädel mit meinen gepanzerten Händen zerschmetterte. Ich schob die Leichen zurück in die Tunnelöffnung und errichtete eine Barrikade damit, um die anderen Trolle aufzuhalten. Die Übrigen drückten heftig von der anderen Seite, und ich und meine goldene Rüstung hatten alle Hände voll zu tun, sie zurückzuhalten.

»Eddie! Die Tür ist auf! Komm!«

Ich drehte mich um und rannte auf die schmale, dunkle Öffnung in der Mauer zu. Molly war schon drin; sie zog mich hinein und schlug dann den Trollen die Tür vor der Nase zu, direkt hinter mir. Die Tür machte äußerlich nicht viel her, aber sie hielt stand, ungeachtet des Hämmerns wuchtiger Fäuste von außen. Die Trolle jaulten und heulten und schlugen in frustrierter Wut gegen die geschlossene Tür.

»Sollten wir uns auf eine Explosion gefasst machen?«, fragte ich Molly.

»Der Maulwurf weiß jetzt, was los ist«, antwortete sie außer Atem. »Er erwartet uns. Eddie, sei nett zu ihm! Er ist keine Besucher gewohnt.«

* * *

Ich folgte Molly durch den engen Tunnel, der von nackten elektrischen Glühbirnen erleuchtet wurde, die in regelmäßigen Abständen von der Decke hingen. Widerwillig rüstete ich ab. Da er selbst ein Vogelfreier war, würde der Maulwurf wohl als Allerletztes einen Drood in voller Rüstung direkt auf sich zukommen sehen wollen. Es war ein gutes Gefühl, nicht mehr zu rennen und wieder zu Atem zu kommen. Ich massierte meinen schmerzenden linken Arm. Aber es half nichts, also schob ich den Schmerz so weit weg, wie ich konnte. Ich hatte an Wichtigeres zu denken. Wenn der Maulwurf genauso verrückt wie der Seltsame John war, dann würde man behutsam mit ihm umgehen müssen.

Die Tunnelwände waren mit überlappenden Schichten mehrfarbiger Elektrokabel behangen, die mit Verteilerkästen und einem ganzen Haufen Technologie durchsetzt waren, die mich vor ein völliges Rätsel stellte. Schwenkbare Überwachungskameras behielten Molly und mich im Auge, als wir den Tunnel hinuntergingen, und ich gab mir alle Mühe, freundlich und auf eindeutig nicht bedrohliche Art hineinzulächeln.

»Du bist doch schon mal hier gewesen«, sagte ich zu Molly. »Wie sieht es bei ihm zu Hause denn so aus?«

»Tja«, antwortete sie, wobei sie meinen Blick geflissentlich mied. »Eigentlich bin ich noch nie hier gewesen. Nicht persönlich, heißt das. Tatsächlich kenne ich niemanden, der schon mal hier gewesen wäre. Du solltest dich sehr geschmeichelt fühlen, dass er uns hereingelassen hat; normalerweise duldet der Maulwurf keine Besucher. Genau genommen neigt er dazu, sie abzuschrecken, indem er jeden umbringt, der hier aufkreuzt.«

»Jetzt mach aber mal halblang!«, sagte ich. »Willst du damit sagen, dass ein echtes Risiko bestand, dass er diese Tür für uns nicht aufmacht? Dass es durchaus hätte sein können, dass er uns da draußen verrecken lässt?«

»Na ja, möglich wäre das schon gewesen. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass er so neugierig auf dich wäre, dass er uns hereinlässt. Außerdem mag er mich irgendwie.«

»Er mag dich!«

»Nein, ich meine, er mag mich.«

»Wie, wenn du noch nie hier warst?«

»Oh, ich war schon viele Male in seinem Unterschlupf, nur nicht leibhaftig. Ich bin ein Dutzend Mal hierher traumgewandert - astrales Reisen. Daher habe ich auch den Weg gekannt. Und wir telefonieren viel miteinander. Er kann sehr redselig sein, solange man die gebührende Distanz wahrt. Ich war mir wirklich ziemlich sicher, dass er uns reinlassen würde.«

