Man hört viele Geschichten über Molly Metcalf. Wie sie einmal einem Gespenst solche Angst einjagte, dass es aus dem Haus floh, in dem es umgegangen war. Wie sie Aliens entführte, um seltsame Versuche an ihnen durchzuführen. Wie sie einmal den Teufel höchstpersönlich beschwor, nur um ihm einen endlosen Schwall von Klopf-Klopf-Witzen zu erzählen. Am beunruhigendsten an diesen Geschichten ist, dass viel zu viele davon wahr sind. Aber das ist eben die wilde Hexe Molly Metcalf: Freigeist der Anarchie, Hawkwind-Fan und Königin aller wilden Orte. Feindin der Drood-Familie und allem, wofür sie stehen.
Irgendwie hatte ich das bestimmte Gefühl, dass dieses Treffen nicht reibungslos ablaufen würde.
Aber da war ich nun, auf der Flucht in London, versteckte mich im Nebel und hielt mich an die dunkleren und schmutzigeren Seitenstraßen, weil ich es mir nicht leisten konnte, von alten Feinden oder Freunden gesehen zu werden. Benutzte die geheimen Abkürzungen und unterirdischen Wege, von denen normale Leute nie etwas erfahren. Steuerte widerstrebend auf die einzige verbliebene Person los, die mir vielleicht einen Ausweg aufzeigen konnte aus dem Schlamassel, in dem ich steckte. Meine älteste und grimmigste Feindin, mein genaues Gegenteil in jeder Hinsicht: Molly Metcalf. Süß, zierlich und überwältigend feminin, hatte Molly sich auf verbotene alte Zaubereien spezialisiert, die sie mit viel Leidenschaft und nicht wenig Querdenken anwandte.
Einmal hatte sie die Magnetfelder über London verändert, nur damit die ganzen Zugvögel über das Parlamentsgebäude ziehen mussten und darauf kackten. Einmal hatte sie einen subtilen Zauber über gewisse Bettflöhe und Filzläuse gewirkt, wodurch diese zu ihren Augen und Ohren wurden und sie die sehr hohen Persönlichkeiten ausspionieren konnte, die Stammkunden eines Bordells waren, das sich auf die Reichen und Berühmten spezialisiert hatte. Als Folge davon erfuhr sie viele interessante Sachen und erpresste ihre Opfer skrupellos - ebenso des Geldes wie des Vergnügens wegen. Eins ihrer Opfer musste im Parlament aufstehen und das ganze »Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen« aufsagen, bevor sie ihn vom Haken ließ - und das während der Fragestunde. In Anbetracht dessen, um wen es sich handelte, fand Mollys Vorgehen dieses eine Mal meine uneingeschränkte Zustimmung …
Und natürlich war da dieses eine Mal, als sie eine Gruppe verärgerter Erdelementargeister bestach, damit sie heftige Erdbeben im Felsboden unter dem britischen Festland verursachten. Offenbar wollte sie das Vereinigte Königreich in drei getrennte Inselstaaten aufspalten: England und Wales und Schottland. Diese Aktion konnte ich gerade noch rechtzeitig unterbinden. Und Molly war ein begeisterter Teil des Arkadien-Projekts, einer Zusammenkunft führender Zauberer, die sich der Veränderung der Gesetze der Realität selbst verschrieben hatten, um eine neue Welt hervorzubringen, die sehr viel mehr nach ihrem Geschmack sein sollte. Zum Glück für die Realität und die Welt haben Zauberer die größten Egos außerhalb des Showgeschäfts und spielen nur selten schön miteinander. Irgendwann verwandelte die eine Hälfte von ihnen die andere Hälfte in allerlei Arten von Ungeziefer, und Molly riss die Geduld und sie rief eine Froschplage auf den ganzen Haufen herab.
Noch Wochen danach klaubten in ganz London die Leute Frösche aus ihren Regenrinnen.
Molly Metcalf widersetzte sich Autorität - jeglicher Autorität. Auch hasste sie meinen Schneid, und das aus gutem Grund. Wir hatten bei einem Dutzend Missionen auf verschiedenen Seiten gestanden, wobei ich für Ordnung und sie für Chaos stand. Mehrmals waren wir nahe daran gewesen, uns gegenseitig umzubringen, und keinem von uns war es misslungen, weil er sich nicht genug bemüht hätte. Wenn ich in meiner Rüstung zu ihr ginge, das goldene Gesicht trüge, das zu hassen sie allen Grund hatte, würde sie mich auf der Stelle angreifen. Meine einzige Chance, nah an sie heranzukommen, war als Shaman Bond. Molly kannte Shaman, auf freundschaftliche, wenn auch distanzierte Art, einfach als ein weiteres Gesicht auf der Bildfläche. Wir hatten sogar schon gelegentlich etwas zusammen getrunken, als Teil meiner Tarnung. Das beabsichtigte ich mir zunutze zu machen, um bei ihr einen Fuß in die Tür zu bekommen.
Molly wohnte in Ladbrook Grove, einer Gegend, die einmal als ziemlich schick gegolten hatte, deren Bewohner mittlerweile aber meist in beschränkten Verhältnissen lebten. Ihr Haus war ein einfaches kleines Reihenhaus inmitten einer langen Reihe von Reihenhäusern. Von außen schien es sich nicht von den anderen zu unterscheiden: ein bisschen heruntergekommen, ein bisschen vernachlässigt und dringend eines neuen Anstrichs bedürftig. Die Straße war voller zankender Kinder, die auf ihren Fahrrädern hin und her fuhren, einen Fußball durch die Gegend kickten oder einfach nur herumhingen in der Hoffnung, dass etwas passieren würde. Keins von ihnen beachtete mich, als ich zu Mollys Haustür hochging und die Klingel unter Druck setzte. In einer Straße gab es immer Fremde, die kamen und gingen. Es gab eine lange Pause, so lange, dass ich schon in Betracht zog, noch einmal zu klingeln, und dann öffnete sich die Haustür gerade weit genug, dass Molly herausgucken konnte.
