Kapitel Siebzehn Immer und immer wieder

»So«, sagte ich zum Maulwurf, »gibt es zufällig noch einen anderen Weg hier raus? Ich bin wirklich nicht besonders scharf drauf, mich wieder durch Tunnels voller stinksaurer Trolle durchzukämpfen, nur um wieder zum Bahnhof Blackfriars zu kommen. Wo es wahrscheinlich sowieso vor unfreundlichen Menschen wimmelt, die nach Molly und mir Ausschau halten.«

»Aber sicher gibt es noch einen anderen Weg hinaus!«, bestätigte der Maulwurf. »Du glaubst doch nicht etwa, ich würde zulassen, dass ich irgendwo in der Falle sitze, oder? Nicht mal in meiner eigenen Höhle! Ich mag paranoid, agoraphobisch und krankhaft eBay-süchtig sein, aber blöd bin ich nicht. Nein. Ich bin mir seit jeher darüber im Klaren, dass meine vielen Feinde mich eines Tages aufspüren werden und ich dann mein gemütliches kleines Schlupfloch verlassen muss. Wahrscheinlich rennend. Ja. So, wenn du dir jetzt die Mühe machst, dich in den hinteren Teil des Raums zu begeben, möglichst ohne gegen meine sehr empfindliche Ausrüstung zu stoßen oder sie gar umzurennen, wirst du einen Aufzug für den Notfall finden, der bereit und willens ist, dich direkt an die Oberfläche zu befördern.«

»Wohin an die Oberfläche?«, wollte Molly wissen.

»Überallhin an die Oberfläche«, antwortete der Maulwurf selbstgefällig. »Sagt einfach dem Aufzug, wo ihr hinwollt, und er wird euch dort absetzen.«

»Egal wo in London?«, fragte Molly.

»Egal wo auf der Welt«, entgegnete der Maulwurf. »Du hast schon immer zu klein gedacht, Molly.«

»Ein Aufzug überallhin auf der Welt?«, wunderte ich mich. »Wie ist das denn überhaupt möglich?«

Der Maulwurf schenkte mir ein mitleidiges Lächeln. »Du würdest es selbst dann nicht verstehen, wenn ich es dir erklärte. Sagen wir einfach, die Quantenunschärfe ist eine wunderbare Sache, und belassen es dabei. Es war schön, dir endlich einmal zu begegnen, Molly. Und dir, Edwin. Aber kommt nicht wieder! Euch in der Nähe zu haben, ist einfach zu gefährlich. Tschüss! Sichere Reise! Wieso seid ihr noch hier?«

Molly und ich verstanden den Wink, nickten ihm zum Abschied zu und steuerten den hinteren Teil der Kaverne an. Wo tatsächlich eine völlig normale Aufzugstür bündig in den schwarzen Basalt der Kavernenwand eingelassen war. Die Tür bestand aus glänzendem Stahl, und daneben war ein großer roter Knopf, auf dem AUFWÄRTS stand. Ich sah Molly an.

»Weiter zum nächsten Vogelfreien, nehme ich an. In Ermangelung einer besseren Idee. Du weißt doch noch von einem anderen Vogelfreien?«

»Na klar. Sebastian Drood. Er hat eine nette kleine Wohnung in Knightsbridge, nur ein paar Häuser weiter von dir.«

Kann sein, dass ich ein paarmal erstaunt geblinzelt habe. »Das wusste ich ja gar nicht!«

»Es gibt eine Menge Dinge, die du nicht weißt, aber ich schon«, klärte Molly mich auf. »Du würdest dich wundern! Sebastian gibt es schon seit Ewigkeiten, auch wenn er sich nicht die Mühe macht, viel in Erscheinung zu treten. Er hat es gern, wenn man von ihm als Gentleman-Dieb denkt, aber in Wahrheit ist er nur ein professioneller Einbrecher mit Größenwahn.«

»Kann nicht behaupten, dass ich den Namen kenne«, sagte ich. »Vermutlich ist er aus der Familiengeschichte gestrichen worden, wie der Maulwurf. Und ich.«

»Sebastian ist viel älter als du«, fuhr Molly fort. »Und obwohl er einer gelegentlichen Verschwörung oder Intrige nicht abgeneigt ist, hat er schon immer lieber hinter den Kulissen agiert. Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte, das ist seine Devise. Er macht keinen Finger krumm, wenn nicht irgendwas für ihn dabei herausspringt. Aber möglicherweise hilft er dir … nur um es der Familie heimzuzahlen, die es gewagt hat, ihn zu ächten. Sebastian war immer groß darin, einen Groll zu hegen.«

Sie drückte den AUFWÄRTS-Knopf und verkündete den Namen einer Straße im exklusivsten Teil von Knightsbridge, und die Aufzugstür öffnete sich zischend. Im Inneren sah es aus wie in jedem anderen Aufzug auch. Wir traten ein, und die Tür schloss sich schnell hinter uns. Es gab kein Bedienungsfeld und keine Wahrnehmung einer Aufwärtsbewegung, aber nur einen Moment später öffnete sich die Tür wieder und gab den Blick auf eine Straße frei, die ich als eine erkannte, die nur ein paar Minuten zu Fuß von dort entfernt war, wo ich früher gewohnt hatte. Ich trat hinaus und blickte mich vorsichtig um: keine Spur von irgendwelchen Drood-Agenten. Was es an Überwachung gab, konzentrierte sich wahrscheinlich auf die Gegend unmittelbar um meine alte Wohnung herum, für den Fall, dass ich so dumm sein sollte, dorthin zurückzukehren.

