Kapitel Zwanzig Spinnentiere und Leseratten

»Oh, oh!«, sagte Molly, als wir die Labore wieder betraten.

Ich sah sie an. »Das werden keine gute Nachrichten, stimmt's?«

»Der Drachentalisman ist gerade wieder an meinem Kettchen erschienen. Das bedeutet, jemand in deiner Familie hat endlich zwei Gehirnzellen zusammengebracht, erkannt, dass ein so großer Drache unmöglich real sein kann und einen einfachen Dispersionszauber über ihn verhängt. Mein kleines Ablenkungsmanöver ist jetzt offiziell zu Ende.«

»Sie werden alle schnurstracks wieder ins Herrenhaus kommen«, grübelte ich stirnrunzelnd, »um herauszufinden, wovon der Drache sie ablenken sollte. Also wird es jetzt jeden Moment hier vor wirklich stinksauren Droods wimmeln, die nach jemanden suchen, an dem sie ihre Wut auslassen können … Zeit für uns zu gehen, Molly. Es war schön, dich wiederzusehen, Onkel Jack.«

»Wie weit ist es bis zur Bibliothek?«, fragte Molly, praktisch denkend wie immer.

»Zu weit«, antwortete der Waffenschmied. »Ihr seid nicht mal im richtigen Flügel.«

»Kein Problem«, meinte Molly. »Dann rufe ich einfach ein Raumportal her, das uns direkt hinbringt.«

»Nein, das werden Sie nicht«, sagte der Waffenschmied mit ausdrucksloser Stimme. »Die inneren Verteidigungssysteme des Herrenhauses lassen keine Teleportationen zu, weder magische noch wissenschaftliche, aus Sicherheitsgründen. Nicht einmal ich könnte etwas erzeugen, das wirkungsvoll genug ist, um die Verteidigungen des Herrenhauses zu durchbrechen.« Er unterbrach sich und blickte nachdenklich drein. »Es sei denn, ich kann den Rat überzeugen, meine Forschungen über schwarze Löcher doch noch zu finanzieren …«

»Wenn wir bitte beim Thema bleiben könnten«, rief ich ihn in die Gegenwart zurück.

»Es muss doch einen Weg geben, wie wir in die Bibliothek gelangen können, ohne bemerkt zu werden!«, sagte Molly. »Wie sieht's mit einem Illusionszauber aus? Ich könnte etwas Einfaches auf die Beine stellen, was uns wie jemand anders aussehen lässt. Oder einen Aversionszauber: lässt jeden überall hinschauen, nur nicht auf uns.«

»Würde nicht funktionieren«, sagte ich. »Unsere Torques warnen uns automatisch vor dieser Art von Zaubern. Sie würden einfach ihren Blick anwerfen und sie durchschauen.«

»Im Zweifelsfall sollte man es einfach halten«, sagte der Waffenschmied ein bisschen blasiert. Er nahm zwei arg in Mitleidenschaft gezogene alte Laborkittel aus einem Spind in der Nähe und streckte sie uns entgegen. »Zieht die an! Jeder, der euch begegnet, wird auf die Kittel schauen, nicht in die Gesichter. Die Familie ist daran gewöhnt, dass meine Laborassistenten überall aufkreuzen und ihnen zwischen die Füße geraten. Haltet einfach die Köpfe unten und geht weiter, und es wird euch nichts passieren. Verdammt, ich bin gut …«

Molly und ich schlüpften in die Laborkittel. Sie waren beide mit einer Sammlung ganz fürchterlicher Flecken überzogen, ganz zu schweigen von den Rissen, Schnitten und, in meinem Fall, einer echt gefährlich aussehenden Bissspur. Mollys Kittel reichte ihr bis an die Knöchel, aber ich hatte genug Verstand, um nicht zu grinsen.

»Mein Kittel riecht komisch«, sagte sie und funkelte mich aufsässig an.

»Sei dankbar«, erwiderte ich. »Meiner stinkt geradezu widerlich.«

Ich drehte mich zum Waffenschmied um, und ein bisschen verlegen schüttelten wir einander die Hand. In der Regel machten wir das nicht, aber wir wussten beide, dass es vielleicht keine weitere Gelegenheit mehr dazu geben würde.

»Auf Wiedersehen, Eddie«, sagte der Waffenschmied und blickte mir direkt in die Augen. »Ich wünschte … es gäbe mehr, was ich für dich tun könnte.«

»Du hast bereits weit mehr getan, als ich erwarten durfte«, entgegnete ich. »Auf Wiedersehen, Onkel Jack.«

Er lächelte Molly an und gab auch ihr die Hand. »Ich bin froh, dass Eddies Frauengeschmack sich endlich verbessert hat. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Molly. Und jetzt schafft euch hier raus und macht ihnen die Hölle heiß!«

»Aber sowas von«, sagte Molly.

* * *

Molly und ich verließen die Waffenkammer und schlossen die explosionssicheren Türen sorgfältig hinter uns. Es war nicht sinnvoll, an die große Glocke zu hängen, dass die Waffenkammer für zufällige Besucher aufgelassen worden war. Ich durfte nicht zulassen, dass der Waffenschmied zu Schaden kam, bloß weil er mir geholfen hatte. Schon konnte ich meine Familie in den Außenbereichen des Herrenhauses fluchend nach den Eindringlingen suchen hören. Sie kamen stetig näher und riefen dabei mit lauten und aufgeregten Stimmen Anweisungen und Erkenntnisse und Kommentare hin und her. Es hörte sich an, als sei die ganze verdammte Familie mobilisiert worden. Die Matriarchin ging kein Risiko ein. Die Laborkittel würden uns an ein paar Leuten vorbeibringen, aber nicht an solchen Massen … Es brauchte bloß einen Moment des Erkennens, eine erhobene Stimme …

Glücklicherweise gab es noch eine Alternative. Nur leider keine sehr angenehme.

»Damals, als ich ein Kind war«, sagte ich im Plauderton zu Molly, während wir durch einen leeren Korridor hasteten, »knobelte ich verschiedene Möglichkeiten aus, im Herrenhaus herumzustreifen, ohne gesehen zu werden. Wenn man nämlich an einem Ort erwischt wurde, wo man nicht sein sollte, wurde man bestraft. Oftmals hart bestraft. Aber zum Glück ist das Herrenhaus sehr alt, und im Lauf der Jahre ist das Wissen über gewisse äußerst nützliche Geheimtüren und -gänge verloren gegangen oder in Vergessenheit geraten. Und weil ich viel in der Bibliothek gelesen habe, insbesondere in Bereichen, zu denen ich eigentlich keinen Zugang haben sollte, war ich in der Lage, gewisse alte Bücher zurate zu ziehen, in denen die exakte Lage dieser äußerst nützlichen Abkürzungen beschrieben ist.

Es gibt Türen, die einen von einem Zimmer ins andere bringen können, von einem Flügel in den anderen, ohne dass man dabei den dazwischenliegenden Raum durchqueren muss. Es gibt enge Verbindungsgänge mit dicken, hohlen Wänden, die einmal Teil der alten Zentralheizung und der Belüftungsabläufe waren. Es gibt eine Falltür im Kellergeschoss, durch die man im Dachgeschoss landet, und einige Zimmer, die nur an bestimmten Tagen da sind. Ich muss sie wohl alle irgendwann einmal benutzt haben, auf meiner nie enden wollenden Suche nach Dingen, von denen ich eigentlich nichts wissen sollte.«

»Hat deine Familie denn nie Verdacht geschöpft?«, wunderte sich Molly.

»Oh, aber sicher! Diese alten Gänge zu finden ist für junge Droods eine Art Ubergangsritus ins Erwachsenenalter; stillschweigend geduldet, wenngleich nicht unterstützt. Die Familie sieht gern Initiative in ihren Kindern - solange sie den anerkannten Regeln und Traditionen folgen. Aber ich habe einige sehr seltsame Wege gefunden, von deren Existenz nicht einmal jemand geträumt hatte, und ich habe niemandem davon erzählt. Ich brauchte damals etwas, was mir gehörte und nicht der Familie.«

»Darf ich dem entnehmen, dass du eine Abkürzung in die Bibliothek kennst?«, fragte Molly.

»Genau. Nicht weit von hier gibt es in der Wand eine Öffnung zu einem niedrigen Zwischenraum.«

»Und warum hast du das nicht gleich gesagt?«

»Tja …«

»Es gibt schlechte Nachrichten, stimmt's? Irgendwie weiß ich einfach, dass es schlechte Nachrichten gibt!«

»Es ist gefährlich«, sagte ich.

»Wie gefährlich?«

»Der Zwischenraum ist … bewohnt. Du musst wissen, dass das Herrenhaus seine Stromkabel und Gasleitungen und so weiter irgendwo außer Sicht unterbringen muss, aber aus Sicherheitsgründen können sie nicht einfach in den Wänden versteckt werden; sie müssen extra geschützt werden. Gegen Sabotage und dergleichen. Deshalb befinden sich all unsere Kriechkeller und -speicher und verborgenen Wartungsbereiche in angegliederten Taschendimensionen. Wie der Armageddon-Kodex und der Löwenrachen, aber in einem viel kleineren und weniger dramatischen Maßstab. Und viel leichter zugänglich für Leute, logischerweise. Jedenfalls sind einige dieser Taschendimensionen schon so lange in der Gegend, dass sie sich ihre eigenen Bewohner zugelegt haben. Wesen, die hineingewandert und … mutiert sind. Oder sich weiterentwickelt haben.«

»Was genau bewohnt denn diesen speziellen Zwischenraum?«, wollte Molly wissen.