»Shaman?«, fragte sie mit ihrer gewohnt dunklen und schwülen Stimme. »Was führt Sie an meine Tür, ungeladen? Mir war nicht bewusst, dass Sie überhaupt wissen, wo ich wohne! Das tun nämlich nicht viele, und die meisten davon habe ich getötet. Ich hasse es, belästigt zu werden.«
Ich schenkte ihr mein charmantestes Lächeln. Molly Metcalf sah wie eine zerbrechliche China Doll mit großen Brüsten aus. Kurz geschnittene schwarze Haare, riesige dunkle Augen, rubinroter Rosenknospenmund. Sie trug ein weißes Seidenkleid mit Rüschen, möglicherweise um ihrer blassen Haut einen Hauch von Farbe zu verleihen. Sie war schön, auf eine schaurige, bedrohliche und äußerst beunruhigende Art.
»Tut mir leid, dass ich Sie störe, Molly«, sagte ich, als klar wurde, dass das charmante Lächeln keine Wirkung hatte. »Ich muss mit Ihnen reden. Über den neuen vogelfreien Drood, Edwin. Ich weiß etwas über ihn, von dem ich glaube, dass Sie es erfahren müssen. Darf ich reinkommen? Es ist ziemlich dringend!«
Sie dachte einen langen Moment lang darüber nach, wobei sie mich mit ihren ungerührten dunklen Augen musterte, aber schließlich nickte sie und trat zurück und öffnete die Tür gerade ein kleines Stückchen weiter. Ich zwängte mich an ihr vorbei, und sofort schloss sie die Tür hinter uns wieder und sperrte sie ab. Ich bemerkte es kaum. Ich stand mit offenem Mund auf einer ausgedehnten Waldwiese. Ich wusste nicht, was ich hinter der Fassade vorzufinden erwartet hatte, aber das hier war es ganz sicher nicht! Molly wohnte stilvoll.
Mächtige Bäume, schwer beladen mit Sommerlaub, umgaben mich auf allen Seiten. Grasbedeckte Erdhügel bildeten den Boden der Lichtung, und ganz in der Nähe stürzte ein Wasserfall über eine zerklüftete Felswand in einen großen, kristallklaren Teich. Weiter weg unter den Bäumen äste in sicherer Entfernung wachsam Rotwild, während Vögel lieblich sangen und schwere Strahlen goldenen Sonnenlichts durch das Laubdach auf die Erde fielen. Halbschatten verliehen der Lichtung einen verschlafenen, behaglichen Anstrich, und die Luft war geschwängert vom kräftigen, feuchten und erdigen Geruch des Waldlands.
Molly ignorierte mich und wanderte unter eine kleine Baumgruppe. Sie sprach zu den Bäumen in einer weichen, geflüsterten Sprache, die ich noch nie zuvor gehört hatte, und ich schwöre, sie senkten die Wipfel, um zuzuhören. Rehe mit großen Augen kamen heran, um ihre weichen Nüstern an ihr zu reiben, und sie streichelte ihnen mit sanften Händen die Mäuler. Ein rostbraunes Eichhörnchen ließ sich aus den höheren Zweigen fallen und landete leichtfüßig auf ihrer Schulter. Es schnatterte ihr eindringlich ins Ohr und blickte mich dann direkt an.
»Hey, Molly«, sagte es. »Wer ist der Trottel? Neue Männerbekanntschaft? Wurde auch Zeit; du kriegst echt schlechte Laune, wenn du's nicht regelmäßig besorgt kriegst!«
»Nicht jetzt, Liebes!«, sagte Molly nachsichtig. »Geh und spiel ein wenig, während ich mich mit dem netten Mann unterhalte. Und dass du mir nicht lauschst, sonst mache ich etwas Unerfreuliches mit deinen Nüssen!«
Das Eichhörnchen schnitt ihr ein Gesicht und sprang wieder zurück nach oben in den Schutz der Bäume. Ohne Eile kam Molly wieder zu mir und stellte sich vor mich, neben den Teich. Ich beschloss, sie nicht wegen dem sprechenden Eichhörnchen zu fragen. Ich wollte mich nicht mit etwas verzetteln, was nach einer sehr langen Geschichte aussah.