Die Sonne stand hoch am Himmel. Ein halber Tag war verstrichen, und wir hatten noch nicht das Geringste vorzuweisen. Unter dem ständigen Druck fiel es mir schwer, richtig nachzudenken oder einen Plan zu fassen. Ich drehte mich zu Molly um und stellte ohne Überraschung fest, dass die Aufzugstür hinter ihr verschwunden war.

»Wie kommt es, dass du Sebastian kennst?«, fragte ich. »Hast du mit ihm auch schon gearbeitet?«

»Du machst wohl Witze!«, sagte Molly und schürzte verächtlich die Lippen. »Den Mann würde ich nicht mal mit 'ner desinfizierten Beißzange anfassen! Er arbeitet allein, weil ihm sonst niemand traut. Er ist ein doppelzüngiger, hinterhältiger kleiner Scheißkerl, der schon so ziemlich jeden irgendwann mal übers Ohr gehauen hat. Allerdings … er kann der Mann sein, zu dem man geht, wenn man unbedingt einen bestimmten Gegenstand braucht, den einem sonst keiner besorgen kann, legal oder illegal. Für den richtigen Preis kann Sebastian dir alles beschaffen, solange völlig klar ist, dass es keinen Herkunftsnachweis geben wird. Oder irgendeinen Schutz, falls der ursprüngliche Eigentümer herausbekommt, dass du der neue Besitzer bist. Du kannst auch völlig sicher sein, dass es keine Rückzahlung geben wird, wenn sich herausstellt, dass der fragliche Gegenstand nicht ganz genau das ist, was du erwartet hast. Es bleibt dir überlassen, dir Sicherheit zu verschaffen, bevor du irgendwelche Zahlungen leistest. Der Käufer möge sich hüten - und einen verdammt großen Stock bei sich tragen.«

»Und das ist der Mann, von dem du glaubst, er könne mir helfen?«, vergewisserte ich mich.

»Ich sollte vorher besser anrufen«, meinte Molly und nahm ein leuchtend rosa Telefon mit einem Hello-Kitty-Gesicht darauf heraus. »Um sicherzugehen, dass er da ist und bereit, uns zu empfangen.«

»Es könnte unklug sein, meinen Namen über ein Standardtelefon mit ungeschützter Leitung zu erwähnen«, gab ich zu bedenken. »Meine Familie hat Leute, die alles abhören.«

»Da will das Ei wieder klüger sein als die Henne!«, sagte Molly. »Ich habe schon seit Jahren nicht mehr über eine ungeschützte Leitung gesprochen. Die Engel selbst könnten keins meiner Telefonate ohne die Hilfe Gottes abhören.«

Sie entfernte sich ein paar Schritte, während sie die Nummer eintippte. Ich lehnte mich gegen eine dekorative Steinmauer und überdachte meine Lage. Die beiden Vogelfreien, mit denen Molly mich bisher bekannt gemacht hatte, hatten mich nicht beeindruckt. Der Seltsame John war wahnsinnig geworden, und der Maulwurf war vollauf in dieselbe Richtung unterwegs. Beide steckten in Gefängnissen fest, die sie sich selbst geschaffen hatten. Und dieser Sebastian hörte sich nach einem richtigen Drecksack an. Wie konnte ich mich auf irgendetwas verlassen, was so ein Mann mir sagen mochte, falls ich ihn überhaupt dazu überreden konnte, sich mit mir abzugeben? Aber die Zeit drängte, und von irgendwoher musste ich Antworten bekommen. Wenigstens war ich mir ziemlich sicher, die Wahrheit irgendwie zu erkennen, wenn ich sie erst einmal hörte. Mein linker Arm tat höllisch weh, obwohl ich die Hand in den Gürtel gesteckt hatte, damit dieser etwas vom Gewicht trug. Ich massierte die Muskeln mit der anderen Hand, aber es half nichts. Der Schmerz zog sich übelkeiterregend von meiner Schulter hinab in meine Brust. Die fremde Materie breitete sich unerbittlich in meinem Organismus aus. Drei Tage, hatte Molly gesagt. Vielleicht vier. Vielleicht auch nicht. Ich musste meine Antworten bald bekommen, solange sie mir noch etwas nützten.

Die Zeit arbeitete gegen mich …

Molly schaltete ihr Telefon aus und steckte es weg. »Er sagt, er empfängt uns, aber nur, wenn wir sofort kommen. Es sind von hier aus nur ein paar Minuten Fußweg. Aber Eddie … versuch, nett zu sein zu Sebastian. Er kann einem echt auf die Eier gehen, aber … er weiß tatsächlich Dinge, die sonst niemand weiß. Gibt es vielleicht irgendein Wissen, das du ihm im Gegenzug anbieten könntest? Ein Familiengeheimnis vielleicht aus der Zeit nach ihm? Sebastian liebt Geheimnisse! Er kann sie nicht schnell genug weiterverkaufen.«

»Ich bin klug«, erwiderte ich, »und weiß viele Dinge. Und ich werde Sebastian gegenüber die Höflichkeit in Person sein. Genau bis zu dem Punkt, wo er sich weigert, mir etwas zu erzählen, was ich wissen muss, und dann werde ich ihn gegen die nächste Wand klatschen, bis seine Augen die Farbe wechseln. Ich habe wirklich Lust, jemand Widerlichen windelweich zu schlagen; so ein Tag war das heute. Stellt irgendwas davon ein Problem für dich dar?«

»Machst du Witze?«, meinte Molly. »Ich halte ihm die Arme fest, während du ihn schlägst!«