»Weil er dich mag.«

»Genau. Ich erweise ihm Gefälligkeiten …«

»Fast habe ich Angst zu fragen: Welche Art von Gefälligkeiten?«

»Ich suche für ihn diese fragwürdigen Pornosites im Internet …«

»Ich hatte recht. Ich wollte es gar nicht wissen.«

Unvermittelt öffnete sich der Tunnel in eine riesige Höhle, die aus dem Gestein tief unter London gehauen worden war. Sie war gewaltig, beinah überwältigend in ihren Ausmaßen, aber der Maulwurf hatte offenbar viel Zeit gehabt, es sich gemütlich zu machen. Die große, offene Bodenfläche war vollgestopft mit jedem modernen Haushaltsgerät, jedem erdenklichen Luxus und Komfort, dazu Berge von Computerausrüstung. Riesige Plasmabildschirme bedeckten die Wände und zeigten bei abgestelltem Ton fünfzig verschiedene Ansichten gleichzeitig. Und in jedem Zwischenraum und an jeder freien Stelle waren Computermonitore, die Dutzende verschiedener Sites auf einmal zeigten. Molly führte mich durch das Apparaturengewirr ins Zentrum der Höhle des Maulwurfs, und dort, genau im Herzen des Labyrinths, saß der Maulwurf persönlich in einem großen, leuchtend roten Lederdrehstuhl. Bis zum allerletzten Moment hielt er uns den Rücken zugewandt, und dann ließ er den Stuhl widerstrebend herumschwingen und starrte uns an. Er hob eine Hand und bedeutete uns, nicht näher zu kommen, und wir blieben in gut drei Meter Entfernung stehen. Er musterte uns von Kopf bis Fuß und machte keinerlei Anstalten, sich von seinem Stuhl zu erheben und uns zu begrüßen.

Ich hatte erwartet, einen untersetzten kleinen Kerl mit blinzelnden Augen hinter einer riesigen Brille anzutreffen, und genau das war der Maulwurf. Er war sehr blass, mit langen, lose fallenden Haaren um ein dickliches Gesicht, in dem es ziemlich viel blinzelte und zuckte. Er trug Bermudashorts, schmuddelige Trainingsschuhe und ein T-Shirt mit dem Aufdruck Tarzan, Herr der Kleidermuffel. Er trug auch einen buddhistischen Talisman an einer Kette um den Hals: das allsehende Auge. Und darüber den goldenen Halsreif der Droods. Eine plumpe Hand kam hoch und berührte ihn, als er mich und den Torques um meinen Hals ansah, und endlich entspannte er sich ein wenig. Er lächelte mich kurz an und nickte Molly zu.

»Hallo, meine Liebe. Es ist so schön, dich wiederzusehen! Und endlich in Person! Ja. Aber bitte, alle beide, kommt nicht näher! Ich bin nicht mehr an Gesellschaft gewöhnt. Nein. Nein. Hallo, Edwin. Mit-Drood, Mit-Vogelfreier. Ja. Normalerweise dulde ich keine Besucher; sie regen mich zu sehr auf. Aber wenn ich einem Mit-Vogelfreien nicht trauen kann … Also, willkommen in meiner Höhle, Edwin, Molly!

Ja.«

»Hübscher Stuhl«, sagte ich, weil mir nichts anderes Höfliches und Nichtbedrohliches einfiel.

»Ja, das ist er, nicht wahr?«, sagte der Maulwurf, und sein Gesicht erhellte sich ein bisschen. »Habe ihn extra bestellt. Durch eine ganze Reihe von Sicherungen. Ich muss sehr vorsichtig sein! In den Armlehnen sind Kühlbehälter für Erfrischungsgetränke. Möchtest du eins?«

»Im Moment nicht«, lehnte ich dankend ab.

»Gut, denn im Moment bin ich gerade ein bisschen knapp dran damit. Ich muss eine neue Bestellung aufgeben. Ja. Ich habe sehr gute Leute, die alle möglichen Sachen für mich hier runterschmuggeln, gegen Entgelt, aber es ist natürlich nicht leicht, Sachen geliefert zu bekommen. Nein. Nein. Ich muss … umsichtig sein. Bei allem. Ich bin hier sicher, geschützt, und ich habe vor, sicher zu bleiben. Abgeschnitten von der Welt. Es ist ja schließlich nicht nur die Familie, die meinen Tod will. O nein!«

»Tatsächlich?«, fragte ich. »Wer ist sonst noch hinter dir her?«

»So ziemlich jeder«, meinte der Maulwurf traurig. »Weißt du, ich kenne so viele Geheimnisse. So viele Sachen, von denen manche Leute nicht wollen, dass andere Leute sie erfahren. Oh, die Sachen, die ich weiß! Du würdest dich wundern! Wirklich. Ja.«

»Wo nimmst du den Strom für die ganzen Geräte her?«, fragte ich mit echter Neugier.

Der Maulwurf zuckte mit den Achseln. »Alle Energie, die ich brauche, zapfe ich von der U-Bahn ab. Und von der Stadt. Sie merken es nicht. Ich habe Strom, Gas und Wasser hier unten, und ich habe noch nie eine Rechnung bezahlt. Obwohl ich könnte, wenn ich wollte. Ich bin wirklich ganz erstaunlich wohlhabend. Oh, ja. So, Edwin; du bist also der neue Vogelfreie! Lass dich anschauen … Ich kenne dich natürlich vom Hörensagen. Der einzige Frontagent, der es geschafft hat, sich die Familie beinah zehn Jahre lang vom Leib zu halten. Unerhört! Ich wusste immer, dass es nicht von Dauer sein würde … Die Familie traut niemandem oder nichts, was sie nicht kontrollieren kann. Ich war übrigens früher Malcolm Drood.«

Er sagte diesen Namen, als ob er erwartete, dass ich ihn wiedererkennen würde, aber das tat ich nicht. Wir sind eine große Familie. Er betrachtete gespannt mein Gesicht, dann runzelte er die Stirn und zog eine Schnute, als er merkte, dass der Name mir nichts sagte.