»Spinnen«, sagte ich unglücklich. »Große Spinnen. Und damit meine ich echt große Spinnen; Dinger von der Größe deines Kopfs! Dazu ein ganzer Haufen anderer, wirklich ekelhafter Krabbeltiere, von denen die Spinnen sich ernähren.«

»Spinnen stören mich nicht!«, erklärte Molly. »Das ist mehr eine Jungensache. Nacktschnecken machen mich wahnsinnig. Überhaupt alle Schnecken. Weißt du, wie Schnecken Sex haben?«

»Diese Spinnen werden dich stören!«, versicherte ich ihr, indem ich mich weigerte, mich ablenken zu lassen. »Ich kann nur hoffen, dass sie nicht wirklich so groß und widerwärtig wie in meinen Kindheitserinnerungen sind, denn es gibt keine Möglichkeit, ihnen auszuweichen. Ihre Netze sind überall! Manchmal habe ich immer noch Albträume, so oft haben sie mich durch den Zwischenraum gejagt … mit ihren trippelnden Beinen und glühenden Augen …«

»Und warum hast du dann immer wieder diese spezielle Abkürzung benutzt?«, fragte Molly.

»Weil ich mich nie von irgendetwas davon abhalten lasse, zu machen, was ich machen muss«, entgegnete ich. »Nicht einmal von meiner eigenen Angst. Vielleicht davon ganz besonders nicht.«

»Und es gibt keine andere Möglichkeit, in die Bibliothek zu kommen?«

»Keine sichere.«

Molly prustete. »Du hast echt merkwürdige Vorstellungen davon, was sicher ist und was nicht, Drood!«

Ich führte sie durch einen schattigen Seitenkorridor, vorbei an einer langen Reihe hoher Bodenvasen aus der Mingdynastie und anschließend vorbei an einer Vitrine voll exquisitem venezianischem Glas, bis wir an eine vertäfelte Wand kamen, die sich von uns weg in die Ferne erstreckte. Ich musste Molly hinter mir herziehen, denn so viel Reichtum, bequem in Reichweite, lenkte sie ab. Ich zählte die Holztafeln ab, bis ich zu einem eigentümlichen, geschnitzten Rosenmotiv kam, und drehte dieses dann vorsichtig die korrekte Anzahl von Malen linksherum und rechtsherum, bis das primitive Zahlenschloss widerstrebend einrastete. Die Rose klickte vernehmlich, und eine Tafel in der Wand glitt ruckweise auf. Der alte Mechanismus litt offenbar unter Abnutzungserscheinungen. Hinter der Tafel und in der Wand war nur Dunkelheit.

Die Öffnung, die mehr als hinreichend für ein Kind gewesen war, war nur so groß, dass Molly und ich uns gerade noch durchzwängen konnten. Wir kauerten uns davor nieder und spähten in die Finsternis. Eine schwache, kalte Brise, die einen trockenen, staubigen Geruch mit sich führte, kam aus dem Dunkel. Molly rümpfte die Nase, sagte aber nichts. Dicke Spinnfäden hingen im Inneren der Öffnung und schwangen träge im Luftzug. Nichts deutete darauf hin, dass in den vergangenen paar Jahren jemand in diesem Zwischenraum gewesen war. Ich lauschte still nach Geräuschen und bedeutete Molly mit einer scharfen Handbewegung, sich ruhig zu verhalten, als sie herumzappelte. Ich konnte nichts hören - im Augenblick. Ich holte tief Luft, nahm meinen Mut zusammen und zwängte mich schnell durch die enge Öffnung, ehe ich es mir anders überlegen konnte. Molly folgte mir hinein und drängte sich dicht hinter mich, und die Holztafel glitt ruckweise wieder an Ort und Stelle.

Die Dunkelheit war absolut. Rasch beschwor Molly eine Hand voll ihres patentierten Hexenfeuers, und das schimmernde silberne Licht zeigte uns einen schmalen Steintunnel, dessen raue graue Wände fast völlig unter Schichten von farbkodierter Verdrahtung, Kabeln und Kupfer- und Messingrohrleitungen begraben waren. Dicke Spinnwebmatten zogen sich über beide Wände. Ich achtete sorgfältig darauf, nichts davon zu berühren oder zu stören, trotzdem verzog ich unwillkürlich das Gesicht. Mollys Hexenlicht zeigte uns zwar den Tunnel, der sich vor uns erstreckte, aber falls es eine Decke gab, so reichte das Licht nicht hoch genug, um sie zu finden. Ein dicker Streifen Gewebe wurde von einer Wand fortgeweht, getragen von einem heftigen Luftzug, und ich schreckte davor zurück.

»Du großes Baby!«, sagte Molly mit breitem Grinsen.

»Ist das da nicht eine Nacktschnecke neben deinem Fuß?«, fragte ich und grinste, als Molly laut vor Ekel quiekte.

Ich ging voran, den Tunnel hinunter; mein Stolz ließ mir keine andere Wahl. Auf dem Boden lag eine dicke, unberührte Staubschicht. Schon die kleinsten Geräusche, die wir machten, schienen unaufhörlich widerzuhallen - die einzigen Laute in dieser unendlichen, schaurigen Stille. Der Tunnel verbreiterte sich stetig, bis er so groß wie ein Zimmer schien, dann wie ein Saal, und dann wurde er plötzlich noch breiter, bis ich nicht mehr sagen konnte, wie groß der Raum war, in dem wir uns bewegten. Ich hielt mich dicht an der rechten Wand, deren vertraute, von Menschenhand geschaffene Kabel und Rohrleitungen mir Trost spendeten. Bis die Spinnweben sie so tief begruben, dass ich sie nicht mehr deutlich sehen konnte.

Molly verstärkte ihr Hexenfeuer so sehr wie möglich, aber das Licht pflanzte sich nicht weit fort - ab einem gewissen Punkt schien die Dunkelheit es einfach aufzusaugen. Es lag ein Gefühl von naher Zukunft in der Luft … das sich von uns weg erstreckte, endlos. Wir gingen und gingen, und der Weg war genauso schlimm, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Vielleicht sogar noch schlimmer: Immer wieder stieß ich auf plötzlich vertraute Einzelheiten, die ich aus meiner Erinnerung verdrängt hatte. Wie beispielsweise die leeren Hüllen wirklich großer Käfer und anderer Insekten, die überall auf dem Boden herumlagen und deren Inneres herausgekaut worden war. Und die dicken Stränge von Spinnengewebe, die von irgendwo hoch über uns herabhingen und zitterten und sich drehten, obwohl die Brise nicht mehr wehte. Es wunderte mich, dass ich damals, als ich noch ein Kind war, den Mut gefunden hatte, diesen Weg zu gehen. Aber der Gedanke an die Bestrafungen des Seneschalls hatte es mir wohl leicht gemacht. Vor ihm hatte ich viel mehr Angst gehabt als je in meinem Leben vor Riesenspinnen. Auch wenn ich mir ziemlich sicher war, dass er mich nicht tatsächlich umgebracht hätte.

Aus dem Dunkel drangen Geräusche zu uns. Huschende, trippelnde Geräusche. Molly und ich blieben abrupt stehen und blickten um uns. Molly hielt ihre Hand voll Licht ganz hoch, aber es half nichts. Leise, nasse Laute kamen von hinten und oben, zusammen mit langsamen, scharrenden Geräuschen, wie von Klauen auf Stein.

»Okay«, sagte Molly, »jetzt krieg ich aber richtig Gänsehaut.«

»Bist du sicher, dass du nicht mehr Licht machen kannst?«, vergewisserte ich mich. »Ich glaube nicht, dass sie Licht mögen.«

»Ich lege schon alles hinein, was ich habe!«, fuhr Molly mich an und klang ein bisschen gestresst. »Etwas in dieser deiner Taschendimension mag kein Licht; alles, was ich tun kann, ist aufrechtzuerhalten, was ich habe. Wie weit noch bis zur Bibliothek?«

»Ist noch ein Stück«, antwortete ich. »Falls ich mich richtig erinnere. Folge mir, mach so schnell du kannst, aber renn nicht! Sie jagen alles, was rennt; das habe ich am eigenen Leib erfahren.«

Wir bewegten uns mit raschen, großen Schritten weiter durch die Dunkelheit. Die Spinnfäden, die von oben herabhingen, wurden dichter, schwerer, wie Vorhänge aus dreckigem Gaze. Ich duckte mich daran vorbei und achtete sorgfältig darauf, nicht damit in Berührung zu kommen. Sie waren jetzt alle in ruheloser Bewegung, zuckten, als ob sie aus einem langen Schlaf aufgeschreckt worden wären. Und ständig waren da die Geräusche im Dunkel, die sich langsam, aber stetig an uns heranarbeiteten. Molly und ich bewegten uns so schnell wir konnten, ohne dabei zu rennen. Wir atmeten beide schwer.

Fast wären wir geradewegs in das mächtige Netz gelaufen, das uns den Weg versperrte und dessen silbergraue Fäden erst im allerletzten Moment im Hexenlicht auftauchten. Es hing frei vor uns in der Luft, gewaltig und komplex, und erstreckte sich strahlenförmig über die Grenzen des Hexenlichts hinaus. Es bräuchte eine Spinne von der Größe eines Busses, um ein solches Netz zu spinnen - oder wahnsinnig viele kleine Spinnen, die zusammenarbeiteten. Ich war mir nicht sicher, welche dieser Vorstellungen beunruhigender war. Dieses Netz war bei meinem letzten Besuch definitiv noch nicht da gewesen.