* * *

Es stellte sich heraus, dass Sebastian eine prächtig ausgestattete Wohnung im ersten Stock über einem sehr feinen und exklusiven Antiquitätengeschäft namens »Vergangene Zeiten« hatte. Ich riskierte einen schnellen Blick durchs Fenster: Der Laden war voll von jenen feinen Sachen, die man sich bestimmt nicht leisten kann, wenn man nach dem Preis fragen muss. Molly guckte mir über Schulter, schnaubte geringschätzig beim Anblick des Plunders und drückte dann auf die Klingel neben der diskreten Seitentür. Neben der Klingel befand sich ein Namensschildchen, aber keins, das auf einen Sebastian Drood hätte schließen lassen. Nach einer sehr langen Pause, in der uns Sebastian irgendwie auf unauffällige und wahrscheinlich hoch geheimnisvolle Weise überprüfte, schwang die Seitentür vor uns auf. Dahinter befand sich eine schmale Treppe, die nach oben führte. Schmal genug, um sicherzustellen, dass etwaige Besucher in Sebastians Unterschlupf sie nur im Gänsemarsch erklimmen konnten. Gutes Defensivdenken. Molly ging vor und ich folgte ihr, wobei ich spöttisch die schrecklich veralteten Kupferstiche mit Jagdszenen an der Wand belächelte.

Die Stufen endeten vor einer weiteren Tür; massive Eiche, verriegelt mit Kalteisen und Silber. Sie öffnete sich von selbst, als Molly und ich uns näherten, und einer nach dem anderen betraten wir die prachtvoll eingerichtete Wohnung dahinter. Sebastian erwartete uns; er stand, elegant und selbstsicher, in der Mitte eines hellen, geräumigen Wohnzimmers und wartete darauf, dass wir zu ihm kamen. Sebastian war groß, gut aussehend und sehr etepetete. Das konnte man erkennen. Er hatte viel Mühe darauf verwandt, dass man es erkennen konnte. Er musste Ende sechzig sein, aber sein Haar war noch pechschwarz und sein Gesicht hatte ein gewisses straffes Aussehen, das von häufigen Liftings und regelmäßigen Botoxinjektionen erzählte. Er hatte kalte, blaue Augen und ein Lächeln, das so schnell kam und ging, dass es überhaupt nichts bedeutete. Er trug einen weißen Rollkragenpullover über einer lässig teuren Freizeithose und der Art von handgearbeiteten Schuhen, für deren Kauf man eine zweite Hypothek aufnehmen muss. Der Rollkragen verhüllte den Goldreif um seinen Hals, aber ich konnte erkennen, dass er da war.

»Molly! Eddie!«, sagte er mit der tiefen, sonoren Stimme, die man nur durch Übung bekommt, vermutlich vor dem Spiegel. »Tretet ein! Ich bin hocherfreut, euch beide zu sehen!«

Er drückte uns beiden fest die Hand, setzte sich jedoch nicht und bot auch uns keinen Platz an. Anscheinend wurde nicht erwartet, dass wir lange blieben. Sebastian nahm eine antike, silberne Schnupftabakdose aus der Hosentasche und öffnete sie geziert. Ein versteckter Mechanismus spielte eine klingelnde Version von The British Grenadiers, während Sebastian sich zwei kleine Hügel aus dunklem, pulvrigem Tabak auf den Handrücken klopfte und sie nacheinander in beide Nasenlöcher schnupfte. Anschließend nieste er explosionsartig in ein Seidentaschentuch, ehe er dieses und die Schnupftabakdose wieder wegsteckte. Es war eine Vorstellung, die dazu vorgesehen war, das Publikum zu beeindrucken. Hätte jemand anders sie gegeben, ich hätte applaudiert.

»Dieses Zeug ist schlimmer als Koks«, sagte Molly. »Du wirst schon sehen; eines Tages wird dir das ganze Naseninnere einfach herausfallen.«

»Ich mag meine Laster altmodisch«, erwiderte Sebastian gänzlich unbesorgt. »Ich finde die Qualitäten der Vergangenheit so viel befriedigender als die der Gegenwart. Wie ihr sehen könnt …«

Mit einer graziösen Geste einer langfingrigen Hand deutete er auf den Inhalt seiner Wohnung. Sie war luxuriös ausgestattet, jedes Objekt von höchster Qualität. Auf dem auf Hochglanz gebohnerten blanken Bretterboden stand antikes Mobiliar aus einem Dutzend verschiedener Perioden, mit Bedacht so angeordnet und präsentiert, dass die unterschiedlichen Stile nicht disharmonierten. Originalgemälde an den Wänden, jedes sorgfältig beleuchtet von verborgenen Schienensystemen. Dazu eine Hand voll viktorianischer Federzeichnungs-Erotika, die von fröhlich-vulgär bis zu echt fürchterlich reichten. Es hing sogar ein Lüster aus Glas und Diamanten an der Decke. Und trotz all der Mühe, die er in das Ganze investiert hatte, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass Sebastians Wohnzimmer mehr nach einem Schaukasten als nach einem Raum aussah, in dem wirklich jemand wohnte.

»Sehr hübsch«, sagte Molly. »Sehr … du. Gehört der Antiquitätenladen unten auch dir?«

»Oh, selbstverständlich! Er leistet hervorragende Dienste als Tarnung, wenn ich etwas Neues hereinbringen will, das ich gerade … erworben habe. Ich habe diese entzückende junge Dame, die den Laden für mich führt. Bezaubernde wilde Hummel! In Wirklichkeit ist sie bloß ein Golem mit einem kaschierenden Glamourzauber, aber den Kunden scheint nie etwas aufzufallen. Nun denn, Eddie; lass uns übers Geschäft reden!«

»Ja«, sagte ich. »Lass uns.«

Er musterte mich, als ob ich ein Objekt sei, dessen Kauf er in Betracht zöge, vermutlich wider bessere Einsicht. »So, du bist also der neuste Vogelfreie. Niemand Geringeres als der alte Eddie Saubermann. Die ganze Gegend wimmelt von Familie, die nach dir sucht; ich habe mich kaum noch einen Schritt aus meiner Wohnung herausgetraut. Ich war wirklich ziemlich erschüttert, als ich die Neuigkeiten erfuhr. Da gebe ich mir all die Jahre über solche Mühe, meine Anwesenheit vor dir geheim zu halten … und jetzt bist du offiziell eine Schande, genau wie ich. Weißt du, weshalb ich die Familie verlassen habe, Eddie?«

»Nein«, antwortete ich. »Aber ich bin sicher, du wirst es mir gleich erzählen.«

Molly stieß mir ihren Ellbogen in die Rippen, aber Sebastian bemerkte es nicht. Er hatte eine Geschichte zu erzählen, und nichts außer dem Auftauchen des Tods persönlich hätte ihn davon abhalten können.