»Sprich zu mir, Shaman Bond!«, forderte Molly mich auf. »Erzähl mir diese Sache, die du weißt! Und es wäre besser, wenn sie gut wäre, oder es gibt ein neues niedliches sprechendes Tier für mein Gartenparadies!«
»Es geht um Edwin Drood«, sagte ich, »den neuen Vogelfreien. Er steckt in echten Schwierigkeiten. Geächtet von seiner Familie, im Stich gelassen von seinen Freunden, ganz allein und auf der Flucht. Man hat ihm guten Grund gegeben, seiner Familie zu misstrauen - oder zumindest einem Teil davon - und er will die Wahrheit erfahren. Er glaubt, dass Sie ihm Dinge erzählen können, die ihm andere nicht erzählen können - oder wollen. Im Gegenzug wäre er bereit, Ihnen das eine anzubieten, dass Sie mehr als seinen Kopf auf einem Spieß wollen: eine Gelegenheit, die ganze korrupte Drood-Familie zu Fall zu bringen.«
»Geht in Ordnung«, meinte Molly leichthin. Sie setzte sich an den Teichrand und zog die Finger träge durch das mit Seerosenblättern bedeckte Wasser. Fische kamen, um an ihren Fingerspitzen zu knabbern. Ich blieb stehen; im Sitzen wäre ich mir zu verwundbar vorgekommen. Molly blickte aus ihren dunklen, nachdenklichen Augen zu mir auf. »Wie passen Sie in das Ganze, Shaman? Damit spielen Sie doch weit über ihrer üblichen Liga. Wieso sollte ich glauben, was Sie mir da erzählen?«
»Weil ich Edwin Drood bin«, sagte ich. »Und immer gewesen bin.«
Ich rüstete hoch, und binnen eines Augenblicks überzog mich das lebende Gold. Molly sprang auf und funkelte mich mit wilden, gefährlichen Augen an. Ihr rubinroter Mund verzerrte sich vor Wut, während sie eine Hand hob und in Zauberspruchposition brachte. Ich zwang mich dazu, ganz still dazustehen, die Arme schlaff an den Seiten und die Hände so, dass deutlich zu sehen war, dass sie offen und leer waren. Sie stand da, sog scharf die Luft ein, und dann kam sie langsam wieder runter und ließ die Hand sinken.
»Nehmen Sie die Rüstung ab!«, sagte sie schroff. »Ich werde nicht mit Ihnen reden, solange Sie die Rüstung tragen!«
Ohne Rüstung wäre ich wehrlos. Sie könnte mich töten, mich foltern oder mich zu ihrem geistlosen Sklaven machen - alles Sachen, die sie mir in der Vergangenheit schon angedroht hatte. Andererseits war ich zu ihr gekommen, also musste ich eine Geste des Vertrauens machen. Der Verwundbarkeit. Ich sprach innerlich die Worte und machte mich auf das Schlimmste gefasst, als das lebende Metall in meinen Torques zurückverschwand. Molly schaute mich an, als ob sie nach Anzeichen für Verrat suchte, und ich erwiderte ihren Blick so gelassen, wie ich konnte. Molly nickte langsam und kam einen einzelnen Schritt näher.
»Ich habe gehört, was sich zugetragen hat, auf der Autobahn. Von all den Wesen, die Ihre Familie Ihnen auf den Hals gehetzt hat. In der ganzen Stadt fällt es den Leuten schwer zu glauben, dass Sie sie alle zurückgeschlagen haben. Ich meine, nichts für ungut, Edwin, aber … keiner in der Szene hätte je gedacht, dass Sie so gut sind. Hat einer der Elben Sie tatsächlich mit einem Pfeil angeschossen?«
Mit langsamen und vorsichtigen Bewegungen knöpfte ich mein Hemd auf und schob es zurück, um ihr die Pfeilwunde in meiner Schulter zu zeigen. Molly machte noch einen Schritt nach vorn, um die verheilte Verletzung genauer in Augenschein zu nehmen. Sie berührte mich nicht, doch ich konnte ihren warmen Atem auf meiner nackten Haut spüren, als sie sich nah heranbeugte. Sie zog sich wieder zurück und begegnete offen meinem Blick. Sie war größer, als ich sie in Erinnerung hatte, und ihre Augen waren fast auf einer Höhe mit meinen. Plötzlich lächelte sie, und es war kein nettes Lächeln.
»Soso, eine Drood-Rüstung ist also doch nicht unverwundbar. Das ist es wert zu wissen. Ich könnte Sie jetzt töten, Shaman. Edwin.«
»Ja«, sagte ich, »das könnten Sie. Werden Sie aber nicht.«
»Wirklich? Sind Sie sich da sicher?«
»Nein«, gab ich zu. »Sie waren noch nie … vorhersagbar, Molly. Aber ich bin nicht mehr Ihr Feind. Ich bin kein Drood: Ich bin vogelfrei. Damit ändert sich alles.«
»Kann sein«, meinte Molly. »Überzeugen Sie mich, Edwin. Ich kann Sie ja später immer noch umbringen, falls es mir langweilig wird.«
Ich entspannte mich ein klein wenig und knöpfte mein Hemd wieder zu. Geben Sie mir den kleinen Finger, und ich kann jeden zu allem überreden. »Sie haben in der Vergangenheit oft genug versucht, mich umzubringen«, fing ich an. »Wissen Sie noch, wie Sie mal das ganze Bradbury Building in die Luft gejagt haben, nur um mich zu kriegen? Ihr Gesichtsausdruck, als ich unversehrt aus den Ruinen spaziert kam! Ich dachte, Ihnen platzt jeden Moment die Schlagader!«
Lächelnd nickte Molly. »Wissen Sie noch, wie Sie mir mal drei Fuß verzauberten Stahl durch die Brust gejagt haben? Nur um dann festzustellen, dass ich, wie alle guten Zauberer, mein Herz wohlbehalten und sicher woanders aufbewahre? Ich dachte, Sie würden einen Anfall bekommen!«
»Wir haben gelebt, was?«, sagte ich trocken, und sie lachte kurz. »Wir können zusammenarbeiten«, fuhr ich fort. »Wir wollen in dieser Sache doch dasselbe, und wer sonst hat so viel gemeinsame Vergangenheit wie wir?«