»Das … ist ein großes Netz!«, bemerkte Molly. »Trotzdem, ich habe eine Schere und du einen saugroßen Stock. Sollen wir uns durchboxen?«

»Ich werde das Gefühl nicht los, dass das keine gute Idee ist«, antwortete ich, »aber uns bleibt keine andere Wahl. Wir müssen weiter …«

»Hör zu«, meinte Molly, »wenn du dir wirklich solche Sorgen machst, dann rüste hoch.«

»Kann ich nicht«, erklärte ich ihr. »Die Gesetze der Realität funktionieren hier anders. Das habe ich auch am eigenen Leib erfahren.«

»Das sagt er mir jetzt!«, beschwerte sich Molly. »Na schön, es ist Zeit, einen rauszuquetschen oder vom Topf zu gehen! Zurück können wir nicht, also … brenne, Baby, brenne!«

Sie stieß ihre Hand voll Hexenfeuer in den nächsten Fadenklumpen, der augenblicklich Feuer fing und mit einem grellen blauen Licht brannte. Die Flammen schossen empor und an den zitternden Fäden entlang und breiteten sich schnell über das riesige Spinnennetz aus. Und in diesem neuen, enthüllenden Licht konnten Molly und ich schließlich sehen, was uns die ganze Zeit gefolgt war: Hinter uns wogte eine Armee von Spinnen, Tausende, soweit das Licht reichte, und jenseits davon wahrscheinlich noch mehr. Und alles waren wirklich große Spinnen. Schwarze, pelzige Körper, so groß wie mein Kopf, vielgliedrige Beine von einem Meter Länge und mehr, Gruppen von Augen, die wie kostbare Juwelen funkelten. Und schwere Kieferteile, die bösartig gegeneinanderklapperten und von dickem Speichel troffen.

»Rennen!«, sagte ich.

Molly und ich brachen durch die brennenden Überreste des Netzes und schlugen die Fäden, die nach uns zu greifen schienen, zur Seite. Die Spinnen folgten uns wie eine große schwarze Welle, stumm bis auf das Trappeln ihrer vielen Beine auf dem staubigen Steinboden. Aus dieser Nähe konnte ich sie riechen: ein saurer, bitterer Geruch, wie Säure und verdorbenes Fleisch. Noch etwas, was ich mich über die Jahre hinweg zu vergessen gezwungen hatte … Molly und ich sprinteten durch die Dunkelheit und verlangten uns das Äußerste ab. Furchtbare Schmerzen, die meinen zusammengebissenen Zähnen gequälte Laute entrangen, wühlten bei jedem Schritt in meiner ganzen linken Seite. So viel Angespanntheit und Bewegung mussten die fremde Materie weiter in meinem Organismus verbreiten. Bei dem Gedanken an die Spinnen hinter mir brachte ich ein kleines Lächeln zuwege.

Ich hoffe, ich vergifte euch, ihr Drecksbiester …

Ich merkte, wie ich langsamer wurde. Molly ließ mich hinter sich, denn sie behielt ein Tempo bei, dem ich nicht länger gewachsen war. Ich hätte ihr hinterherrufen können, tat es aber nicht. Einer von uns musste hier rauskommen. Jetzt sah sie ohnehin zurück, erkannte, dass der Abstand zwischen uns zu groß wurde, und ließ sich zurückfallen, ergriff meinen Arm und trieb mich an. Gott sei Dank ergriff sie meinen guten Arm. Am Ende eines langen, flatternden Fadens kam eine Spinne wie ein großer, schwarzer, haariger Ballon durch die Luft auf mich zugesegelt. Ich schlug mit dem Eidbrecher auf sie ein, und der schwere Eisenholzstock traf die Riesenspinne genau zwischen die Augen. Der Körper explodierte in nasse Spritzer fliegender Innereien. Noch mehr Spinnen kamen aus der Dunkelheit herangesegelt. Ich schlug mit dem Eidbrecher um mich und tötete alles, was ich traf. Molly warf Hand voll Hexenfeuer hierhin und dorthin, und brennende Spinnenkadaver fielen aus der Luft.

Wir liefen weiter, nicht mehr so schnell wie zuvor, und unsere Füße platschten schwer durch breiige Spinnenüberreste auf dem Boden, die manchmal noch zuckten und zitterten. Die Spinnen wimmelten jetzt dicht hinter uns, fast an unseren Fersen. Sehnsüchtig dachte ich an den Repetiercolt in meinem Schulterhalfter, aber bis ich angehalten und ihn mühsam herausgebracht hätte, wären die Spinnen über mir gewesen. Also bewegte ich mich einfach weiter, inzwischen um Atem ringend, schreiend vor Schmerzen, immer wilder mit dem Eidbrecher um mich schlagend, der mit jedem Schlag schwerer zu werden schien.

Der Ausgang aus dem Zwischenraum war jetzt nicht mehr fern, da war ich mir sicher. Ich war mir fast sicher.

Wir wurden noch langsamer, erschöpft von dem langen Tag, und die Spinnen holten auf und fielen in Schwärmen über uns her, attackierten uns mit Klauen und Giftdrüsen. Wir schrien vor Schmerzen und Schrecken und Ekel und taumelten weiter. Ich steckte den Eidbrecher in den Gürtel und zerquetschte die weichen, matschigen Körper mit bloßen Händen. Molly streifte die Spinnen mit ihrer Hand voll Hexenfeuer von sich ab, und die brennenden Körper fielen herunter und huschten wie lodernde Irrlichter auf dem Boden hin und her. Aber es kamen immer mehr, kletterten an uns hoch oder ließen sich aus der Luft auf uns fallen. Molly wie auch ich brüllten jetzt laut, während wir die Dinger wegschlugen. Spinnen huschten um unsere Füße herum und krabbelten an unseren Beinen hoch oder versuchten, uns zu Fall zu bringen, aber ungeachtet ihrer Größe waren sie zu leicht und zu zerbrechlich gebaut. Wir wankten weiter und zermalmten sie unter unseren Tritten.

Bis ich endlich im flackernden Hexenlicht weiter vorn einen vertrauten Anblick sah: die Ausgangstäfelung des Zwischenraums, die zurück ins Herrenhaus führte. Zurück zu Licht, Wärme und klarem Verstand. Ich konnte sie vor uns sehen, denn das Licht von außen umschien ihre Ränder, hell wie der Tag im endlosen Zwischenraumdunkel.

Ich machte Molly darauf aufmerksam, und wir brachten ein paar letzte Fünkchen Kraft auf, um uns anzutreiben. Die Tafel glitt ruckweise auf, als wir uns ihr näherten, aktiviert durch unsere Anwesenheit, und blieb dann auf halber Strecke stecken, gerade so lange, dass der Gedanke, der alte Mechanismus könnte den Geist aufgegeben haben, mich in Panik versetzte. Und dann setzte sie sich langsam wieder in Bewegung und verströmte schmerzlich helles Licht in die Finsternis.

Ich schob Molly durch die enge Lücke und zwängte mich selbst direkt hinter ihr durch. Ich wirbelte herum und drehte die geschnitzte Holzrose an der Wand herum, und die Täfelung schloss sich mit einer Reihe von schwerfälligen, langsamen Stößen. Eine letzte Riesenspinne quetschte sich hinter uns noch durch und bäumte sich auf, nur um zusammenzubrechen und auf dem Boden mit schwach scharrenden, vielgliedrigen langen Beinen ihr Leben auszuhauchen: Die übergroße Kreatur konnte in unserer Realität nicht existieren. Die Spinnen, die noch an Molly und mir hingen, fielen nach und nach ab. Sie huschten sterbend über den gewachsten und polierten Fußboden und versuchten, ins sichere Dunkel zurückzukommen, aber Molly und ich zertrampelten und zermatschten sie unter unseren Füßen. Sie wären sowieso gestorben, aber wir hatten das Bedürfnis, sie zu töten.

Einige Spinnen hingen, obwohl sie tot waren, immer noch an Molly und mir, denn ihre klauenbewehrten und mit Widerhaken versehenen Beine hatten sich in unsere zerrissene und blutige Kleidung und unser Fleisch eingegraben. Molly und ich nahmen einander abwechselnd die widerlichen Viecher ab und zuckten bei jeder Berührung zusammen, bis es vorbei war. Wir waren beide todmüde, und unser Atem ging so stoßweise, dass es wehtat; unsere Herzen hämmerten in Brustkörben, die von hundert Schnitten und Bissen schmerzten und bluteten. Wir wankten von den toten Spinnen fort, und dann hielten wir einander einfach fest, zitternd und bebend und leise, erschreckte Töne von uns gebend. Wir klammerten uns wie Kinder aneinander, die frisch aus einem schlechten Traum erwacht waren, und es wäre schwer zu sagen gewesen, wer wen tröstete. Schließlich ließen wir einander los und traten zurück - eine Weile lang zu verlegen, um einander anzusehen, teils weil es keiner von uns gewohnt war, schwach zu sein, aber hauptsächlich wegen der unerwarteten Tiefe unserer Gefühle.

»Also schön«, sagte Molly irgendwann mit fast normaler Stimme. »Ich geb's zu: Das waren wirklich große Spinnen.«

»Beharrliche kleine Drecksbiester, was?«, entgegnete ich und versuchte, das Ganze zu verharmlosen, scheiterte jedoch knapp.

»Du bist verletzt«, stellte Molly fest.

»Du auch.«

Irgendwie brachte sie die Kraft für einen schnellen Heilzauber auf, gerade so viel, um unsere Bisse zu heilen und die Kratzer zu schließen. Ich kann nicht sagen, dass ich mich danach besser fühlte, aber ich benahm mich so. Sie brauchte nichts von den sich ausbreitenden Schmerzen in meiner linken Seite zu wissen. Drei Tage, vielleicht vier? Ich glaubte nicht mehr daran.

»Ich weiß, wo wir sind«, sagte ich. »Die Bibliothek ist nur ein paar Minuten von hier weg.«

»Dann lass uns gehen!«, sagte Molly. »Aber diese deine Bibliothek sollte den Ausflug besser wert sein, Drood!«

Ich musste lächeln.