»Die Familie schickte mich in die Welt hinaus, um ihr Agent zu sein«, sagte er prahlerisch. »Doch ich entschied, dass ich die Welt viel mehr mochte als die Familie. Nie war in der Familie Raum für persönliche Ambitionen oder Weiterkommen oder den Erwerb schöner Dinge. Also ging ich einfach fort, verschwand hinter den Kulissen und machte mich daran, den Torques für meine eigenen Zwecke zu gebrauchen. Um mein Leben zu bereichern und so viel angenehmer zu gestalten. Und das habe ich! Ich bin ganz außerordentlich erfolgreich in meinem gewählten Beruf geworden, und ich bin einer der am meisten bewunderten professionellen Gentleman-Diebe in London. Es hätte auch die Welt sein können, aber ich reise so furchtbar ungern.

Mit Hilfe meiner Rüstung kann ich in jedes Geschäft einbrechen und mitnehmen, wonach mir gerade der Sinn steht. Und das mache ich auch. Alarmanlagen und Sicherheitssysteme haben keine Bedeutung für mich, wenn ich in meiner Rüstung stecke. Ich komme und ich gehe und ich nehme mir, was ich will, und niemand merkt etwas davon, bis es viel zu spät ist. Scotland Yard - steht wieder einmal vor einem Rätsel! Ich habe die allerbesten Antikmöbel, alles vom Louis-quinze-Stuhl bis hin zum Hepplewhite-Sideboard. Berühmte Gemälde in ihren Originalrahmen! Was immer meine Aufmerksamkeit erregt; nichts ist vor mir sicher.

Weißt du, wie ich das alles aufspüre? Ich mache es mir einfach zur Aufgabe, regelmäßig die besten Auktionen zu besuchen und mir zu notieren, wer was kauft. Es gibt zwar immer welche, die sich hinter anonymen Geboten verstecken, aber die Sicherheit der Auktionshäuser ist ein Witz für unsereins, Eddie. All die schönen Dinge in dieser Wohnung gehörten ursprünglich jemand anderem, der sie nicht behalten konnte - sie vermutlich ohnehin nicht zu schätzen wusste. Nicht annähernd so sehr wie ich. Ich bin sicher, hier bei mir sind die schönen Dinge alle viel zufriedener!«

»Augenblick mal!« Molly pirschte sich an einen Beistelltisch heran und schnappte sich die stilisierte Statuette einer schwarzen Katze. »Die gehört mir, du Dreckskerl! Ich hab mich immer gefragt, was mit ihr passiert ist … Das hier ist die Manxkatze von Bubastis! Ich bin durch alle möglichen Höllen gegangen, um sie in die Finger zu kriegen, und dann ist sie vor vier Jahren einfach aus meiner alten Wohnung verschwunden!«

»Tatsächlich?«, meinte Sebastian ungezwungen. »Ich erinnere mich ehrlich nicht mehr daran, wo ich dieses spezielle Stück erworben habe.«

»Es gehört mir!«, wiederholte Molly bedrohlich.

»Es gehört dir nur, wenn du es behalten kannst, Molly-Liebes. Aber wenn du so viel Wirbel darum machen willst …«

»Diese Statuette verlässt mit mir diese Wohnung!«, erklärte Molly und kam gemessenen Schrittes an meine Seite zurück, die Manxkatze fest im Griff. »Und wenn ich nur ein Wort des Einspruchs von dir höre, Sebastian, dann reiße ich dir die Nippel ab!«

»Die liebe Molly«, sagte Sebastian. »Freundlich wie immer!«

»Ich dachte, wir wollten höflich sein«, sagte ich amüsiert.

»Sei du höflich!«, knurrte sie. »Mir würde er es eh nicht abnehmen. Die Manxkatze besitzt Kräfte, die ich schon vor langer Zeit in ihr angelegt habe; sie kann mir viele Energien zurückgeben, die ich unlängst aufgebraucht habe. Allerdings wird das eine Weile dauern.«

Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Sebastian, den Mollys Aktion nicht im Geringsten aus der Fassung gebracht zu haben schien. »Wie konntest du dich so lange vor der Familie versteckt halten?«, fragte ich ihn. »Teufel auch, wie konntest du dich so lange vor mir versteckt halten?«

»Oh, ich bin ziemlich sicher, dass die Familie immer ungefähr gewusst hat, wo ich mich aufhalte«, sagte er lässig. »Aber selbst sie sind nicht so dumm, die Sache ins Wanken zu bringen. Siehst du, vor einigen Jahren ergriff ich die Vorsichtsmaßnahme, über die ganze Welt verteilt gewisse sehr detaillierte Informationspäckchen bei einer Reihe von Journalisten und anderen interessierten Parteien zu hinterlegen. In gut verschlossenen Kästchen, die so eingestellt sind, dass sie sich im Fall meines Todes automatisch öffnen. Nicht einmal unsere Familie konnte sicher sein, allen davon habhaft zu werden, also ließ sie mich in Ruhe. Genau genommen täte sie sogar gut daran, dafür zu sorgen, dass mir nichts zustößt …«