»Das ergibt Sinn«, sagte Molly. »Auf eine verdrehte Art. Wer kennt uns besser als unsere Feinde? Obwohl ich zugeben muss, dass die Shaman-Bond-Geschichte schon etwas überraschend für mich kam.« Sie legte den Kopf ein bisschen schräg, wie ein Vogel, und betrachtete mich. »Warum sind Sie als Shaman zu mir gekommen? Sie hätten doch genauso gut in Ihrer verdammten Rüstung hier reinplatzen können, geschützt vor all meinen Zaubern, meine Verteidigungen zerschlagen und von mir verlangen können, dass ich Ihnen helfe.«
»Nein, hätte ich nicht«, sagte ich. »Sie hätten mir geantwortet, ich solle mich zum Teufel scheren.«
»Wahr, nur zu wahr. Sie kennen mich tatsächlich, Edwin.«
»Bitte - nennen Sie mich Eddie! Und außerdem wollte ich auf etwas Bestimmtes hinaus: Dass ich meine Geheimnisse mit Ihnen teilen würde, wenn Sie Ihre mit mir teilen. Sie wissen Dinge, Molly, die nur wenige andere Menschen wissen; Dinge, die Sie eigentlich nicht wissen sollten. Und es gibt Dinge, die ich über meine Familie wissen muss. Dinge, die sie vor mir geheim gehalten haben.« Ich schaute mich um. »Und ich würde wirklich gerne wissen, wie Sie einen Wald in Ihr Haus gekriegt haben!«
»Weil ich die wilde Hexe bin! Ich bin das Lachen in den Wäldern, das Versprechen der Nacht, die Wonne der Seele und die Verwirrung der Sinne. Und weil ich einen wirklich guten Innendekorateur angestellt habe. Sie haben mich nie richtig eingeschätzt, Edwin.«
»Eddie, bitte!«
»Ja … Sie sehen wie ein Eddie aus. Nun, wenn es wirklich Antworten sind, was Sie wollen, dann blicken Sie in meinen Wahrsageteich. Aber geben Sie nicht mir die Schuld, wenn die Wahrheit, die Sie erfahren, eine Wahrheit ist, die Sie lieber nicht kennen würden!«
Molly setzte sich wieder neben ihren Teich und raffte ihr langes weißes Kleid um sich herum zusammen, und ich kauerte mich vorsichtig neben sie. Das ganze Ding war ein Wahrsageteich? Es hatte gut und gern sechs Meter von einer Seite zur anderen, was es höllisch leistungsfähig machen musste. Molly klatschte mit der flachen linken Hand auf die Wasseroberfläche, und die kleinen Wellen breiteten sich aus und schoben die Seerosenblätter an den Rand des Teichs. Das kristallklare Wasser schimmerte und strahlte dann hell wie die Sonne, blendete meine Augen, bevor es sich abrupt klärte und mir das Bild eines Mannes und einer Frau zeigte, in zwei verschiedenen Räumen, die am Telefon sprachen. Ich beugte mich vor, als ich sie erkannte: Der Mann war der britische Premierminister; die Frau war Martha Drood.
»Sie können ins Herrenhaus sehen?«, fragte ich, und meine Stimme war kaum mehr als ein Hauchen. »Das sollte eigentlich nicht möglich sein!«
»Ist schon gut!«, beruhigte mich Molly. »Sie können uns weder sehen noch hören. Aber jetzt sperren Sie die Ohren auf und geben Sie Acht! Das hier müssen Sie hören!«
»Nun passen Sie mal auf, das ist Ihr Schlamassel!«, sagte der Premierminister gerade wütend. »Drood-Agenten, in voller Rüstung, die vor den Augen der Öffentlichkeit gegeneinander kämpfen? Gott sei Dank haben die Medien keinen Wind davon bekommen! Haben Sie auch nur eine annähernde Vorstellung davon, welches Aufwands es bedarf, um das wieder in Ordnung zu bringen? Der Wiederaufbau, das Zeugeneinschüchterungsprogramm, die Schweigegelder? Und das alles nur, weil Sie sich nicht selbst um Ihre Drecksarbeit kümmern konnten!«
»Hören Sie auf zu jammern!«, sagte Martha mit einer Stimme, die so kalt wie ein Schlag ins Gesicht war. »Schadensbegrenzung ist doch eins der wenigen Dinge, worin Sie wirklich gut sind. Wahrscheinlich weil Sie so viel Erfahrung darin haben. Sie werden alles tun, was Sie müssen, und Sie werden es effizient und gut und sehr schnell tun, oder ich werde Sie töten lassen und sehen, ob Ihr Ersatz etwas aus der Erfahrung lernt. Vergessen Sie nicht, wo Ihr Platz ist, Premierminister! Ich habe dafür gesorgt, dass Sie gewählt wurden, damit Sie den Familieninteressen dienen konnten, genau wie Ihre Vorgänger. Die Familie weiß es am besten. Immer.«
»Schon gut, schon gut!«, sagte der Premierminister abwehrend. »Ich habe die Sache im Griff, Matriarchin; es gibt nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten.«
»Nein, ich nicht«, pflichtete Martha ihm bei. »Aber Sie.«
Molly nahm die Hand vom Wasser, und das Bild verschwand. Ich starrte sie wie betäubt an. »Wie konnte sie so mit ihm sprechen? Wie konnte er so vor ihr zu Kreuze kriechen? Sie hätte ihm nicht wirklich etwas getan; das ist nicht unser Stil. Die Familie dient den maßgeblichen Regierungsstellen; wir mischen uns nicht ein. Das war immer unsere Aufgabe und unsere Pflicht. Zu bewahren -«
»Armer Eddie«, sagte Molly. »Sie wollten nur die Wahrheit wissen, weil Ihnen nicht klar war, wie sehr sie schmerzen würde. Nun, hier ist sie, also machen Sie sich auf etwas gefasst. Die Familie ist nicht das, wofür Sie sie halten, und war es auch nie. Nur die Droods ganz oben in der Familienhierarchie wissen, wofür die Familie wirklich eintritt. Ihr beschützt die Welt, das stimmt, aber nicht für die Menschen … sondern fürs Establishment. Die Droods arbeiten, um den Status quo aufrechtzuerhalten, um alle ruhig und unter Kontrolle und die Menschen an ihrem angestammten Platz zu halten: unter der Fuchtel derer, die das Sagen haben. Ihr Droods seid nicht die Leibwächter der Menschheit und wart es auch nie: Ihr seid Vollstrecker. Gedungene Schläger, die auf jeden Nagel hämmern, der es wagt, seinen Kopf über die übrigen zu heben.