»So, ich bin also aus der offiziellen Familiengeschichte gelöscht worden. Gestrichen. Das hatte ich mir schon gedacht. Inzwischen bist du bestimmt auch gelöscht worden, Edwin. Soweit es die kommenden Generationen der Familie betrifft, wirst du nie existiert haben. Deine ganze Geschichte - weg, o ja. Alles, was du jemals für die Familie getan hast, all deine Kämpfe und Erfolge und Errungenschaften, sie werden aufgeteilt und anderen zugeschrieben werden. Agenten, die sich noch der Familienlinie unterwerfen und vor der Familienautorität kuschen. Das meiste davon wird vermutlich Matthew zufallen. Er hat schon immer zum harten Kern der Familie gehört, das humorlose kleine Arschloch. Er wird immer ein guter kleiner Soldat sein … Nicht wie wir, was, Edwin? Wir haben unseren eigenen Kopf. Unsere eigene Seele. Ja. Ja!«

»Können sie das wirklich machen?«, wollte Molly von mir wissen. »Dich einfach aus der Familiengeschichte herausschreiben, als ob du nie existiert hättest?«

»Na klar!«, bekräftigte der Maulwurf. »So war es schon immer, wie von den höheren Familienchargen beschlossen. Von denen ich einmal ein geschätztes Mitglied war.«

»Was genau machst du eigentlich hier unten?«, fragte ich ihn freiheraus. »Und was, falls überhaupt, kannst du tun, um mir zu helfen?«

Er blinzelte und guckte mich eine Weile lang an, nicht gewohnt, in seinem eigenen privaten Königreich so unverblümt herausgefordert zu werden. Eine Hand ging zu den Fernbedienungen, die in seine Armlehne eingelassen waren, und dann zog er die Hand wieder weg. Er lächelte erst mich nervös an und dann Molly. Sie schenkte ihm ihr bestes freundliches, ermutigendes Lächeln, und er beruhigte sich etwas.

»Ich beobachte die Welt«, erklärte der Maulwurf ein kleines bisschen selbstgefällig. Er drehte sich in seinem Stuhl hin und her und zeigte mit einer fleischigen Hand auf die vielen Bildschirme. »Hier unten kann ich alles sehen, was passiert, oder zumindest alles von Bedeutung. Ihr würdet nicht glauben, an welchen Orten ich überall versteckte Kameras habe! Ich spioniere, höre ab, und ich mache Notizen. Wenn ihr wüsstet, was Bill Gates als Nächstes vorhat, würdet ihr euch vor Angst in die Hosen machen. Ja. Ja … Ich lebe vom Internet, wisst ihr? Studiere Verschwörungstheorien, suche nach Beweisen für die Arbeit unserer Familie, und dann gebe ich die Informationen an denjenigen weiter, von dem ich glaube, dass er den besten Gebrauch davon machen wird, wer das auch sein mag. Wo immer sie am nützlichsten sind - oder am schädlichsten für die Familie.« Er sah mich sehr ernst an. »Unsere Familie muss aufgehalten werden, Edwin. Zerbrochen, erniedrigt, gestürzt. Für alles, was dir und mir und allen anderen wie uns angetan wurde! Und ich gehöre hundert verschiedenen subversiven Organisationen unter hundert verschiedenen Identitäten an. Oh, ja! Nichts geschieht, nichts wird geplant, ohne dass ich vorher davon erfahre. Ich muss alles wissen, um mir einen Reim darauf machen zu können, was in der Welt passiert. Ja … eine schwierige Arbeit. Eine endlose Arbeit … Aber jemand muss sie machen.«

»Gehörst du vielleicht zufällig zu einer Gruppierung, die sich Manifestes Schicksal nennt?«, fragte Molly.

»Selbstverständlich! Paranoid, fremdenfeindlich und definitiv Sklaven des Persönlichkeitskults - und ausgesprochen schlampig, wenn es um Operationen an der Front geht … Aber ursprünglich hatte ich große Hoffnungen in sie. Ich meine, ja, sie waren und sind in vielerlei Hinsicht völlige und ausgesprochene Scheißkerle, aber immerhin haben sie eine Organisation, die dazu fähig scheint, es mit den Droods aufzunehmen. Ich unterstütze sie aus der Ferne und versuche sie zu mehr praktischer Betätigung zu ermutigen, weil ich finde, dass jeder, der sich der Familie widersetzt, Unterstützung verdient. Ja. Möchtet ihr den Kampf sehen, der gerade in den Straßen über uns zwischen ihren Leuten und den Drood-Frontagenten stattfindet?«

»Der läuft immer noch?«, staunte Molly.