»Wie überaus … praktisch«, sagte ich. »Aber du könntest immer noch bei einem Unfall umkommen. Was dann?«

Er zuckte die Schulter. »Wenn ich tot bin, ist es mir egal. Ich bin sicher, die Familie wird sich etwas einfallen lassen. Das tut sie immer.« Er sah mich nachdenklich an. »Ich glaube wirklich nicht, dass ich dir helfen kann, Eddie. Was immer du auch willst, ich kann es dir nicht besorgen. Die Familie ist sehr verärgert wegen dir, und ich habe keine Lust, zwischen die Fronten zu geraten. Dieser Tage passe ich nur noch auf mich selbst auf. Und bevor du fragst - nein, ich habe keine Ahnung, weshalb man dich für vogelfrei erklärt hat. Ich habe keinen Kontakt zu irgendjemanden in der Familie; ich spreche nicht einmal mit anderen Vogelfreien. Du verschwendest nur unser beider Zeit, indem du hier bist.«

»Aber warum hast du dich dann bereit erklärt, mich zu sehen?«, wollte ich wissen und merkte, wie sich eine allmähliche, heiße Wut in mir aufbaute. »Ich habe keine Zeit zu verschwenden!«

Er lächelte mich spöttisch an. »Ich habe mich immer gefragt, ob du derjenige sein würdest, den sie schicken, um mich zu töten, falls sie jemals einen Weg finden, meine kleinen Vorsichtsmaßnahmen unbrauchbar zu machen. Du hast schließlich auch den armen Arnold getötet, und du hast die ganze Zeit über nur ein paar Häuser weiter gewohnt.«

»Wie hast du den Blutigen Mann getötet, Eddie?«, fragte Molly. »Ich meine, die Rüstung macht doch alle Droods unverwundbar, dachte ich?«

»Nur wenn wir sie anhaben«, antwortete ich. »Ich überwachte ihn, lernte seine Routine kennen und schoss ihm dann aus sicherer Entfernung mit einem Gewehr mit Zielfernrohr durch den Kopf. Er hat nie erfahren, dass ich da war, hatte nie die Chance hochzurüsten. Sehr effektiv, wenn auch nicht besonders ehrenhaft. Aber ich war damals viel jünger, und er war der Blutige Mann. Bei einem Mann wie ihm geht man kein Risiko ein.«

Sebastian lächelte. »Komisch, dass gerade du das sagst, Edwin.«

Plötzlich stach mir etwas in den Hals, im selben Moment, als ich das Fensterglas neben mir zersplittern hörte. Ich fing an, mich umzudrehen. Ich dachte: Ich bin angeschossen worden! Und dann knickten meine Beine unter mir ein, und ich sank sehr langsam auf die Knie. Ich griff mit einer Hand an meinen Hals, und sie schien eine Ewigkeit zu brauchen, bis sie dort war. Der Schall wurde langsamer und meine Sicht verschwamm, als ob ich unter Wasser wäre. Meine taub werdenden Finger fanden einen gefiederten Pfeil in der Seite meines Halses, knapp über dem Torques, und mit letzter Kraft zog ich ihn heraus. Beruhigungsmittelpfeil, dachte ich, und das Wort schien in meinem Kopf hin und her zu echoen. Ich versuchte, meine Rüstung hochzurufen, aber meine Gedanken waren schon zu schwerfällig, um sich auf die aktivierenden Worte zu konzentrieren. Ich sackte zusammen, schlug in einem hilflosen Haufen auf dem Boden auf und spürte den Aufprall nicht einmal.

Das alles spielte sich in wenigen Sekunden ab. Molly warf sich neben mich, unter das zersplitterte Fenster, außer Schusslinie eventueller weiterer Pfeile. Sie legte mir die Hände links und rechts auf die Wangen und murmelte eindringlich etwas. Ich konnte ihre Berührung spüren, obwohl ich sonst nichts spüren konnte, und dann fühlte ich feine Zauberkräfte in mich fließen und gegen die Wirkung des Beruhigungsmittels ankämpfen. Mein Körper war immer noch taub, immer noch hilflos, aber ich bekam allmählich wieder einen klaren Kopf. Molly starrte wütend zu Sebastian hoch.

»Du Scheißkerl! Du hast uns verkauft!«

»Selbstverständlich«, sagte er mit sanfter Stimme, während er seine ganze Aufmerksamkeit dem Zurechtrücken eines Ärmelaufschlags widmete. »Das ist mein Metier. Aber sei versichert, dass ich einen sehr guten Preis bekommen habe. Für euch beide. Ein gewisser Mr. Truman vom Manifesten Schicksal war hocherfreut zu erfahren, wo und wann genau er euch mit Sicherheit finden kann. Ich rief ihn noch in dem Moment an, als ich mit dir zu reden aufhörte. Und dann brauchte ich euch nur noch zu unterhalten, bis seine Leute in Stellung waren.«

Die Tür sprang auf und ein Dutzend bewaffneter Männer flutete in die Wohnung, alle in der vertrauten schwarzen Uniform. Sie schauten sich rasch um, um Gewissheit zu haben, dass der Ort sicher war, wobei ihre Gewehre unentwegt auf Molly und mich gerichtet waren. Molly verhielt sich sehr still. Ich zuckte unmerklich mit den Fingern. Mollys Zauberkräfte bekämpften das Medikament, aber nur sehr langsam. Ich sah auf die Gewehre und fragte mich, warum die Soldaten nicht bereits am Schießen waren - ich an ihrer Stelle wäre es gewesen. Einer der Männer kniete neben mir nieder, fühlte den trägen Puls in meinem Hals und stand zufrieden wieder auf. Er brüllte durch die offene Tür, und seine Einheitsführerin kam hereingeschlendert. Und wäre ich nicht ruhiggestellt gewesen, ich hätte vor Schreck und Wut aufgeschrien.