Und nach Jahrhunderten, in denen ihr Macht und Herrschaft etabliert habt, zusammen mit der gelegentlichen Ermordung jener an der Macht, die es nicht lernen wollten oder konnten, mitzumachen, um zurechtzukommen, haben selbst diejenigen, die das offizielle Establishment bilden, gelernt, eure Familie zu fürchten. Politiker auf der ganzen Welt dürfen nur so lange an der Macht bleiben, wie sie sich gegenüber den Drood-Autoritäten verantworten. Ihre Familie, Eddie, ist der wahre Herrscher der Welt.«
Ich hockte einfach nur da, vor Erschütterung stumm. Meine ganze Welt war mir gerade unter den Füßen weggetreten worden. Schon wieder. Ich hätte gern geglaubt, dass sie log, aber ich konnte nicht: Es ergab alles zu viel Sinn. Zu viel von dem, was ich gesehen und gehört hatte und nicht hätte sollen, so viele Andeutungen und Gemunkel in der Szene, so viele kleine Dinge, die sich nie gereimt hatten … bis jetzt. Es gibt einen Grund, warum die Dinge so sind, wie sie sind; aber es ist kein schöner Grund.
Ich glaube, ich könnte ein wenig geschwankt haben, denn Molly schüttete mir eine Hand voll eiskaltes Teichwasser ins Gesicht. »Kippen Sie mir ja nicht um, Eddie! Nicht, wo ich gerade zum interessanten Teil kommen will!«
»Meine Familie verwaltet die Welt«, sagte ich dumpf, während mir das kalte Wasser unbeachtet vom Gesicht tropfte, »und ich hatte keine Ahnung davon! Wie konnte ich bloß so blind sein?«
»Es gibt nicht nur schlechte Neuigkeiten«, sagte Molly. »Es existiert ein Widerstand. Und ich bin Teil davon.«
Ich schaute sie an. »Sie? Ich dachte, Sie hätten immer gesagt, Sie lehnen es ab, zu irgendeiner Gruppe zu gehören, die welche wie Sie als Mitglieder akzeptiert. Ganz besonders nach dem, was letztes Mal vorgefallen ist, beim Arkadien-Projekt. Und als ob die Geschichte mit der Froschplage nicht schon schlimm genug gewesen wäre, haben Sie schließlich noch diesem Klan-Zauberer die Eingeweide durch die Nasenlöcher herausgezogen!«
»Er hatte mich geärgert«, sagte Molly. »Und überhaupt, ich arbeite mit dem Widerstand, wie und wann es mir gefällt, nicht für ihn.«
Ich dachte darüber nach, und mir gefiel nicht, was ich da hörte. Eine der größten Ängste der Drood-Familie war schon immer gewesen, dass eine andere Organisation entstehen und gegen sie arbeiten könnte. Eine Antifamilie, sozusagen. Es hatte über die Jahrhunderte auch schon mehrere diesbezügliche Versuche gegeben, aber die diversen Bösen waren nie in der Lage gewesen, genug Gemeinsamkeiten zu finden, um sich zusammenzuhalten. Irgendwann war es immer dasselbe: Sie stritten sich über Mittel und Ziele und Fragen des Vorrangs und wer genau eigentlich das Sagen haben sollte; das führte zu Splittergruppen und Kämpfen und endete immer in Tränen. Wenn auch zugegebenermaßen selten Gedärme und Nasenlöcher darin verwickelt waren.