»O ja. Das Manifeste Schicksal wirft den Drood-Agenten alles, was es hat, entgegen. Die armen Narren! Durch direkten Konflikt wird man die Familie niemals stürzen. Nein. Nein …«

»Zeig es mir!«, sagte ich.

Der Maulwurf betätigte die Fernbedienungen in seiner Armlehne, und der größte Plasmabildschirm vor uns zeigte plötzlich ein neues Bild: Truppen des Manifesten Schicksals, die unter freiem Himmel drei golden gerüstete Gestalten angriffen. Die Tiefe und Auflösung des Bilds samt Raumklang waren hervorragend; es war, wie selbst im dichtesten Kampfgetümmel zu stehen. Ich konnte das Blut und den Rauch beinah riechen. Truman musste eine halbe Armee ausgeschickt haben, um die Drood-Frontagenten zu erlegen, die ihm zu trotzen wagten; viel genutzt hatte es ihm nicht. Panzerkampfwagen, mechanisierte Infanterie, Kampfhubschrauber, die Feuer von oben herabregnen ließen … Die Straße war voll dichtem, schwarzem Qualm, der von brennenden Gebäuden und ausgebrannten Panzerfahrzeugen stammte, doch die drei goldenen Gestalten bewegten sich ungerührt mitten hindurch.

Sie preschten mit übernatürlich schnellen Bewegungen durch die vorrückenden Soldaten, töteten mit einer Berührung und gingen weiter. Überall auf der Straße stapelten sich die Toten und die Sterbenden. Mit einem einzigen Ruck warfen die goldenen Gestalten Autos um, während sie unversehrt durch einen Hagel von Geschossen und Explosionen schritten. Ein schwarzer Hubschrauber griff im Tiefflug mit Bordwaffen an, und eine goldene Gestalt sprang senkrecht in die Luft, angetrieben durch die Kraft in ihren goldenen Beinen, klammerte sich an die Seite des Hubschraubers, riss mit einer Hand die Tür ab und verschwand in seinem Inneren. Einer nach dem anderen wurde die Besatzung herausgeworfen und stürzte schreiend in den Tod. Der Agent blieb gerade lang genug an Bord, um den abstürzenden Hubschrauber auf ein Panzerfahrzeug zu lenken, und sprang im letzten Moment ab; er landete mühelos und elegant, während seine gepanzerten Beine den Aufprall schluckten. Das Manifeste Schicksal hatte allen Vorteil moderner Kriegsführung auf seiner Seite, aber es nutzte ihm nicht das Geringste gegen drei Drood-Frontagenten.

So wenige gegen so viele standhalten zu sehen, machte mich fast stolz, ein Drood zu sein. Fast.

»Der Letzte muss Matthew gewesen sein«, meinte der Maulwurf. »War schon immer ein Angeber.«

»Wie zum Teufel wollen sie das vertuschen?«, fragte Molly, die fasziniert auf das Gemetzel starrte. »So viel Tod und Zerstörung, ein Kriegsgebiet mitten in London?«

»Siehst du irgendwelche Medienleute?«, fragte der Maulwurf. »Irgendwelche Fernsehteams oder Pressefotografen? Auch nur Paparazzi? Siehst du nicht. Wenn es heutzutage nicht im Fernsehen kommt oder in der Boulevardpresse steht, dann ist es nicht passiert. Sämtlichen Zeugen in der Zivilbevölkerung wird man die Erinnerung verändern, alle CCTV-Aufnahmen werden verschwinden, und den Schaden wird man denjenigen Terroristen unterschieben, die gerade die Buhmänner sind. Vielleicht wird auch eine Gasexplosion dafür verantwortlich gemacht. Oder ein Flugzeug, das vom Himmel gefallen ist. Wofür die Familie sich eben entscheidet. Ja. Oh, Geschichten werden nach außen dringen, das tun sie immer. Das Internet liebt seine modernen Legenden so sehr! Aber die Wahrheit wird niemand je erfahren. Die Familie hat viel Übung darin, die Wahrheit zu begraben. O ja.«

»Wie kommt es, dass wir es sehen?«, wollte ich wissen. »Wenn da draußen keine Kamerateams sind …?«

»Ich habe Kameras überall, schon vergessen?«, entgegnete der Maulwurf mit stolzem Blinzeln. »Ich kann jede CCTV-Erfassung anzapfen, jedes beliebige Sicherheitssystem, obendrein haben meine Leute noch einen ganzen Haufen verschiedenartiger Überwachungstechnologie an unauffälligen Stellen platziert. Ich habe Augen und Ohren in jeder größeren Stadt auf der Welt. Außerdem in all den kleineren Orten, von deren Wichtigkeit die Welt nichts ahnt. Wenngleich ich immer noch Schwierigkeiten habe, in Area 53 zu kommen … Aber in London passiert nichts, wovon ich nicht früher oder später erfahre. O nein … Ich wusste, dass ihr hierherkommen würdet, um nach mir zu suchen, noch bevor ihr es wusstet. O ja! Ich hatte jede Menge Zeit, darüber nachzudenken, ob ich dich hier reinlassen sollte, Edwin. Es hat dir geholfen, dass du Molly mitgebracht hast. Ein Doppelagent hätte sich nie im Leben mit der berüchtigten Molly Metcalf zusammengetan.«

Von Mollys empörter Miene nahm er keine Notiz, denn seine Augen waren gespannt auf das Chaos auf dem großen Bildschirm gerichtet. Die Soldaten des Manifesten Schicksals waren in vollem Rückzug begriffen und wurden von den drei Frontagenten verfolgt. Der Maulwurf kicherte.