Ich kannte die Einheitsführerin. Sie trug alte, abgenutzte Militärklamotten, die steif von getrocknetem, schwarzem Blut waren, das von Kämpfen in einer Höllendimension stammte. Sie trug ihr schwarzes Haar kurz geschnitten, damit Feinde es in einem Nahkampf nicht greifen konnten. Ihr narbiges Gesicht war nicht mehr hübsch und auch ihre nackten, muskulösen Arme waren von Narben überzogen. Ich wusste all diese Dinge über sie, weil ich sie kannte: Es war Janitscharen-Jane, eine alte Freundin und Kollegin von Molly und mir. Nur dass es nicht sie war. Nicht wirklich. Um den Hals trug sie an einer Kette ein kandarianisches Amulett, und das bedeutete, dass dies in Wahrheit mein alter Widersacher Archie Leech war.

Archie Leech, Körperusurpator und Serienseelenschänder, der einen weiteren gestohlenen Körper in Besitz genommen hatte. Nur hatte er diesmal jemanden genommen, der mir etwas bedeutete, zweifellos als Rache dafür, was ich ihm in jener Eingangshalle in der Harley Street angetan hatte. Archie/Jane stolzierte in Sebastians Wohnung hinein und grinste auf mich herab, wobei sie stolz das Gewehr schwenkte, mit dem sie auf mich geschossen hatte. Und dann schoss sie Sebastian auch einen Beruhigungspfeil in den Hals. Sebastian stürzte zu Boden, zappelte einen Moment lang unbeholfen rum und war dann still, auf seinem Gesicht ein fast komischer Ausdruck des Schreckens. Ich hätte gelacht, wenn ich gekonnt hätte: Der Verräter verraten! Archie spazierte mit übertrieben maskulinen Bewegungen zu ihm hin, die in Janes Körper völlig fehl am Platz wirkten.

»Das hättest du aber wirklich kommen sehen müssen, Sebastian! Allein zu leben hat dich verweichlicht. Immer den Gentleman-Dieb zu spielen. Bist großspurig geworden, hast geglaubt, keiner könnte dir etwas anhaben. Dir hätte doch klar sein müssen, dass zwei Droods immer mehr wert sein würden als einer.« Sie drehte sich abrupt wieder um, sah auf mich herab und lächelte zufrieden. »Wie findest du meinen neuen Körper, Eddie? Ich dachte, ich schlüpfe mal in was Bequemeres. Weißt du … ich hasse es, wenn du meine Körper zerstörst, bevor ich mit ihnen fertig bin. Bevor ich das letzte bisschen Spaß aus ihnen herausgequetscht habe. Also nahm ich diesmal große Mühen auf mich und nahm eine Freundin von dir, nur um zu beweisen, dass ich dir immer sehr viel mehr wehtun kann als du mir.«

Sie trat mir ein paarmal in die Rippen, bloß um seinen Standpunkt zu unterstreichen. Die Wucht der Tritte reichte aus, um mich vom Boden abheben zu lassen, aber ich spürte sie kaum. Meine Hände und Füße kribbelten und mein Gesicht war nicht mehr so gefühllos, aber das war auch schon alles. Mollys Magie wirkte. Mein Kopf wurde zuerst klar. Ich hätte wahrscheinlich hochrüsten können, aber ich wollte es nicht riskieren, nicht jetzt schon. Nicht mit so vielen Gewehren, die ebenso auf Molly wie auf mich gerichtet waren. Also lag ich still, beobachtete und hörte zu und wartete den rechten Augenblick ab. Molly blieb unten neben mir und verhielt sich auch ganz still, um Archie keinen Grund zu geben, sie gleichfalls zu sedieren.

»Was passiert jetzt?«, fragte sie mit ausgesucht ruhiger und nicht bedrohlicher Stimme.

»Ich übergebe euch drei Mr. Truman«, antwortete Archie, »meinem augenblicklichen und sehr großzügigen Arbeitgeber. Er brennt darauf, zwei Droods und ihre Torques in die Finger zu kriegen. Soviel ich weiß, steht ein ganzes Chirurgenteam Skalpell bei Fuß, um seine zwei neuen Errungenschaften Stück für Stück auseinanderzunehmen, bis sie herausfinden, was das so Besondere an einem Drood und seinem Torques ist. Ein sehr langsamer, sehr schmerzhafter Prozess, denke ich mir … Vielleicht lässt Mr. Truman mich ja zuschauen, wenn ich ihn nett frage. Offensichtlich war er sehr beeindruckt davon, was drei gepanzerte Agenten mit der teuren und hervorragend ausgebildeten Armee, die er ihnen entgegenwarf, anstellen konnten. Er kann es kaum erwarten, bis er jedem Soldaten des Manifesten Schicksals einen Torques um den Hals legen und sie dann auf die Welt loslassen kann. Wie ich einen Mann mit Ehrgeiz doch bewundere …«

»Durch eine Vivisektion wird er gar nichts in Erfahrung bringen«, sagte Molly mit ausdrucksloser Stimme. »Höchstens wird ihm wieder einfallen, was mit dem Huhn passierte, das goldene Eier legte.«