»Die neue Verschwörergruppe nennt sich Manifestes Schicksal«, fuhr Molly ein kleines bisschen großspurig fort, als klar wurde, dass ich für den Moment nichts zu sagen hatte. »Sie - wir - wollen, dass die Menschheit frei von jeglicher Kontrolle von außen ist, sei es durch die Droods oder sonst wen. Frei, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Die Führer der Verschwörergruppe haben Mächte aus dem ganzen Spektrum der Opposition zusammengebracht: Die Abstoßenden Abscheulichen, den Kultus des Purpurnen Altars, das Traum-Mem, die Vril-Gesellschaft, sogar die Lauernden auf der Schwelle.«
»Ah!«, sagte ich. »Die üblichen Verdächtigen!«
»Nun, ja; und auch ein ganzes Heer mächtiger und engagierter Mitläufer. Wie mich. Mehr, als Sie in Ihren kühnsten Träumen für möglich gehalten hätten, alle entschlossen, die Menschheit ein für alle Mal aus dem Würgegriff der Droods zu befreien. Nicht um Macht für sich selbst zu gewinnen, sondern nur um der Bevormundung der Menschheit ein Ende zu setzen. Das ist es, was diese Verschwörergruppe so anders macht: Zum ersten Mal geht es nicht um uns.«
»Diese … Verschwörergruppe«, sagte ich. »Steht sie hinter den jüngsten Angriffen auf das Zuhause meiner Familie?«
Molly zuckte die Achseln. »Mit den tagtäglichen Entscheidungen habe ich nichts zu tun. Ich habe es Ihnen doch gesagt: Ich arbeite nur mit ihnen, wenn mir danach zumute ist, an Angelegenheiten von gegenseitigem Interesse.«
»Dann kann ich davon ausgehen, dass die Identität des Verräters in meiner Familie Ihnen auch nicht bekannt ist? Oder wieso ich für vogelfrei erklärt wurde?«
»Ich weiß, dass es einen Verräter gibt. Das ist nichts Neues. Und falls es eine Rolle spielt, es heißt, er oder sie sei an das Manifeste Schicksal herangetreten, nicht umgekehrt.« Sie blickte mich ruhig, fast mitleidig an. »Armer kleiner Drood; sie haben dir deine Unschuld genommen, und jetzt musst du selbstständig denken. Ich weiß nicht, weshalb Ihre Familie Sie den Wölfen vorgeworfen hat, Eddie, aber ich kenne einige Leute, die es wissen könnten. Warum kommen Sie nicht mit mir und lernen ein paar meiner Freunde und Genossen kennen? Schauen Sie sich an, wie sie wirklich sind, wenn Sie und sie nicht gerade damit beschäftigt sind, sich gegenseitig ans Leder zu gehen! Nicht alle, die von Ihrer Familie verdammt wurden, sind zu einhundert Prozent waschechte Böse. Selbst Monster sind nicht immer Monster, müssen Sie wissen.«
Ich nickte, zu erschüttert, um irgendwelche Argumente vorzubringen. Ich war noch nicht voll auf der Höhe des Geschehens. In meinem Innern war dort, wo einmal meine Familie gewesen war, ein großes Loch, und ich hatte noch nicht rausgekriegt, womit ich es füllen sollte. Molly half mir auf die Füße und ließ dann meinen Arm sofort wieder los. Sie war es noch nicht gewohnt, mir so nahe zu sein. Abrupt drehte sie sich um und ging tiefer in den Wald hinein. Ich eilte ihr nach. Wir gingen eine ganze Weile gemeinsam, wobei wir einen ausreichenden Abstand beibehielten. Wo immer dieser Wald sich befand, es war nicht im Innern ihres Hauses. Über der Tür musste ein Zauber gelegen haben, der mich direkt hierher transportiert hatte, wo hier auch sein mochte.
So viel hatte ich mir gerade zusammengereimt, als wir zu einer weiteren Tür kamen, die allein dastand, aufrecht und ungestützt. Molly blieb davor stehen und murmelte leise Worte. Ich fragte mich, wohin diese Tür wohl führen mochte; welche charmante Unterweltspelunke Molly mir zeigen wollte. Café Nacht vielleicht, wo Vampire sich versammelten, um sich an willigen Opfern zu laben. Es hatte als eleganter, schöngeistiger Treffpunkt begonnen, doch in letzter Zeit war es zu einem Sadomasoladen verkommen. Vampire verliehen der Formulierung das Blut in Wallung bringen ganz neue Bedeutungsnuancen. Vielleicht war es auch der Schwarzmagierzirkel, der einst die Adresse gewesen war, wenn man dunkle Mächte anbetete und sich seines eigenen dämonischen Vertrauten rühmen konnte. Heutzutage hatte der Zirkel mehr von einer Selbsthilfegruppe an sich. Die Ordnung des Jenseits war immer noch dicke dabei, in fabelhaften neuen Hightech-Räumlichkeiten unten am Grafton Way, wo Leute sich für ausgefallenes und verbotenes Wissen als zeitweilige Wirte für außerdimensionale Wesen anboten. Natürlich tendierte die Konversation an diesem Ort ernstlich zur Bizarrerie … Molly stieß die Tür auf und trat hindurch, und ich folgte ihr hastig. Und blieb dann abrupt stehen und blickte um mich.
»Augenblick mal! Das … das ist der Wolfskopf-Club!«
Und er war es; genauso groß und schrill und grell und verteufelt laut wie immer. Molly schaute mich mitleidsvoll an.
»Na klar! Was denn sonst? Der Wolfskopf ist schon immer der heißeste Ort in der Szene gewesen. Jeder kommt hierher; Gute und Böse und die dazwischen. Die Bösen sind Ihnen nie aufgefallen, weil Sie sich immer zu Ihrem eigenen Haufen gesellen, und wir uns alle zu unseren. Das macht den Waffenstillstand im Club ja erst durchführbar. Kommen Sie; lernen Sie ein paar meiner Freunde kennen! Sieht aus, als hätten wir heute Abend ein interessantes Publikum hier.«
Ich war immer noch ein wenig benommen, also nahm sie mich am Arm und zog mich durchs Gedränge auf die Theke zu. Ich wehrte mich nicht. Ich hatte das Gefühl, eine ganze Menge sehr großer Drinks gebrauchen zu können. Mehrere Leute nickten Shaman Bond zu, und noch ein paar mehr nickten Molly Metcalf zu. Einige davon wirkten ziemlich überrascht und nicht wenig neugierig gemacht, uns beide so offen zusammen zu sehen, doch sagte niemand etwas. Der Wolfskopfhaufen versteht die Notwendigkeit von Diskretion und dem gelegentlichen Blindsein auf einem Auge. Molly und ich erreichten schließlich ein Ende der Hightech-Theke, wo der professionell desinteressierte Barmann uns Getränke servierte. Ich nahm einen sehr großen Brandy, Molly einen Southern Comfort, und es endete damit, dass ich beide bezahlte. Sie gab einigen Persönlichkeiten durch Gebärden zu verstehen, sie sollten kommen und ihr Gesellschaft leisten, und sie kamen argwöhnisch herübergewandert.