»Gut, dass ich das hier aufzeichne! Ich kenne Leute, die eine ganze Menge Geld dafür bezahlen, Frontagenten der Droods in Aktion zu sehen. Und andere, die sogar noch mehr bezahlen werden, um zu sehen, wie dem Manifesten Schicksal so überzeugend in den Arsch getreten wird! Oh, dabei fällt mir ein! Entschuldigt mich einen Augenblick; ich will mich nur schnell vergewissern, dass die Apparate all meine Seifenopern ordentlich aufzeichnen. Ich hasse es, wenn ich eine Folge verpasse, weil die Geräte wieder mal das falsche Programm aufgenommen haben.«

Er widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem Herumfuhrwerken an seinen Fernbedienungen, dieweil Molly und ich die Gelegenheit nutzten, ein paar Schritte von ihm wegzugehen und leise miteinander zu sprechen. Ich sprach wirklich leise; ich traute es dem Maulwurf durchaus zu, seine eigene Höhle zu verwanzen, nur für alle Fälle.

»Was meinst du?«, murmelte ich. »Können wir ihm trauen? Um ehrlich zu sein, ich werde das Gefühl nicht los, dass er nicht ganz dicht ist.«

»Was hast du erwartet?«, sagte Molly genauso leise. »Er lebt seit Gott weiß wie vielen Jahren zurückgezogen hier unten, und seine einzige Verbindung zur Außenwelt ist das, was er auf seinen Bildschirmen sieht und im Internet erfährt. Wie beim Seltsamen John: Wenn er nicht schon verrückt war, als er hierhergekommen ist, dann ist er es jetzt fast sicher.«

»Aber er sagt, dass er einige Dinge weiß.«

»Oh, ganz sicher! Aber ob sie stimmen oder ob sie nützlich sind … Es liegt an dir, Eddie, ihn dazu zu bringen, dir zu erzählen, was du wissen musst. Ich meine, der Maulwurf ist ein Schatz, aber er lebt buchstäblich nicht mehr in derselben Welt wie der Rest von uns.«

»Warum hast du mich dann überhaupt hierhergebracht?«, fragte ich ein bisschen gereizt.

»Weil der Maulwurf tatsächlich ein paar Dinge weiß, die sonst niemand weiß.«

»Flüstern zeugt von sehr schlechten Manieren«, sagte der Maulwurf laut. »Und wir sind hier nicht zu Hause bei Herrn Ungezogen!«

»Entschuldigung«, sagte ich. »Wir wollten dich nicht stören. Ich hatte gehofft, du könntest ein paar Sachen wissen, die ich erfahren muss.«

»Stelle mich auf die Probe!«, meinte der Maulwurf würdevoll. »Ich bin weise und weiß viele Dinge. Ja. Einschließlich einer ganzen Menge, die ich gar nicht wissen sollte.«

»Weißt du, weshalb man mich für vogelfrei erklärt hat?«, fragte ich rundheraus. »Weshalb die Matriarchin so dringend meinen Tod will?«

»Ach so«, sagte der Maulwurf mit offensichtlicher Enttäuschung. Er faltete die fleischigen Hände über seinem hervorquellenden Bauch. »Ich bin nicht eingeweiht in die inneren Vorgänge in unserer Familie. Nicht mehr. Nein. Ich könnte dir nicht mal sagen, warum ich zum Vogelfreien gemacht wurde.« Er blinzelte mich durch seine schweren Gläser traurig an und seufzte wehmütig. »Damals war ich ein geachteter Familiengelehrter. War nie in der Welt draußen, wollte nie. Ich arbeitete an einer offiziell sanktionierten Historie der Familie. Unbeschränkter Zugang zur Bibliothek, Zugang zu allen Dokumenten, Interviews mit jedem, den ich wollte. Jede Menge faszinierende Geschichten … ehe ich mich's versehe, bin ich auf der Flucht, und die bellende Meute heftet sich an meine Fersen. Zum Glück war ich schon damals so etwas wie ein Voyeur.« Er kicherte. »Nichts Böswilliges. Nicht wirklich. Ich mochte es einfach, Sachen zu wissen … Es zahlte sich allerdings aus; ich war schon aus dem Herrenhaus raus, in meinem Rucksack so viele Wertsachen, wie ich hineinstopfen konnte, ehe die offizielle Anweisung kam, mich aufzuhalten. Oh, ja … Ich tauchte hier unter. Ich wusste von diesem Ort. Ich bin nicht der erste Maulwurf unter London, müsst ihr wissen. Es gab andere vor mir, aus verschiedenen Gründen. Ich habe nur weitergebaut, was sie begonnen haben.