* * *

Wir zogen los, den Korridor entlang, froh, wieder in unserer eigenen, behaglichen Welt zu sein. Das Licht war hell und warm und das Herrenhaus voll menschlicher Anblicke und Gerüche. Zum ersten Mal seit langer Zeit war ich froh, zu Hause zu sein. Ich hatte das Gefühl, Jahre im Zwischenraumdunkel verbracht zu haben. Wie hatte ich das als Kind bloß ertragen können? Vielleicht konnte ich damals schneller rennen.

Molly und ich bogen um eine Ecke, und ein halbes Dutzend Mitglieder meiner Familie kamen durch den Gang auf uns zugeschlendert und schwatzten währenddessen angeregt über den Angriff des falschen Drachen. Alle möglichen Namen wurden als infrage kommende Verdächtige gehandelt, aber ich wurde dabei nicht mal erwähnt. Ich wusste nicht, ob ich mich erleichtert oder beleidigt fühlen sollte. Sie blickten kurz in unsere Richtung, und dann, genau wie der Waffenschmied gesagt hatte, sahen sie wieder weg, als sie unserer Laborkittel ansichtig wurden. Nur um auf der sicheren Seite zu sein, hatte ich das Gesicht bereits in den Händen verborgen, als ob ich verletzt sei. Molly kapierte sofort und stützte mich ab, als wir an den Droods vorbeikamen.

»Bist selber Schuld!«, tadelte sie mich laut. »Ich habe kein Mitleid mit dir! Wie kann denn einer Schwarzpulver mit Schnupftabak verwechseln?«

»Meine Nase!«, stöhnte ich. »Hat jemand meine Nase gefunden?«

Die anderen Droods lachten kurz und gingen weiter. Nur ein weiteres Labormissgeschick, hier gibt es nichts zu sehen, bitte weitergehen. Molly und ich zogen unsere Schau weiter ab, bis wir sicher um die nächste Ecke waren, und da war die Bibliothek, direkt vor uns. Niemand sonst war in der Nähe. Ich probierte die Türen, aber wie erwartet waren sie abgesperrt. Wache stand allerdings immer noch keiner; anscheinend waren alle nach draußen gerannt, um einen Blick auf den Drachen zu erhaschen. Ausgesprochen schlampige Sicherheitsmaßnahmen, ganz und gar schlechte und unprofessionelle Disziplin. Wo sollte das nur hinführen? Ohne Zweifel würde der Seneschall ein oder zwei Sachen dazu zu sagen haben, wenn er irgendwann wieder aufwachte. Ich benutzte den Schlüssel, den der Waffenschmied mir gegeben hatte, und bei der ersten Berührung schwangen die Türen auf. Ich führte Molly hinein, schloss die Türen hinter uns schnell wieder und sperrte ab. Ich wollte nicht gestört werden. Ich wusste nicht, wie lange das hier dauern würde.

Die Bibliothek schien völlig ausgestorben zu sein. Ich rief ein paarmal, aber niemand kam hinter den hoch aufragenden Regalen hervor, um mich zur Ruhe zu ermahnen. Molly gaffte mit aufgerissenem Mund um sich. Ich nickte verständnisvoll: Die schiere Größe der Bibliothek trifft neue Besucher immer hart.

»Willkommen in der droodschen Familienbibliothek!«, sagte ich ein klein wenig großspurig. »Kein Schreien, kein Rennen zwischen den Regalen, kein Pinkeln ins flache Ende! Und nein, sie ist nicht so groß, wie sie aussieht; sie ist größer. Nimmt das gesamte untere Stockwerk dieses Flügels ein. Die ganze Welt ist hier drin, irgendwo - wenn man sie finden kann.«

»Sie ist … gewaltig!«, sagte Molly endlich. »Wie findet man hier drin überhaupt irgendwas?«

»Meistens tun wir das nicht«, gab ich zu. »William war der letzte Bibliothekar, der den Versuch unternommen hat, ein offizielles Verzeichnis zusammenzustellen, und die meisten seiner Unterlagen sind mit ihm verschwunden. Wir fügen ständig Bücher hinzu, verlieren welche und stellen sie falsch ab. Immerhin sind die Abteilungen deutlich gekennzeichnet.«

»Du suchst nach Familiengeschichte«, bestimmte Molly, indem sie sich zusammenriss und ihre effizienteste Art nach außen kehrte, »und ich werde mich durch die medizinische Abteilung arbeiten. Es muss hier etwas geben, womit ich dir helfen kann. Und wenn ich nur das Vordringen der fremden Materie verlangsame, bis wir dich zu jemandem schaffen können, der dir helfen kann.«

»Molly …«

»Nein, Eddie. Ich will's nicht hören. Ich werde nicht aufgeben, und du solltest das auch nicht. Ich werde dich nicht sterben lassen - nicht, wo du dein Leben riskiert hast, um meins zu retten! Ich kann nicht … Es muss da draußen jemanden geben, der dich wieder gesund machen kann. Teufel auch, wenn alles andere fehlschlägt, kenne ich immer noch ein halbes Dutzend Leute, die dich als Zombie von den Toten zurückholen können!«

»Danke für deine Fürsorge«, sagte ich. »Die medizinische Abteilung ist da unten; zwanzig Regale weiter, die dritte rechts, dann folgst du der -«

»Ach, zum Teufel!«, unterbrach Molly mich. »Wegbeschreibungen waren noch nie meine Stärke. Ich sollte besser einen Leitzauber benutzen, sonst hängen wir hier die ganze Nacht rum.« Sie zog ein Pendel an einem Silberdraht aus einer versteckten Tasche und versetzte es in Rotation. Das Pendel blieb jäh stehen und zeigte genau auf mich. Molly runzelte die Stirn. »Das ist … interessant. Es zeigt eine Kraftquelle an dir an, und es ist nicht der Eidbrecher. Genau genommen bekomme ich sogar ziemlich viel nicht entladene Energie rein, die noch an dem Schlüssel hängt, den der Waffenschmied dir gegeben hat.«

Sie steckte das Pendel weg, während ich den Schlüssel herausnahm und ihn betrachtete. Der Waffenschmied hatte Wert darauf gelegt, mir den Schlüssel zu geben, obwohl er gewusst haben musste, dass ich einfach hätte hochrüsten und die Türen eintreten können. War der Schlüssel irgendein Hinweis? Auf irgendein Geheimnis, von dem er mir aus einem bestimmten Grund selbst nicht erzählen wollte? Ich untersuchte den Schlüssel mit meinem Blick, und da war ein zweiter Zauberspruch so deutlich darauf geschrieben, dass sogar ich sagen konnte, worum es sich handelte: ein Spruch, um ein verborgenes Schloss zu bedienen und eine Geheimtür zu öffnen. Hier, in der Bibliothek? Es hatte nie auch nur das Gerücht von einer Geheimtür in der Bibliothek gegeben …

Ich drehte den Schlüssel hin und her, und als ich ihn in eine bestimmte Richtung hielt, flackerte der Spruch kurz auf. Ich folgte dem Schlüssel durch die Regale, und Molly trottete neben mir her. Bis wir schließlich zu dem alten Bild an der südwestlichen Wand kamen.

Es war das einzige Gemälde in der Bibliothek. Ein gewaltiges Stück, gut zweieinhalb Meter hoch und anderthalb Meter breit, eingefasst in einen stabilen Stahlrahmen. Es war Jahrhunderte alt, älter als das Herrenhaus selbst, sagten manche; Künstler unbekannt. Das Bild stellte eine andere Bibliothek dar, deren zahlreiche Regale vollgestopft waren mit mächtigen, ledergebundenen Bänden und Pergamentrollen, die mit farbenprächtigen Bändern verschnürt waren. Auf dem Gemälde waren keine Leute, keine symbolischen Objekte, keine offensichtliche Anordnung wichtiger Gegenstände. Keine Bedeutung, keine Botschaft; nur die alte Bibliothek. Molly und ich standen vor dem Bild und betrachteten es.

»Ich bin ja keine Expertin«, meinte Molly, »aber das … ist ein echt langweiliges Gemälde. Ist es für die Familie von Bedeutung?«

»In gewisser Weise schon«, antwortete ich. »Dieses Bild zeigt die alte Bibliothek, die ursprüngliche Quelle des Drood-Wissens. In dieser ersten Bibliothek war die ganze Frühgeschichte der Droods untergebracht, möglicherweise sogar Wissen über unsere wahren Anfänge, das seit Langem für uns verloren ist. Du musst wissen, dass die alte Bibliothek bei einem Brand zerstört wurde, der von unseren Feinden gelegt worden war. Unsere größte Katastrophe. Das ganze Haus mitsamt der Bibliothek brannte nieder, weshalb die Familie auch hierherzog, zu Zeiten König Heinrichs V. Dieses Bild ist alles, was aus dieser Zeit noch übrig ist, und soll uns daran erinnern, was wir verloren haben.«

»An diesem Gemälde ist etwas Sonderbares«, sagte Molly langsam. »Ich kann Magie darin spüren. Im Rahmen und in der Leinwand, in der Farbe und sogar in den Pinselstrichen. Spürst du es auch?«

Ich untersuchte das Bild gründlich mit meinem Blick, wobei ich den Schlüssel fest in der Hand hielt, und das ganze Gemälde schien mit einem inneren Licht zu strahlen. Und endlich bemerkte ich etwas, was ich vorher nie gesehen hatte: In dem Silberrahmen befand sich ein kleines, sorgfältig getarntes Schlüsselloch, das in einer Schneckenverzierung versteckt war. Ich machte Molly darauf aufmerksam, dann steckte ich vorsichtig den Schlüssel des Waffenschmieds hinein. Er passte perfekt. Ich drehte ihn herum, und einfach so wurde das ganze Gemälde lebendig. Ich betrachtete kein Bild mehr, sondern eine Szene aus dem Leben, einen Durchlass zu einem anderen Ort. Einen Eingang zur alten Bibliothek. Ich nahm Molly bei der Hand, und gemeinsam traten wir hindurch.