U-Bahn-Ute kannte ich bereits. Sie wanderte ungesehen zwischen den Fahrgästen umher, die die Untergrundbahnen benutzten, und staubte ein bisschen Glück von jedem ab, den sie streifte. Was der Grund dafür ist, warum so viele Leute ihre Bahn verpassen oder auf dem falschen Bahnsteig landen. Wenn man sie anschaute, konnte man meinen, sie sei nur noch einen Schritt von der Obdachlosigkeit entfernt, so begraben unter Schichten von Kleidern aus der Kleidersammlung wie sie war, aber das war nur, damit sie niemandem auffiel. Es gab immer jemanden, der bereit war, ihr gutes Geld für das geklaute Glück zu zahlen, das sie hortete. Insgeheim lebte U-Bahn-Ute sehr gut.
Das Blumenmädchen war ein uralter walisischer Elementargeist, vor langer, langer Zeit geschaffen aus Rosenblättern und Eulenkrallen von einem uralten Wanderzauberer, der Merlin gewesen sein mochte oder auch nicht. Die Geschichte war jedes Mal anders, wenn sie sie erzählte. Sie sah hinlänglich menschlich aus, meistens jedenfalls. Behandelte man sie richtig, war sie weich wie Rosenblätter für einen; ging man grob oder ungerecht mit ihr um, fuhr sie die Eulenkrallen aus. Und dann war das Beste, worauf man noch hoffen konnte, dass es den Angehörigen - wenn die Behörden endlich das gefunden hatten, was von einem übrig geblieben war - gelänge, einen Leichenbestatter zu finden, der echt auf Puzzles abfuhr. Das Blumenmädchen stellte sehr hohe Anforderungen, weshalb sie immer so sehr enttäuscht von den Männern war. Aber sie blieb optimistisch, und die Polizei fischte weiterhin Körperteile aus der Themse. Das Blumenmädchen kleidete sich in hellen Pastellfarben auf Zigeunerart und trug so viele Armreife, dass jede ihrer Gesten von einem ohrenbetäubenden Klirren begleitet wurde. Sie hatte ein Glas Champagner gehabt und war schon mehr als nur ein bisschen beschwipst.
Buddler Browne war eine kleine, stämmige Persönlichkeit in einem altmodischen Wickelmantel mit Schlammflecken auf den Ärmeln. In der Öffentlichkeit trug er schwere Wollhandschuhe, um seine langen, fürs Graben und Zerreißen gemachten Hornfingernägel zu verbergen. Er trug auch einen breitkrempigen Hut, der den Großteil seines Gesichts im Schatten ließ. Buddler war ein Ghul und roch stark nach Aas und unlängst umgewühlter Erde.
»Ich bin bloß ein Teil der Natur«, sagte er locker. »Ich bring den Müll raus und räum den Abfall weg, kurz, ich halte diese Welt sauber. Ich habe eben Freude an meiner Arbeit; ist das etwa eine Sünde? Nicht jeder hat Sinn für die Art von Arbeit, die ich mache, aber sie muss gemacht werden. Jemand muss all die Leichen essen. Erinnert ihr euch noch an den Bestatterstreik in den Siebzigern? Damals konnten die Leute gar nicht genug für mich tun …«
Und schließlich war da noch Mr. Stich. Er musste mir nicht vorgestellt werden. Jeder kannte Mr. Stich, und wenn auch nur vom Hörensagen: der berüchtigte, nie gefasste Serienmörder des alten Londons. Er hatte unter vielen Namen gearbeitet, durch die langen Jahre hindurch, und ich glaube nicht, dass er selbst noch mit Sicherheit hätte sagen können, wie viele Menschen er genau ermordet hatte, seit er 1888 mit fünf glücklosen Huren im East End seine Karriere begonnen hatte. Er gewann etwas, irgendeine Stärke, aus dem, was er damals tat. Eine Zeremonie des Blutes, nannte er es; ein Zelebrieren des Abschlachtens. Und jetzt macht er immer weiter, und niemand kann ihn aufhalten. Auch wenn er im Wolfskopf bloß er selbst war, trug er trotzdem die dunkle Gesellschaftskleidung seiner Zeit, bis hin zum Abendmantel und Zylinder.
Die meisten dieser Leute kannten Shaman Bond oder hatten zumindest schon von ihm gehört, und es war ein ziemlicher Schock für sie, als Molly mich als Edwin Drood vorstellte. U-Bahn-Ute sah sich nach dem nächsten Ausgang um, Buddler Browne kaute nervös auf seinem mitgebrachten Naschfinger herum, und das Blumenmädchen kicherte mir eulenhaft über ihr Glas hinweg zu. Auf Mr. Stichs Gesicht erschien ein Lächeln, das große, blockartige Zähne mit braunen Altersflecken enthüllte.
»Sie sind also Edwin Drood! Der Mann hinter der Maske. Sie haben wahrscheinlich fast so viel Leichen auf dem Konto wie ich.«
»Ich töte, um dem Leiden ein Ende zu bereiten«, sagte ich. »Nicht, um es zu zelebrieren.«
»Ich diene einem Zweck, genau wie Sie.«
»Wagen Sie es nicht, sich vor mir zu rechtfertigen!«, sagte ich, und meine Stimme war so kalt, dass alle bis auf Mr. Stich einen Schritt zurückwichen.