Aber warum ich geächtet worden bin, weiß ich immer noch nicht. Nach all den Jahren des Wühlens und Aushorchens und Lauschens an elektronischen Schlüssellöchern bin ich nicht schlauer als zu Anfang. Nein. Ich kann nur Vermutungen anstellen … Ich muss kurz davor gestanden haben, etwas wirklich Wichtiges zu entdecken, irgendein unergründliches, dunkles Familiengeheimnis, dass die Droods um jeden Preis verborgen halten müssen … Ich wünschte nur, ich wüsste, was es war. Ich würde es allen verkaufen, nur um die Familie für das bezahlen zu lassen, was sie mir angetan hat!«

Wieder eine Sackgasse. Mit finsterer Miene dachte ich nach. »Das erinnert mich stark an das, was dem alten Bibliothekar widerfahren ist«, sagte ich schließlich.

»Ah, ja«, meinte der Maulwurf. »Armer alter William! Du weißt, was aus ihm geworden ist?«

»Ja«, sagte ich. »Molly und ich haben ihn heute Morgen besucht. Er konnte uns nicht viel sagen.«

»Ich bin überrascht, dass er euch überhaupt etwas gesagt hat«, meinte der Maulwurf. »Ich schicke schon seit Jahren Leute zu ihm, die mit ihm reden sollen, ohne Erfolg. Du musst mir unbedingt alles erzählen, was er dir gesagt hat, bevor du gehst, damit ich es aufzeichnen kann! Alles, jedes einzelne Wort! Ja. Ich werde die Aufzeichnungen später studieren, um zu sehen, ob ich Verweise auf irgendwelche brauchbaren Zusammenhänge finden kann.«

»Weißt du, was er herausgefunden hat?«, fragte ich. »Was es war, das ihn in den Wahnsinn getrieben hat? Er erwähnte das Sanktum und das Herz …«

»Tatsächlich? Hat er das? Das ist interessant … Sagt mir allerdings nichts. Nein. Darüber muss ich nachdenken. Ja. Trotzdem kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass wir wahrscheinlich besser dran wären, wenn wir nichts wüssten. Schau dir doch an, was dieses Wissen aus einem brillanten Kopf wie ihm gemacht hat …« Der Maulwurf blinzelte ein paarmal schnell und wechselte dann bewusst das Thema. »Weißt du, ich arbeite immer noch an einer Geschichte der Drood-Familie. Aus sicherer Entfernung. Du wärst überrascht, wie viele Informationen über die Droods es draußen in der Welt gibt, wo sie sie nicht unterdrücken können. O ja. Ständig finde ich alle möglichen schrecklichen Dinge heraus, die unsere Familie gemacht hat, Edwin, über die Jahrhunderte hinweg. Oh, ein paar der Sachen, für die wir verantwortlich sind … Furchtbare, furchtbare Sachen! Ja. Erst neulich habe ich mich auf die wahren Gründe hinter gewissen wichtigen und wohlbekannten Operationen konzentriert. Zum Beispiel, Edwin, weißt du, wieso unsere Familie so entschlossen ist, die Abstoßenden Abscheulichen auszulöschen?«

»Nun, ja«, antwortete ich, »sie essen Seelen.«

»Davon einmal abgesehen«, meinte der Maulwurf. »Die Familie muss sie zum Schweigen bringen, damit niemand anderes herausfindet, dass wir diejenigen waren, die ursprünglich die Dimensionentür geöffnet und die Abstoßenden Abscheulichen in unsere Realität hereingelassen haben. Wir haben sie hierhergebracht, um im Zweiten Weltkrieg als Fußsoldaten gegen die Vril-Gesellschaft zu dienen. Die Vrils waren unter Hitler so mächtig geworden, dass sie eine echte Bedrohung für die Familie darstellten. Hatten ihre eigene Armee und alles. O ja, hinter und unter dem tatsächlichen Konflikt gingen viele geheime Kriege vor sich, von denen die Welt nie erfuhr. Wie dem auch sei, die Abstoßenden Abscheulichen machten ihre Arbeit gut, aber als die Zeit für sie gekommen war, in ihre eigene Dimension zurückzukehren, so wie es vereinbart war, hielten sich die Abscheulichen nicht an die Abmachung und weigerten sich zu gehen. Es gefiel ihnen hier: Die Futterbedingungen waren einfach so gut … Seitdem hat die Familie versucht, sie auszurotten, damit niemand je erfährt, dass wir dafür verantwortlich sind, sie der Welt aufgebürdet zu haben.«

»Guter Gott!«, sagte ich.