Die alte Bibliothek war gar nicht verloren, war nicht verschwunden, sondern nur vor aller Augen versteckt. Hing die ganzen Jahre lang vor unserer Nase. Die alte Bibliothek, real und unversehrt, die ganze Frühgeschichte und das ganze Wissen letzten Endes doch erhalten! (Erhalten für wen? Nein - darüber denken wir später nach.) Ich blieb ganz still genau im Eingang stehen und blickte mich um. Die alte Bibliothek erstreckte sich in alle Richtungen, endlose Bücherborde und turmhohe Regale, vollgestopft mit Büchern und Handschriften und Schriftrollen, so weit das Auge reichte. Ich schaute hinter mich, und jenseits des offenen Raums der Türöffnung konnte ich weitere Regale, weitere Bücherborde sehen.

Langsam schritt ich durch den Gang vor mir, vor Erschütterung wie betäubt. Die größte Katastrophe in der Geschichte meiner Familie war eine Lüge! Nach allem, was ich bisher in Erfahrung gebracht hatte, hätte mich das eigentlich nicht überraschen dürfen, aber absichtlich so viel Wissen, so viel Weisheit geheim zu halten … war eine fast unbegreifliche Sünde. Ganz behutsam nahm ich einige der übergroßen Bücher herunter und schlug sie auf. Die Ledereinbände quietschten laut und die Seiten schienen Staub und uralte Gerüche zu verströmen. Es waren bebilderte Handschriften, die Sorte, an denen Mönche jahrelang mühsam gearbeitet hatten. Größtenteils lateinisch, ein paar altgriechisch. Andere Sprachen, in gleichem Maße alt oder obskur. Es gab Palimpseste und Pergamente und Stapel von Schriftrollen, von denen manche so zerbrechlich aussahen, dass ich in ihrer Nähe nicht einmal zu tief zu atmen wagte.

»Hier drin arbeitet irgendeine Art von Magieunterdrückungsfeld!«, sagte Molly auf einmal. »Ich kann es spüren.«

»Das überrascht mich nicht«, meinte ich geistesabwesend, vertieft in eine Schriftrolle, in der es um König Harold und die Seele Albions ging. »Muss eine Sicherheitsmaßnahme sein, um die Inhalte zu schützen.«

»Ich könnte notfalls wahrscheinlich ein paar kleinere Zauber durchzwängen«, fuhr Molly fort, »falls wir uns verteidigen müssen.«

»Würdest du dich bitte mal entspannen?«, sagte ich. »Wir sind die Einzigen hier drin.«

Ich rollte die Schriftrolle wieder zusammen, verknotete das Band wieder und legte sie vorsichtig an ihren Platz zurück. Die Antwort auf meine vorherige Überlegung war klar: Die einzigen Leute, die die alte Bibliothek so hatten verstecken können, waren … der innere Zirkel der Droods. Die Matriarchin, ihr Rat und ihre Günstlinge. Unsere Geschichte und unsere wahren Anfänge waren gar nicht verloren, waren nicht vernichtet; sie wurden absichtlich vor dem Rest von uns geheim gehalten im Interesse der wenigen Auserwählten. Aber was konnte es hier geben, das so wichtig, so gefährlich war, dass es versteckt werden musste? Das sie nicht mit uns Übrigen teilen konnten oder wollten? Ich ging weiter durch die Regale, öffnete wahllos Bücher und Schriftrollen, fast trunken durch die Aussicht auf so viele Antworten auf so viele Fragen, die mir alle offenstanden. (Vielleicht hatten sie es deshalb für sich behalten … damit sie dieses Gefühl genießen konnten.) Als ich tiefer zwischen die Regale vordrang, entdeckte ich Historien in Sprachen, die seit Jahrhunderten niemand mehr benutzt hatte; Werke, auf Pergament und gegerbten Häuten festgehalten von den Sachsen, den Kelten, den Angeln und den Dänen und den Wikingern. Und in anderen Sprachen, die so alt waren, dass sie seit Jahrhunderten niemand mehr laut gesprochen hatte.

»All das war die ganze Zeit hier!«, sagte ich schließlich. »Und ich habe nichts davon gewusst! Das wahre Erbe meiner Familie, uns gestohlen von jenen, denen zu vertrauen und die zu ehren man uns immer gelehrt hat. Das hier hätte uns allen frei zugänglich gemacht werden müssen. Wir haben ein Recht zu wissen, woher wir gekommen sind! Wer unsere Vorfahren waren, was sie taten und warum sie es taten. Ich möchte gern wissen, was der innere Zirkel sonst noch vor uns Übrigen verheimlicht hat, vorm Fußvolk und all den braven kleinen Soldaten, die hinauszogen, um zu kämpfen und für die Ehre der Familie zu sterben … Wir haben das Ende der Fährte erreicht, Molly. Die Antwort ist hier; ich weiß es.«

»Die Antwort?«, sagte Molly behutsam. »Welche spezielle Antwort meinst du, Eddie?«

»Die Antwort darauf, wie alles begann! Wo wir herkamen. Wo die Rüstung herkam. Wie wir Droods wurden.« Ich blickte Molly an. »Ich habe mich manchmal schon gefragt, ob meine Vorfahren vielleicht irgendeinen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben.«

»Nein!«, erwiderte Molly sofort. »Wenn das der Fall wäre, hätte ich davon erfahren.«

Ich entschied mich, nicht zu fragen. Jetzt war nicht die Zeit, sich ablenken zu lassen. Ich schaute mich um und setzte meinen Blick ein: Ein komplexes Gitterwerk aus Schutzzaubern lag über allem; einige davon waren ziemlich beeindruckend stark. Und tückisch. Manche Bücher und Schriftrollen leuchteten hell auf ihren Borden und strahlten seltsame Energien aus. Und ein Werk loderte wie ein Leuchtfeuer, voller uralter Macht. Es stellte sich als einfache Schriftrolle heraus, deren Worte mit Tinte auf grob gegerbte Tierhaut geschrieben worden waren. Die äußeren Markierungen waren in einer Sprache, die ich nicht einmal erkannte. Molly drängte sich dicht neben mich.

»Irgendeine Ahnung, was das ist?«

»Die Antwort«, sagte ich.

»Na gut, schön, aber davon abgesehen …«

»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«, sagte ich und berührte die Wachssiegel, die die Rolle geschlossen hielten, mit dem Eidbrecher. Urplötzlich tauchten die aktivierenden Worte aus dem alten Eisenholzstock selbst einfach in meinem Verstand auf, und als ich sie sprach, eins nach dem anderen, zerbrachen die Schutzzauber um die Rolle und verschwanden. Ganz vorsichtig rollte ich sie auf, und die dunkle Tinte im Inneren hob sich deutlich von der kaffeebraunen Haut ab. Der Text war druidisch, aus Römerzeiten. Was an und für sich schon ungewöhnlich war, denn Druidisch lernen war eine strikt mündliche Tradition, die von Mund zu Mund und Generation zu Generation weitergegeben wurde. Nie wurde etwas niedergeschrieben, damit nichts in die Hände des Feindes fallen konnte. Aber für das hier hatten sie eine Ausnahme gemacht - und ich konnte erkennen, warum.

»Es ist Latein«, sagte Molly, die mir neugierig über die Schulter guckte. »Sonderbarer Dialekt. Irgendetwas über eine Abmachung.«

»Du kannst Latein lesen?«, fragte ich und konnte die Verblüffung nicht aus meiner Stimme heraushalten.

Sie funkelte mich an. »Ich mag vielleicht nicht die Vorzüge deiner privaten Ausbildung genossen haben, aber ein oder zwei Sachen weiß auch ich! Ohne ausreichende Kenntnisse des Lateinischen kann man keinen der größeren Zauber wirken. Die meisten alten Pakte und Bindungen sind darin abgefasst. Was wir hier vor uns haben … ist ein Zauberspruch. Ein Zauberspruch, um verborgene Wahrheiten zu enthüllen … über die Anfänge der Drood-Familie! Du hattest recht, Eddie; es ist die Antwort. Und, wenden wir den Spruch an? Direkt hier und jetzt?«

»Selbstverständlich!«, sagte ich. »Noch eine Chance dazu bekommen wir vielleicht nicht.«

»Ist das etwas, was du gern allein machen möchtest?«, fragte Molly. »Ich meine, ich könnte es verstehen, wenn du -«

»Nein«, sagte ich sofort. »Wir sind zusammen so weit gekommen; es ist nicht mehr als richtig, wenn wir den letzten Schritt auch noch zusammen gehen.«

Also sprachen wir beide den Spruch unisono, intonierten das alte Lateinisch laut gemeinsam, und die Welt, die wir kannten, wurde von einer Woge ungezügelter Magie fortgerissen, als der Zauber uns einen Blick in vergangene Zeiten bot.

* * *

Wir waren nicht dort. Wir sahen und hörten alles, aber wir waren nicht anwesend. Dies war die Vergangenheit, und wir hatten keinen Platz darin, außer als Beobachter.

Vor uns lag das alte Britannien. Die Zinninseln nannten es die Römer, denn Zinn war unser einziger Besitz, der sie interessierte. Das Land der Briten: ein wilder Ort, damals, als wir alle im Wald lebten, in den wilden Wäldern, an den dunklen Stellen, wohin die Römer uns nicht zu folgen wagten. Das Bild bewegte und veränderte sich und zeigte uns Ansichten, die mit Sinn und Bedeutung beladen waren. Wir sahen zu und lernten.