Archie zuckte Janes Schultern. »Ich glaube nicht, dass es ihm so wichtig ist. Er braucht einfach nur jemanden, an dem er seine Wut auslassen kann. Er ist wirklich sehr verärgert darüber, was jene drei Droods mit seiner feinen Armee gemacht haben. Ihr hättet ihn hören sollen! Ich hab ihm den Vorschlag gemacht, Eddie und Sebastian einfach umzubringen und sie dann als Zombies wiederkehren zu lassen. Dann hätte er zwei Droods mit Torques, die alles tun würden, was er ihnen sagt. Aber anscheinend war das nicht genug für ihn. Die Droods haben Torques, also muss er auch welche haben. Es ist eine Frage der Gleichberechtigung. Aber du solltest dir nicht ausgeklammert vorkommen, Molly; so wie ich ihn verstanden habe, hat er auch für dich sehr detaillierte Pläne. Er unterhält spezielle Folterzellen für diejenigen unter seinen eigenen Leuten, die sich gegen ihn wenden.«

Plötzlich strömte Kraft in mich herein, als Mollys Zauberkräfte die letzten Wirkungen der Droge erstickten. Das Gefühl kehrte in jeden Teil von mir zurück, und meine Gedanken waren klar und scharf. Ich blickte in Mollys Richtung, lenkte ihre Aufmerksamkeit auf mich und bildete mit den Lippen das Wort Jetzt. Sie grinste mich an und schlug mit einem simplen Verhedderzauber auf die zuschauenden bewaffneten Männer ein. Wie ein Mann stürzten alle zwölf zu Boden; ihre Muskeln krampften hilflos, während Hexenblitze zischend und knisternd über sie krochen. Der Spruch traf auch Archie Leech, aber sie taumelte bloß zurück und bekämpfte ihn mit der Kraft, die ihm das Amulett verlieh.

Ich war schon auf den Füßen und ging auf Archie zu. Und überlegte indes fieberhaft, wie ich ihn aufhalten konnte, ohne Janitscharen-Jane zu töten oder auch nur zu beschädigen. Archies letzten Wirtskörper hatte ich umbringen müssen, um ihn zu stoppen, aber hier durfte ich nicht so verfahren - auf mein Konto sollten keine toten Unschuldigen mehr gehen! Leider war er dadurch im Vorteil. Ihn kümmerte es nicht, was mit Janes Körper geschah; er konnte jederzeit in einen anderen springen. Ich knallte in Archies geklauten Körper, als sie gerade den letzten Rest des Verhedderspruchs abschüttelte, und wir beide schlugen zusammen auf dem Boden auf. Das Gewehr flog aus Archies Hand und sie wehrte sich verbissen unter mir und gab sich alle Mühe, das Messer in ihrem Gürtel zu ziehen.

Ich packte das kandarianische Amulett mit beiden Händen. Es versuchte sich mir zu entziehen, wand sich hierhin und dorthin, aber in dieser Beengtheit konnte es nirgendwohin. Ich schloss beide Hände um das schreckliche Ding und drückte fest zu, und das Amulett verbrannte mir die Handflächen mit einer Kälte, die grimmiger als jede Hitze war. Ich sprach innerlich die aktivierenden Worte, und die goldene Rüstung stieg binnen eines Moments um mich herum auf, gerade als Archie endlich ihr Messer herausbekam und nach meinen Rippen stieß. Die schwere Stahlklinge knallte gegen meine Rüstung und zersprang daran, indes das lebende Metall über meine Hände floss und über das, was sie hielten. Das kandarianische Amulett war jetzt mit mir in meiner Rüstung, hermetisch abgeschottet und isoliert vom Rest der Welt. Und mehr brauchte es nicht, um Archies Verbindung zu dem Amulett zu durchtrennen.

Ich rollte mich von Archie weg, während er wie eine verdammte Seele schrie und Janes Körper um sich schlug und trat, als sein besitzergreifender Geist die Gewalt über sie verlor und sie ihn aus sich herauszwang. Archie konnte nirgendwohin; sein ursprünglicher Körper war schon vor langer Zeit zerstört worden. Ich setzte meinen Blick ein und sah einen Moment lang Archies wahre Gestalt, die die von Jane überlagerte. Und dann verließ seine Seele unter schrecklichem Geheul die Welt, endlich zur Hölle gerufen, die so lange auf sie gewartet hatte. Ich stellte den Blick ab. Ich wollte nicht sehen, was auf ihn wartete.

Janitscharen-Jane lag bewusstlos auf dem Boden, zuckend und zitternd. Physisch entkräftet und psychisch unter Schock vermutlich, aber sie würde sich erholen. Sie war eine Kämpferin und hatte in ihrer Karriere schon Schlimmeres durchgemacht.

Das kandarianische Amulett wand sich in meinen es umschließenden Händen wie ein lebendiges Wesen und brannte kälter als der grimmigste Winter. Eine Kälte des Herzens und der Seele. Ich konnte seine Gegenwart bei mir in der Rüstung spüren, wie es darum kämpfte, mir seinen Willen aufzuzwingen. Die Rüstung konnte mich nicht beschützen, solange das Amulett darin war. Es kam mir vor, als ob ich einen Chor von dunklen, nicht menschlichen Stimmen hörte, der langsam näher kam: Schließ dich uns an! Schließ dich uns an! Der bloße Klang verursachte mir Übelkeit, als ob etwas eine Schleimspur über meinen Verstand gezogen hätte. Ich rüstete herunter, und im selben Moment, wo das lebende Metall von meinen Händen verschwand, schleuderte ich das widerliche Ding von mir fort.