»Oh, das ist noch gar nichts!«, fuhr der Maulwurf fort und beugte sich eifrig in seinem Stuhl nach vorn. »Gar nichts, verglichen mit manchen Sachen, die ich herausgefunden habe! Die Familiengeschichte, mit der du und ich groß geworden sind, zeichnet nur die offizielle Version der Ereignisse auf, nicht die Fehlschläge oder das, was verpatzt wurde, oder die geheimen Geschäfte, die entsetzlich schiefgelaufen sind!« Der Maulwurf hielt inne und dachte nach. »Ich muss sagen, ich glaube immer noch, dass das meiste, was man uns gelehrt hat, wahr war … alles in allem … aber man muss es in den richtigen Zusammenhang dessen setzen, wozu alles am Ende diente.«

»Dass wir die geheimen Herrscher der Welt sein konnten«, führte ich seinen Gedanken fort.

»Ja. Manchmal frage ich mich … ob es vielleicht einen anderen Zusammenhang gibt, über diesen hinaus, von dem ich noch nichts weiß. Irgendein ganz geheimer Grund, weshalb wir die geheimen Herrscher der Welt sein müssen, zum Wohle aller. Ich möchte es gern glauben. Ja.«

»Hast du irgendwelche Beweise dafür gefunden?«, fragte ich.

»Nein«, meinte der Maulwurf traurig. »Wenn ich doch nur Zugriff auf die Familienbibliothek hätte! All die verbotenen Bände und geheimen Bücher! Die ganze wahre Geschichte der Drood-Familie erfahren … Aber nicht einmal mit meinen Hilfsmitteln kann ich mich in die Drood-Bibliothek einhacken. Nein. Deshalb haben sie auch immer alles auf Papier bewahrt, wegen Leuten wie mir. Und natürlich ist es mir nie gelungen, auch nur eine einzige Überwachungskamera ins Herrenhaus zu schmuggeln. Nein! Nein …«

»Dann kannst mir also nichts darüber erzählen, warum ich geächtet worden bin?«, blieb ich hartnäckig.

»Etwas musst du wissen«, sagte der Maulwurf scharf: »Es ist immer zu viel Wissen, was einen für die Droods wirklich gefährlich macht. Dinge wissen, von denen sie nicht wollen, dass jemand anders sie weiß. Geheimnisse, die innerhalb ihres feinen inneren Zirkels bleiben müssen. Die Matriarchin, ihr Rat, ihre Günstlinge … Diejenigen, die wirklich die Welt leiten.«

»Aber ich weiß doch gar nichts!«, sagte ich und konnte die Verzweiflung in meiner Stimme hören.

»Das denken sie aber«, erwiderte der Maulwurf schlicht.

Wir blickten uns beide scharf um, als plötzlich laute Musik durch die Kaverne schallte. Anscheinend war Molly langweilig geworden und sie war allein losgezogen, während der Maulwurf und ich über Familiengeschichte diskutiert hatten. Auf einem der Bildschirme hatte sie MTV entdeckt und die Lautstärke hochgedreht. She Bangs von Ricky Martin erfüllte die Luft, dass die laute Salsa von den Steinwänden widerhallte. Und Molly tanzte lustvoll zur Musik, stampfte auf und schüttelte den Kopf und ließ ihr langes Kleid um sich wirbeln. Der Maulwurf und ich sahen beide zu, wie die wilde Hexe zur Musik tanzte, zu hingerissen, um zu protestieren. Es war ein gutes Gefühl, einen solchen Moment glücklicher Unschuld inmitten so düsterer Diskussionen zu erleben. Molly begriff, dass das Leben zum Leben da war und zum Leben im Augenblick. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich mich vielleicht zu ihr gesellt und mit ihr getanzt, aber allein der Gedanke ließ die Schmerzen in meinem wehen Arm noch heftiger werden.

Schließlich war das Lied zu Ende, und der Maulwurf betätigte seine Fernbedienung und drehte die nächste Nummer ab. Molly tanzte noch einen Moment lang weiter und kam dann wieder zu uns zurück. Ihr Gesicht war gerötet und ihre Augen strahlten glücklich.

»Spielverderber!«, sagte sie fröhlich zum Maulwurf und beugte sich tatsächlich zu ihm hinüber, um ihn auf die Wange zu küssen. Der Maulwurf lief feuerrot an. Molly blickte mich an.