Zu dieser Zeit begann die Geschichte der Droods. Wilde Männer in zottigen Fellen, deren zähnefletschende Gesichter mit blauem Färberwaid beschmiert waren, rannten brüllend durch die Bäume: Meine Vorfahren, die Druiden. So wild, so ungezähmt, dass sie sogar die abgebrühten römischen Legionäre in Angst und Schrecken versetzten. Sie kämpften; Stämme gegen Heere, Bronze gegen Stahl. Und doch gewannen die Druiden anfangs, drängten die einfallenden Römer bis zu ihren wartenden Schiffen zurück und schlachteten sie dann in den Untiefen ab, bis sich der ganze Ozean rot von ihrem Blut zu färben schien. Die Überlebenden segelten weg - aber sie kamen wieder. Die Römer kamen wieder, und wieder, bis sie schließlich durch Stahl und Taktik und zahlenmäßige Überlegenheit triumphierten. Denn sie waren ein Heer, und wir waren nur verstreute Stämme, die sich untereinander oft genauso sehr hassten, wie sie die Invasoren hassten.

Am meisten fürchteten die Römer die Druidenpriester. Sie versuchten sie auszurotten, ihr mündlich überliefertes Wissen und ihre Traditionen zusammen mit ihrer grausamen Religion zu zerstören. Und es schien ihnen auch zu gelingen … bis das Herz kam und alles sich änderte.

Es fiel nicht aus den Wolken, wie die offizielle Geschichte sagt. Es fiel nicht wie ein Engel vom Himmel oder wie ein Meteor aus dem Weltraum. Es lud sich aus einer anderen Dimension herunter, einer anderen Art von Realität. Drängte sich unserer Welt auf durch einen Akt reinen Willens. Die Auswirkungen seiner Ankunft töteten alles Leben in der näheren Umgebung und legten im Umkreis von Meilen alle Bäume flach. Tagelang bebte die Erde und seltsame helle Lichter und Energien brannten im Himmel. Doch die Druiden, obschon in vernünftigem Rahmen vorsichtig, fürchteten sich vor nichts und schickten Abgesandte zum Herzen.

Jene Druiden wurden die allerersten Droods.

Meile um Meile wanderten sie zwischen umgestürzten Bäumen, und obwohl sie Wunder und Gräuel sahen und Lebewesen, die durch die entsetzlichen Energien, die die Ankunft des Herzens freigesetzt hatte, mutiert waren, blieben sie nicht stehen oder wandten sich ab. Sie waren Schamanen, deren Aufgabe es war, den Stamm vor Bedrohungen von außen zu schützen und zu verteidigen. Und schließlich gelangten sie zu der großen Lichtung verdorrter, toter Erde, auf der das Herz lag. Ein Diamant, so groß wie ein kleiner Berg, glitzernd und schön - und lebendig. Er sprach zu den Druidenschamanen, die zu ihm gekommen waren, und sie verehrten ihn als ein Zeichen der Götter oder vielleicht sogar einen der Götter selbst.

Das Herz war damit durchaus zufrieden; es war verloren und fern der Heimat und geschwächt von seiner langen Reise. Es war auf unsere Welt gekommen auf der Flucht vor etwas anderem. Etwas, wovor das Herz immer noch sehr viel Angst hatte. Also schlug es den Druidenschamanen einen Handel vor. Es würde sie mächtig machen, sie zu Göttern unter ihrer eigenen Art machen, und dafür würden sie das Herz verehren und gegen alle Feinde schützen. In dieser Welt … und außerhalb.

Das Herz gab den Druiden ihre lebende Rüstung, und sie wurden mehr als Menschen.

Ursprünglich benutzten die Schamanen die Rüstung nur, um die Stämme gegen die dunklen Kräfte und Mächte des Bösen zu schützen, die sich in jenen Tagen noch offener in der Welt bewegten. Aber die Rüstung machte diese Droods sehr mächtig, und jede Macht verleitet … Die größte Bedrohung für die Stämme waren die einmarschierenden Römer, aber die Schamanen waren klug genug, um zu wissen, dass nicht einmal die goldene Rüstung die römischen Heere für immer aufhalten konnte. Also gingen sie zu den Römern und schlossen einen Handel: Rom sollte herrschen … durch die Droods, und so wären die Stämme vor der ärgsten Macht Roms geschützt. Als fünf Jahrhunderte später das Römische Reich endgültig niederging und zerfiel und die römische Amtsgewalt Britannien verließ, machten die Droods einfach weiter. Operierten im Geheimen, um die Stämme vor allen Bedrohungen zu schützen, von außen … und von innen.

Aber was war die Rüstung, dieses wunderbare, goldene, lebende Metall? Wo kam sie her? Und welchen Preis forderte das Herz dafür, jene ersten paar Droods zu so viel mehr als Menschen zu machen?

Ein Drood stand vor dem Herzen und bot dem mächtigen Diamanten ein Zwillingssäuglingspärchen dar. Eins der Babys wurde dem Drood von einer unsichtbaren Kraft aus den Armen gerissen und hing in der Luft vor dem Herzen, strampelnd und schreiend. Und dann wurde es plötzlich in die strahlende Oberfläche des Herzens gesaugt und verschwand im Inneren. Seine Schreie brachen abrupt ab. Und um den Hals des Säuglings, den der Drood noch hielt, erschien ein glänzender goldener Halsreif. Das Bild zeigte andere Opfer, andere Anblicke, über viele Jahre hinweg, bis das Geheimnis der Familie offenbar war.

Alle Druiden, die den Energien des Herzens ausgesetzt waren, machten vorherbestimmte genetische Veränderungen durch, und von dem Punkt an wurden alle Drood-Kinder als eineiige Zwillinge geboren. Sehr bald nach der Geburt wurde ein Kind dem Herzen gegeben, das seinen Körper und seine Seele absorbierte, auf dass der überlebende Zwilling die goldene Rüstung tragen und der Familie dienen mochte. Wenn ich das lebende Metall trug, umgab ich mich mit allem, was von meinem geopferten Zwilling noch übrig war. Dem Bruder, den ich nie gekannt hatte. Jedes Mal, wenn ich hochrüstete, trug ich meinen Bruder wie eine zweite Haut.

Wie viele Zwillinge, wie viele Leben waren dem Herzen geopfert worden, über die langen Jahrhunderte hinweg? Wie vielen unschuldigen Kindern war die Chance aufs Leben verwehrt worden, damit die Droods mehr als Menschen sein konnten?

Das Bild zeigte uns mehr. Es wurde schlimmer.

Während mehr und mehr Babys dem Herzen gegeben wurden, wurde das Wesen aus einer anderen Dimension heller, stärker. Die Seelen der geopferten Kinder wurden im Herzen eingeschlossen und festgehalten, gefangen gehalten, um die Kraft zu erzeugen, die unsere Rüstung erschuf, die unsere Zaubereien und unsere Wissenschaften antrieb, die unsere Familie stark machte.

Mir war schlecht. Ich kam mir besudelt vor. Ich war dazu erzogen worden, das Herz in seinem Sanktum zu verehren und zu schützen, ohne jemals zu wissen, was es wirklich war: ein Seelenfresser. Genau wie jene ekelhaften Wesen, die Abstoßenden Abscheulichen, aber in einem viel größeren Umfang. All diese Babys … all diese Generationen gefangener Seelen, denen ein späteres Leben verweigert wurde, die zu einem nie endenden Dasein im Inneren des Herzen verdammt wurden, um es mächtig zu machen! Wussten sie es? Hatten sie Bewusstsein da drin? Litten sie unaufhörlich? Schrien sie die ganze Zeit, hinter den schimmernden Facetten dieses gewaltigen Diamanten?

Das Bild erlosch, und Molly und ich wichen in unsere Körper zurück. Wir sahen einander an, vor Erschütterung sprachlos. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so wütend gewesen. Sehr vorsichtig rollte ich die Schriftrolle zusammen, verschnürte die Bänder wieder und legte sie ins Regal zurück. Ich durfte nicht riskieren, dass sie beschädigt wurde: Sie war Beweis eines Verbrechens. Kalt brannte der Zorn in mir, und noch nie hatte ich mich so zielgerichtet, so entschlossen gefühlt. Molly streckte die Hand nach mir aus und hielt im letzten Moment inne, als ob sie sich an mir die Finger verbrennen könnte. Ich glaube nicht, dass ihr gefiel, was sie in meinem Gesicht, in meinen Augen sah.

»Eddie …«

»Schon gut«, sagte ich, doch etwas in meiner Stimme ließ sie zusammenzucken. »Ich wusste schon immer, dass meine Familie mit allen Fasern ihres Herzens verkommen ist.«

* * *

Ich hörte nichts, ich sah nichts, aber plötzlich wusste ich einfach, dass er da war, hinter mir stand. Und weil es sich ganz und gar nicht leicht an mich heranschleichen lässt, wusste ich, wer es war, wer es sein musste. Langsam drehte ich mich um, und da war er und hielt eine Pistole auf mich gerichtet. Molly drehte sich ebenfalls um und rückte dann instinktiv etwas näher an mich heran. Die Matriarchin hatte den größten Frontagenten von allen geschickt, um sich mit mir zu befassen.

»Hallo, Onkel James«, sagte ich.

Er nickte, ohne zu lächeln, groß und gut aussehend wie immer, vollendet elegant in einem Smoking, und die Waffe in seiner Hand wirkte beinah deplatziert, wie sie Molly und mich in Schach hielt. Durchaus möglich, dass er gerade von einer Cocktailparty oder vom Ball eines Botschafters kam. Irgendeinem wichtigen Anlass, wo die Hohen und Mächtigen zusammenkamen, um all die bedeutenden Angelegenheiten zu bereden. Onkel James war immer in den allerbesten Kreisen zu Hause, wenn er nicht gerade den Abschaum der Erde durch Hinterhofspelunken oder entlegene Verstecke, den Regenwald des Amazonas oder die dunkelsten Schluchten städtischer Dschungel jagte.