Das Amulett rutschte über den Fußboden, und Sebastian erwachte ruckartig aus seiner scheinbaren Erstarrung, rollte sich auf die Seite und riss es gierig an sich. Er rappelte sich auf und lächelte schrecklich, als er seine Beute an sein Herz drückte. »Du bist nicht der Einzige, der sich schlafend stellen kann, Eddie; ich habe mich schon vor Jahren gegen sämtliche Gifte geschützt. Und nun … besitze ich Macht, die meine kühnsten Träume übertrifft! Denn auch wenn du nicht den Mumm hast, das hier zu benutzen - ich habe ihn! Ich werde mich an Hunderten von Körpern erfreuen, jungen Körpern, und Lebensspannen leben …«

»Wirf es weg!«, forderte ich ihn auf und erhob mich langsam. »Es wird dich zerstören.«

»Wie diesen Narren Archie Leech? Das glaube ich nicht! Ich kann es kontrollieren!«

»Niemand kann es kontrollieren«, sagte ich. »Es richtet einen zugrunde, das macht es. Du wirst genau wie Archie enden, als Seelenschänder.«

»Ich brauche einen neuen Körper«, sagte Sebastian. »Dieser hier wird allmählich alt. Er wird langsamer und er lässt mich bisweilen im Stich. Leute wie ich sollten nicht altern müssen; nicht wo wir das Leben so sehr genießen, seine Freuden und Qualitäten so sehr zu schätzen wissen. Es ist nicht richtig, dass jemand wie ich sterben sollte, nur weil ein alter Körper sich verschleißt.« Er lächelte mich an, und es war nicht sein Lächeln, nicht mehr. »Vielleicht werde ich mir deinen Körper nehmen, Eddie, nur für einen kleinen Testlauf. Um zu sehen, was er kann. Und vielleicht werde ich schreckliche, schreckliche Dinge mit deinem Körper anstellen, nur so zum Spaß.«

Molly zog ihm von hinten die Manxkatzenstatuette über den Kopf, und er stürzte wie ein nasser Sack bewusstlos zu Boden. Er war so damit beansprucht gewesen, mich zu verhöhnen, dass er überhaupt nicht gemerkt hatte, dass Molly sich von hinten an ihn herangeschlichen hatte. Die Manxkatze bekam Sprünge, bröckelte auseinander und zerfiel. Molly sah mich an, lächelte achselzuckend und streifte die letzten paar Splitter von ihren Händen ab. Das kandarianische Amulett war aus Sebastians Hand gefallen, als er zusammengebrochen war, und lag jetzt auf dem Boden zwischen uns. Dass so ein kleines Ding so böse sein konnte! Ich trat vor und trampelte darauf herum, und der uralte Stein zerbröselte unter meinem Absatz zu Staub.

Aber mit dem Zerspringen der Manxkatze war auch die Energie, die Mollys Verhedderzauber gespeist hatte, verschwunden, und das Dutzend schwarz uniformierter Männer rappelte sich wieder auf und hob die Waffen. Stinksauer, weil sie so leicht außer Gefecht gesetzt worden waren, eröffneten sie alle das Feuer auf Molly. Wieder und wieder trafen die Kugeln Molly und ließen sie unter den wiederholten Einschlägen zurücktaumeln. Blut spritzte aus Dutzenden von Wunden, ihr Kopf wurde hin und hergerissen, und sie bekam nicht genug Luft zum Schreien. Endlich hörten die Männer zu feuern auf, und Molly fiel hin, als ob die Schüsse alles gewesen wären, was sie auf den Beinen gehalten hatte. Ich fiel neben ihr auf die Knie und ergriff ihre Hand. Sie versuchte, mir etwas zu sagen, während ihr das Blut schmerzhaft aus dem Mund sprudelte und spritzte, und alles, was ich tun konnte, war, ihre Hand zu halten, bis schließlich das Leben aus ihren Augen wich. Ich blickte zu den bewaffneten Männern hoch, und alle wichen einen Schritt zurück, aus Angst vor dem, was auch immer sie in meinem Gesicht sehen mochten.

Aber ich hatte nicht vor, sie zu töten. Das wäre nicht genug gewesen.

Endlich fiel mir ein, den Knopf auf meiner Umkehruhr zu drücken und die Zeit zurückzuspulen. Fast hatte ich zu lange gewartet. Die Uhr wollte mich nicht weit genug zurückbringen, aber ich drückte den Knopf einfach wieder und wieder, bis sie mich schließlich zu der Stelle zurückbrachte, wo die bewaffneten Männer gerade ihre Waffen auf Molly richteten. Ich warf mich vor Molly, zwischen sie und die Kugeln, und rüstete noch in der Bewegung hoch. Das lebende Metall schwappte im selben Moment über mich, als die ersten Kugeln durch die Luft flogen; und so schnell die Kugeln auch waren, die Rüstung war schneller. Jeder einzelne Schuss, der Molly getötet hätte, prallte stattdessen von mir ab.

Ich warf mich auf die bewaffneten Männer, prügelte sie windelweich und schleuderte sie eine Weile durchs Zimmer, bis Molly schließlich einschritt und mich aufhielt - nicht um ihretwillen, sondern mir zuliebe. Sie wusste, dass ich mich schlecht fühlen würde, falls ich sie umbrächte. Ich rüstete herunter und lächelte ihr ängstlich zu. Ich war so nah daran gewesen, sie zu verlieren!

»Ich bin eine Hexe«, sagte Molly langsam und blickte mir fest ins Auge. »Ich sehe Dinge und ich erinnere mich an Dinge, die anderen verborgen bleiben. Ich erinnere mich daran, sterbend auf diesem Boden gelegen zu haben … und dann hast du die Geschichte neu geschrieben, die Welt selbst verändert, nur um mich zu retten. Und dein eigenes Leben dabei aufs Spiel gesetzt. Du konntest nicht sicher sein, dass die Rüstung dich rechtzeitig bedecken würde, um dich vor ihren Gewehren zu schützen. Wieso hast du das getan, das riskiert, um mich zu retten?«

»Weil ich es musste«, sagte ich.

»Eddie …«, sagte sie.

»Molly …«, sagte ich.

»O Gott!«, sagte Molly. »Haben wir etwa einen romantischen Moment?«

Wie sahen einander an, und es wäre schwer zu sagen gewesen, wen von uns dieser Gedanke mehr entsetzte.

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