»Sind wir hier fertig, Eddie?«

»So gut wie«, antwortete ich. Ich wandte mich wieder an den Maulwurf. »Was weißt du über fremde Materie?«

»Ah!«, sagte der Maulwurf. »Ja, ja! Ich habe von dem Pfeil des Elbenlords gehört! Er hat wirklich deine Rüstung durchschlagen? Interessant … Das war, nun ja, ich will nicht sagen noch nie da gewesen - es gibt Geschichten -, aber das ist der erste bestätigte Fall, der mir jemals untergekommen ist. Mit Bestimmtheit kann ich dir nur sagen, dass fremde Materie aus einer anderen Dimension der Realität kommt, wo es feine Unterschiede in den Gesetzen der Physik gibt. Sodass Sachen, die hier niemals auf natürlichem Wege entstehen könnten, dort möglich sind. Wie fremde Materie mit ihren verblüffend unnatürlichen Eigenschaften.«

»Sie steckt in mir drin«, sagte ich. »Vergiftet mich. Tötet mich. Gibt es ein Heilmittel, ein Gegengift? Etwas, womit ich sie aus meinem Körper austreiben könnte?«

»Ich weiß es nicht«, antwortet der Maulwurf, und ich konnte sehen, dass ihm dieses Eingeständnis wehtat. »Dazu müsste ich genau wissen, wo sie herkam. Nur der Elbenlord könnte uns das sagen, und Elben reden mit niemandem, der kein Elb ist. Ich habe ein paar indirekte Kontakte … Ja. Gib mir ein paar Wochen, und ich könnte etwas für dich in Erfahrung bringen.«

»Ich habe keine paar Wochen«, erklärte ich ihm. »Und allmählich denke ich, dass der einzige Ort, wo mir geholfen werden könnte, der einzige Ort mit den Antworten, die ich brauche, die Bibliothek daheim im Herrenhaus ist.«

»Sie werden dir nicht helfen«, sagte der Maulwurf.

Ich lächelte unfreundlich. Es war ein gutes Gefühl. »Ich hatte nicht vor, sie zu fragen«, erwiderte ich. »Ich dachte eher daran, ins Herrenhaus einzubrechen, die Bibliothek zu durchwühlen und mir zu nehmen, was ich so verdammt dringend brauche. Und falls damit zufällig verbunden sein sollte, ein paar Antworten aus diversen Personen herauszuprügeln, wie beispielsweise aus Großmutters geliebtem Gatten, so wäre das ein gefälliger Bonus.«

»Na, das hört sich doch schon besser an!«, freute sich Molly und klatschte ausgelassen in die Hände. »Hardcore, Eddie! Seit Generationen hat es niemand mehr gewagt, ins Herrenhaus einzubrechen! Lass mich mitkommen! O bitte; ich verspreche dir auch, dass ich eine richtige Sauerei bei euch anstellen werde!«

»Edwin, nein, denk nicht mal dran!«, sagte der Maulwurf eindringlich. »Du weißt, von welchen Sicherheitsmaßnahmen das Herrenhaus geschützt wird. All die schrecklichen Wesen und Mächte, auf die sich unsere Familie verlässt, um ihre Ungestörtheit zu sichern. Sämtliche Passwörter, die du vielleicht gekannt hast, sind mittlerweile mit Sicherheit ausgetauscht worden. Du willst doch nicht als eine der Vogelscheuchen enden, oder?«

»Augenblick mal; die sind echt?«, warf Molly ein. »Ich dachte, das seien bloß Geschichten, um die Leute abzuschrecken.«

»Sie sind echt«, bestätigte ich. »Ich habe sie schreien hören. Meine Familie ist tatsächlich ungebetenen Gästen gegenüber so bösartig und rachsüchtig, wie alle Geschichten behaupten.« Ich blickte den Maulwurf an. »Du weißt wahrscheinlich mehr über die Verteidigungsanlagen des Herrenhauses als jeder andere, der nicht gerade ein Insider ist. Wenn du mit uns kommen würdest …«

»Nein! Nein. Das kann ich nicht!«

»Nicht einmal für eine Chance, es den Leuten heimzuzahlen, die dein Leben zerstört haben?«

»Du begreifst nicht«, sagte der gebrochene Mann, der früher einmal Malcolm Drood gewesen war. »Ich habe diesen Ort nicht mehr verlassen, seit ich das erste Mal hierhergekommen bin. Vor all den Jahren … Das hier ist der einzige Ort, an dem ich mich noch sicher fühle. Allein der Gedanke, ihn zu verlassen … ist mehr, als ich ertragen kann. Ihr seid die ersten leibhaftigen Besucher, denen ich Zutritt gewährt habe, seit ich zum ersten Mal die Tür hinter mir zugemacht und mich von der Welt abgeschottet habe.« Er rang sich ein kleines Lächeln ab. »Ihr solltet euch geehrt fühlen.«

»Keine Gesellschaft - niemals?«, fragte Molly. »Ich habe Gerüchte gehört, aber ich hätte nie tatsächlich gedacht … Wie hältst du das aus?«

»Ich ertrage es, weil die Alternativen schlimmer sind«, sagte der Maulwurf. »Ich lebe jetzt durch meine Bildschirme und im Internet. Ein virtuelles Leben, aber besser als gar keins.«

»Die ganzen Jahre«, sagte ich, »hast du Informationen zusammengetragen und verglichen, aber nie hast du etwas unternommen, um die Wahrheit über unsere Familie den Medien der Welt zu enthüllen. Wieso nicht?«

»Weil ich noch nicht bereit bin zu sterben«, sagte der Maulwurf.

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