»Hallo, Eddie«, sagte er, und seine Stimme klang überhaupt nicht angespannt. »Du hast noch nie gemacht, was man dir sagte, schon als Kind nicht. Ich hatte dir gesagt, du sollst nicht hierher zurückkommen. Ich hatte dir gesagt, dass ich dich töten muss, wenn wir uns je wieder begegnen. Und trotzdem bist du hier, und ich bin hier. Also … Willst du mich nicht wenigstens deiner kleinen Freundin vorstellen?«

»Du lieber Himmel!«, sagte ich. »Aber selbstverständlich; wo war ich bloß mit meinen Gedanken? Onkel James, dies ist Molly Metcalf, die Hexe der wilden Wälder. Molly, dies ist mein Onkel James. In anrüchigen Kreisen besser bekannt als der Graue Fuchs.«

»Wirklich?«, fragte Molly und wirkte zum ersten Mal, seit ich sie kannte, ehrlich beeindruckt. »Der Graue Fuchs? Verdammt! Eddie, du hast mir nie erzählt, dass der legendäre Graue Fuchs dein Onkel ist! Es ist eine Ehre, Sie kennenzulernen, Sir. Wirklich! Ich habe Ihre Karriere jahrelang verfolgt, aus der Entfernung, versteht sich. Sie haben es mit den Hanebüchenen Hirngespenstern, der Blutigen Bestie des Bodminmoors und den Mordmystikern -«

»Mit den letzten nicht«, sagte Onkel James huldvoll. »Die Mordmystiker hat mein Bruder Jack auseinandergenommen. Ihm ist nie das hohe Ansehen zuteilgeworden, das er verdiente.«

»Du hast eine Pistole«, sagte ich. »Du hättest mir in dem Moment, als du hereingekommen bist, in den Rücken schießen können, bevor ich überhaupt gewusst hätte, dass du mich gefunden hast. Ehe ich hätte hochrüsten können - das wäre vernünftig gewesen.«

»Ja«, entgegnete er lässig. »Ich hätte dich und deine kleine Freundin töten können, aber ich habe es nicht gemacht. Ich musste zuerst mit dir reden, Eddie. Ich weiß, dass du die Schriftrolle geöffnet hast, die Worte gesagt hast, die Vision gesehen hast. Als du die Siegel brachst, löste das einen stillen Alarm aus, und wir wussten alle, dass du es sein musstest. Also sagte ich, ich würde hingehen und mich um die Angelegenheit kümmern. Wie hast du das Siegel gebrochen, Eddie?«

»Ich habe den Eidbrecher«, antwortete ich und zeigte ihm den Eisenholzstock.

»Tatsächlich. Dann hast du also Jack einen Besuch abgestattet, nicht wahr? Natürlich hast du das! Er war immer von der weichherzigen Sorte. Ich werde später ein paar Worte mit ihm wechseln müssen. Leg den Stock runter auf den Boden, Eddie. Ganz vorsichtig.«

Ich bückte mich, legte den Stock auf den Boden und richtete mich wieder auf, ohne dabei Onkel James aus den Augen zu lassen.

»Wer hat dich geschickt?«, fragte ich ihn. »Der Rat oder die Matriarchin? Wie tief reicht die Fäulnis?«

»Der Rat und die Matriarchin«, sagte Onkel James. »Du hast so ziemlich jeden stocksauer auf dich gemacht, Eddie.«

»Kennst du das Geheimnis der Schriftrolle?«, fragte ich. »Die Wahrheit hinter der Rüstung und dem Herzen?«

»Natürlich kenne ich das. Es ist das Erste, was sie einem erzählen, wenn man Ratsmitglied wird.«

Ich hob eine Augenbraue. »Es war mir nicht bewusst, dass es Frontagenten erlaubt ist, im Rat zu dienen.«

»Für Ausnahmepersonen werden Ausnahmen gemacht«, sagte James. Er prahlte nicht, er führte nur eine Tatsache an.

»Was hast du gemacht?«, fragte ich. »Als du es herausgefunden hast, das mit all den Kindern, die geopfert worden sind, damit wir werden konnten, was wir sind?«

»Oh, ich war schockiert«, antwortete Onkel James. »Entsetzt. Aber ich kam darüber hinweg. Genau wie du rechtzeitig darüber hinwegkommen wirst. Der ursprüngliche Handel wurde in einer einfacheren, wilderen Zeit von wilden Menschen gemacht. Aber die Familie ist zu wichtig geworden, zu notwendig, als dass man das Risiko eingehen dürfte, diesen Handel aufzukündigen. Es ist nicht mehr nur der Stamm, den wir beschützen - wir beschützen die Menschheit. Wir haben eine Verpflichtung, eine Verantwortung, uns zwischen sie und die Mächte der Finsternis zu stellen, von denen sie nie etwas erfahren darf. Und das Geheimnis … ist bloß ein Teil der Bürde, die wir tragen müssen, damit wir tun können, was getan werden muss.«

»Wie beispielsweise die Welt von hinter den Kulissen aus zu regieren?«, warf Molly ein. »Wie alles gnadenlos auszumerzen, was nicht euren engstirnigen Maßstäben dessen, was akzeptabel ist, genügt?«

»Sich aufzuregen ändert gar nichts«, sagte Onkel James, wobei er nach wie vor nur mich ansah. »Es wird deinen oder meinen Zwillingsbruder nicht zurückbringen. Sie sind gestorben, damit wir die Rüstung tragen können, damit wir eine Streitmacht für das Gute sein können in einer Welt, die uns jetzt mehr denn je braucht. Wir können es nicht allen in der Familie erzählen, Eddie; das musst du wissen. Die meisten haben keine Ahnung, wie es draußen in der Welt zugeht. Sie würden nicht verstehen … wie unumgänglich manche Dinge sein können. Deshalb wissen nur die Matriarchin und der Rat Bescheid: diejenigen unter uns, die ihren Wert durch langen Dienst an der Familie bewiesen haben. Und an der Welt. Wir tragen die Last der Wahrheit, damit andere es nicht müssen. Damit wir damit fortfahren können, Tag für Tag die Welt zu retten.«

»Das ist alles?«, fragte ich. »Der Zweck heiligt die Mittel? Na komm schon, Onkel James, das kannst du doch besser!«

»Ich habe darauf bestanden, dass sie mich hierherschicken«, fuhr Onkel James eindringlich fort, »weil ich der Einzige bin, der dich nicht sofort niederschießen würde. Ich musste mit dir reden, Eddie, es dir begreiflich machen. Ich will dich nicht töten müssen, Eddie; nicht, wo du noch so viel für die Familie tun könntest. Du hast so viel Potenzial … und du erinnerst mich so sehr an deine Mutter.«

»Fang nicht damit an!«, sagte ich, und ich konnte hören, wie kalt meine Stimme war.

Er schreckte nicht davor zurück. »Meine Schwester war eine der besten Frontagentinnen ihrer Generation«, redete Onkel James weiter. »Da war es nur plausibel, dass auch ihr Sohn etwas Besonderes sein würde. Ich habe dich aufgezogen, Eddie; habe dir alles beigebracht, was ich wusste. Ich habe in dir immer … den Sohn gesehen, den ich niemals hatte.«

»Du hast mich dazu erzogen, Recht von Unrecht unterscheiden zu können«, erwiderte ich, »das Böse zu bekämpfen, wo immer ich es antreffe. Und genau das mache ich gerade, Onkel James.«

»Wir sorgen dafür, dass die Welt sicher bleibt!«, sagte Onkel James fast flehentlich. »Wir beschützen die Menschheit vor all den Mächten, die sie vernichten würden, wenn wir nicht da wären!«

»Ihr seid eine der Mächte, die uns vernichten würden«, korrigierte Molly.

Onkel James ignorierte sie immer noch, konzentrierte sich nur auf mich. »Jemand muss die Aufsicht führen, Eddie. Man kann nicht darauf vertrauen, dass die Politiker das Richtige tun, nicht, wenn es so viel leichter ist, das Vorteilhafte zu tun. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie viele Kriege wir über die Jahrhunderte verhindert haben, indem wir hinter den Kulissen tätig waren? Wie viele Weltkriege nie stattgefunden haben dank uns? Es gab Zeiten, wo die Familie alles war, was zwischen der Menschheit und ihrem völligen Untergang stand! Unsere Vergangenheit mag nicht lupenrein sein, aber die Welt wäre ein weitaus schlechterer Ort ohne uns.«

»Das wissen Sie doch gar nicht!«, entrüstete sich Molly. »Nicht mit Sicherheit jedenfalls. Wer kann schon sagen, was für eine Welt wir uns geschaffen hätten, wenn wir gezwungen gewesen wären, unsere eigenen Fehler zu machen und daraus zu lernen?«

»Wir waren immer Kämpfer für das Gute!«, sagte Onkel James und blickte mir fest in die Augen.