»Wieso nicht?«, fragte Mr. Stich. »Ich bin ein Teil der natürlichen Ordnung, genau wie unser Mr. Browne hier. Ich sondere das Merzvieh aus der Herde aus, dezimiere die Schwachen und Hilflosen, verbessere den Viehbestand. Jemand muss es tun, wenn die Herde gesund bleiben soll.«
»Sie tun es, weil Sie Spaß daran haben!«
»Das auch.«
Ich setzte innerlich zu den Worten an, die meine Rüstung mobilisierten. Der einzige Grund, weshalb ich Mr. Stich nicht schon vor dieser Begegnung getötet hatte, war der, dass ich nie gewusst hatte, wo ich nach ihm suchen sollte. Ich hatte einige seiner Opfer gesehen - oder das, was er von ihnen übrig gelassen hatte -, und das reichte mir. Molly erriet, was ich vorhatte, packte mich am Arm und zog mich herum, um mir wütend direkt ins Gesicht zu starren.
»Unterstehen Sie sich, mich vor meinen Freunden in Verlegenheit zu bringen!«
»Das ist ein Freund? Mr. Stich? Wissen Sie, wie viele Frauen wie Sie er umgebracht hat?«
»Aber mir hat er nie etwas zuleide getan, und auch keiner meiner Freundinnen, und er war für mich da, wenn ich ihn brauchte. Selbst Monster sind nicht immer Monster, schon vergessen? Ich habe in meiner Zeit aus scheinbar guten Gründen getötet, und bei Ihnen ist es nicht anders. Glauben Sie wirklich, die Welt sieht Sie irgendwie anders als ihn? Wie viele trauernde Familien haben Sie in ihrem blutigen Kielwasser hinterlassen, Edwin Drood?«
Ich atmete langsam und tief durch und zwang mich zu einer Art Ruhe. Ich war wegen Antworten hierhergekommen, und die, die ich brauchte, konnten nur freiwillig gegeben werden. Ich nickte Molly fahrig zu, und sie ließ meinen Arm los. Wir drehten uns wieder zu den anderen um.
»In meiner Familie gibt es einen Verräter«, sagte ich steif. »Ich wäre dankbar für jede Information, die Sie mir geben können.«
»Wie dankbar?«, wollte U-Bahn-Ute wissen. »Sprechen wir von ernst zu nehmenden Summen?«
»Meinen Sie wirklich, ich würde hier stehen und mit Ihnen reden, wenn ich ernst zu nehmende Summen besäße?«, versetzte ich ein kleines bisschen schroff. »Ich bin vogelfrei, verfemt, geächtet. Alles, was ich habe, ist das, worin ich morgens aufstehe.«
»Ich bin sicher, dass wir irgendwie ins Geschäft kommen könnten«, meinte das Blumenmädchen mit ihrer hauchigen Stimme, zwinkerte mir zu und verdarb dann die Stimmung, indem sie kicherte.
»Es gibt einen Verräter im Herzen der Droods«, sagte Buddler Browne. »Das ist Allgemeinwissen. Aber ich glaube nicht, dass irgendwer weiß, um wen es sich handelt.«
»Eine Menge Leute haben Namen genannt«, sagte Mr. Stich. »Aber das ist alles bloß Herumgerate. Eine Menge Leute waren der Meinung, Sie könnten es sein, Edwin. Ein Frontagent, der auf eigene Rechnung arbeitet, weit entfernt von der zentralen Drood-Kontrolle, der einzige Drood, der je von zu Hause fortgelaufen und nicht von seiner Familie wie ein Hund zu Tode gehetzt worden ist. Es haben nur deshalb nicht alle gedacht, Sie wären es, weil das zu offensichtlich gewesen wäre.«
»Und keiner von Ihnen weiß, wieso man mich zum Vogelfreien gemacht hat?«
»Ich habe hin und wieder ein paar Arbeiten für Ihre Familie verrichtet«, sagte Buddler. »Ich hätte geschworen, dass Sie deprimierend peinlich sauber sind, wie die meisten in ihrer Familie. Na gut, stimmt schon, sie leiten die Welt und das alles, aber -«
»Auch ich habe Arbeit für die Droods verrichtet«, sagte Mr. Stich. Er lächelte mich schief an. »Fast jeder hier hat das, das ein oder andere Mal. Es ist die Welt der Droods; wir leben nur darin.«
»Wir würden uns nie mit Abschaum wie Ihnen abgeben!«, versetzte ich, aber es überzeugte mich selbst nicht. Ich wusste nicht mehr, wozu meine Familie fähig war.
»Es gibt viele wie uns«, sagte Molly vorsichtig. »Man erlaubt uns, tätig zu sein, solange wir das Boot nicht zu stark zum Schaukeln bringen. Solange wir den Zehnten bezahlen oder ihnen ab und zu einen Dienst erweisen. Schmutzige Aufträge, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Fälle; die Art, für die ihr regulären Frontagenten nicht geeignet seid. Die Art, von der ihr nie erfahren sollt, weil sie sonst eure kostbare Ehre beschmutzen könnte. Wir alle haben schon die Drecksarbeit der Droods erledigt. Deshalb sind wir auch alle so bereit, sie zu Fall zu bringen.«
In meinem Kopf drehte sich alles. Mir war übel. War es wirklich möglich, dass ich mein ganzes Leben damit verbracht hatte, einer Lüge Vorschub zu leisten? War mir jetzt wirklich noch etwas übrig geblieben, außer meine eigene Familie zu Fall zu bringen?