»Ja«, stimmte ich ihm zu, »im Großen und Ganzen waren wir das, denke ich. Aber der Preis … ist zu hoch. Man kann nicht nur ein bisschen korrupt sein, Onkel James. Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir, wenn wir auch anfänglich nur Diener und Beschützer der Welt waren, mittlerweile ihre Geschicke lenken.«

»Bitte!«, sagte er. »Gib auf! Zwing mich nicht dazu, dich zu töten, Eddie! Wir können das immer noch aus der Welt schaffen; es ist noch nicht zu spät! Ich werde vor dem Rat für dich sprechen. Deine Großmutter ist kein Monster, Eddie; wenn sie eine Möglichkeit sieht, dich zu retten, dann wird sie es machen. Du weißt, dass sie es machen wird!«

»Ich kann nicht zulassen, dass es so weitergeht«, sagte ich. »Nicht mehr jetzt, wo ich es weiß. Ich bin hier, um die Welt zu befreien, Onkel James, um alle Ketten der Menschen zu sprengen und sie in Freiheit leben zu lassen. Wir sollten die Schäfer der Welt sein, nicht ihre Gefängniswärter! Aus uns ist genau das geworden, was zu bekämpfen wir erzogen wurden. Die Familie muss gestürzt werden, für das, was sie der Welt und sich selbst angetan hat - und mir. Keine Lügen mehr, Onkel James. Keine toten Babys mehr. Keine Droods mehr, die unwissentlich in den lebenden Häuten ihrer ermordeten Zwillinge herumlaufen. Das hier sollte nur zwischen dir und mir ausgetragen werden, Onkel James. Lässt du Molly gehen? Wenn sie sich einverstanden erklärt, einfach zu verschwinden?«

»Tut mir leid«, sagte er, und er klang, als ob er es so meinte. »Du weißt, dass ich sie nicht fortlassen kann, Eddie. Nicht jetzt, wo sie das Geheimnis kennt. Wenn sie sich auf deine Seite stellt, dann stirbt sie auch an deiner Seite. Aber … wenn du in die Familie zurückkämst, dann könnte vielleicht etwas arrangiert werden … Als deine Frau würde sie auch zur Familie gehören.«

»Augenblick mal!«, empörte sich Molly.

»Sei still, Kind!«, sagte Onkel James. »Ich versuche, dir das Leben zu retten. Ihr beide könntet das Herrenhaus nie wieder verlassen, aber ihr könntet dennoch lange, nützliche, produktive Leben hier führen.«

»Und der Familie dienen«, ergänzte ich.

»Jawohl.«

»Für die Droods arbeiten?«, fragte Molly. »Da scheiß ich drauf! Lieber sterbe ich! Nichts für ungut, Eddie.«

»Ich muss tun, was richtig ist«, sagte ich. »Ich muss das Böse bekämpfen, wo immer ich es antreffe. Genau wie du es mich gelehrt hast, Onkel James.«

»Eddie …«, sagte er und machte einen Schritt nach vorn.

»Es tut mir leid.«

»Mir auch.« Onkel James seufzte schwer, doch seine Stimme war ruhig und seine Augen so kalt, dass er fast desinteressiert schien. »Mach dir nicht die Mühe hochzurüsten, Eddie. Diese Pistole kam vor langer Zeit vom Waffenschmied. Er hat mir ein paar spezielle rüstungsdurchdringende Kugeln aus fremder Materie gemacht. Sie werden deine Rüstung glatt durchschlagen, genau wie der Pfeil auf der Autobahn.«

»Du hast die ganze Zeit von dem Hinterhalt gewusst!«, sagte ich, beinah überrascht festzustellen, dass ich nach so vielen Geheimnissen noch schockiert sein konnte. »Hast du gewusst, dass der Pfeil etwas von sich in meinem Körper zurücklassen und mich vergiften, mich ganz langsam töten würde?«

»Nein!«, beteuerte Onkel James rasch. »Es sollte ein sauberer Abschuss sein. Sie versprachen mir, dass es schnell gehen würde, sonst hätte ich nie zugestimmt! Du solltest nicht leiden … Du solltest heldenhaft auf der Autobahn sterben, während du den grimmigsten Feinden der Familie ins Auge blickst. Es scheint … ich habe dich besser unterrichtet, als mir klar war. Ich bin stolz auf dich, Eddie. Und ich verspreche dir, dass es diesmal ein schneller Tod sein wird. Für dich und für deine kleine Freundin.«

»Träum weiter!«, sagte Molly.

Die ganze Zeit über, während der Onkel James so leidenschaftlich geredet und seine ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hatte, hatte ich gemerkt, wie Molly innerlich Worte der Macht rezitierte - ein Trick, den sie von mir gelernt hatte - und sich bemühte, genug Kraft aufzubringen, um einen einzigen guten Zauber durch die magieunterdrückenden Sicherheitsvorkehrungen der alten Bibliothek zu zwängen. Und jetzt aktivierte sich der Zauberspruch und öffnete ein kleines Raumportal genau neben Onkel James' Hand. Es saugte die Pistole direkt aus seinem Griff und fing an, auch seinen Arm hineinzuziehen, ehe die Sicherheitsvorkehrungen sich wieder Geltung verschafften und das Portal abschalteten. Es verschwand mit einem Puff, und Molly, die sich völlig verausgabt hatte, brach fast zusammen. Sie griff nach einem schweren Bücherstapel, um sich abzustützen, und grinste mich an.

»Bitte schön, Eddie! Es kann losgehen; das Spielfeld ist geebnet. Und jetzt tritt ihm in seinen selbstgerechten, heuchlerischen Arsch!«

Onkel James sah auf seine leere Pistolenhand, als ob er es nicht ganz glauben könnte, und dann sah er mich an. Ich lächelte, und unvermittelt tat er das auch. Das alte, vertraute Den-Letzten-beißen-die-Hunde-Lächeln.

»Na schön, Eddie. Auf geht's! Zeig mir, wie viel du gelernt hast!«

»Du hattest schon von jeher einen Hang zum Melodramatischen, Onkel James«, entgegnete ich.

Wir rüsteten hoch, und binnen eines Moments umschloss uns das lebende goldene Metall. Sofort verschwanden die entsetzlichen Schmerzen in meiner linken Seite, und erst als sie nicht mehr da waren, merkte ich, wie schlimm sie geworden waren. Die goldene Rüstung machte mich wieder stark und mächtig. Mein toter Bruder machte mich stark … aber darüber konnte ich jetzt nicht nachdenken. Ich musste alles, was ich hatte, auf Onkel James konzentrieren, oder er würde mich töten. Schließlich war er der erfahrenste und tödlichste Frontagent, den die Familie je hervorgebracht hatte.

Aber er hatte noch nie jemandem wie mir gegenübertreten müssen. Einem Halb-Vogelfreien, der seine besten Tricks außerhalb der Familie gelernt hatte. Gehärtet in den Feuern zweier fürchterlicher Tage, stärker gemacht denn je durch das, was ich tun musste, um zu überleben. Und Onkel James hatte nicht meine Empörung, meine Wut, meine gerechte Sache. Nein - einem Drood wie mir war er noch nie begegnet.

Wir umkreisten einander langsam, wachsam, golden und prächtig schimmernd im gedämpften Licht der alten Bibliothek. Ich wusste nicht, welche Waffen er vielleicht unter seiner Rüstung haben mochte, aber ich konnte davon ausgehen, dass er es nicht wagen würde, sie zu benutzen, aus Angst, die alte Bibliothek zu beschädigen. Nur ein paar Funken an der falschen Stelle könnten einen schrecklichen Brand verursachen … Und alles, was ich noch hatte, war der Repetiercolt, dessen gewöhnliche Kugeln nutzlos gegen seine Rüstung waren. Also lief alles auf ihn gegen mich hinaus, einer gegen einen, Mann gegen Mann.

Ich ließ schwere Stacheln auf den Knöcheln meiner goldenen Hände wachsen. Onkel James ließ lange, schlanke Klingen aus seinen goldenen Händen wachsen. Die Schneiden sahen sehr scharf aus. Ich hatte vorher noch nie einen Drood gekannt, der das mit seiner Rüstung machen konnte, aber der Graue Fuchs war schon immer der Beste von uns gewesen. Unbestrittener Sieger unzähliger Kämpfe gegen die Mächte des Bösen. Er kannte Tricks, die sonst niemand kannte, die er in dreißig Jahren dreckiger geheimer Kriege auf die harte Tour gelernt hatte. Tief im Innern … wusste ich, dass ich ihn nicht besiegen konnte. Aber ich musste es versuchen. Und sei es nur deshalb, um Molly die Chance zu erkaufen, zu entkommen und die Wahrheit mit sich zu nehmen. Onkel James stand zwischen uns und dem einzigen Ausgang: dem Rahmen des Gemäldes, der zurück in die Hauptbibliothek führte. Also musste ich ihn zurücktreiben, ihn forttreiben, ihn zum Stehen bringen - und selbst im Stehen sterben, wenn es das war, womit ich Molly ihre Chance erkaufen konnte.

Mein einer Vorteil gegenüber dem Grauen Fuchs: Ich starb bereits. Deshalb hatte ich nichts zu verlieren.

Ich stürmte vorwärts, getrieben von der ganzen übernatürlichen Kraft und Schnelligkeit, die meine Rüstung hergab, und trotzdem war Onkel James bereit für mich. Er vollführte einen eleganten Seitschritt, seine Schwertrechte kam herumgefegt, und die übernatürlich scharfe Schneide durchschnitt ohne Weiteres die Rüstung über meiner rechten Seite. Meine Rüstung heilte sich sofort selbst und verschloss den Schnitt, aber ich hatte weniger Glück. Schmerz flammte über meine Rippen, und ich fühlte, wie mir unter der Rüstung dickflüssiges Blut an der rechten Seite herablief. Das hatte ich vorher noch nie gefühlt. Immer wieder griff ich Onkel James an, wissend, dass meine einzige Chance darin bestand, an ihn heranzukommen und ihn zu packen, und jedes Mal wich er mir aus wie ein Torero dem Stier, und immer wieder durchdrangen seine unglaublich scharfen Klingen meine goldene Rüstung, schnitten mich, taten mir weh, verlangsamten mich durch zunehmenden Schock und Blutverlust. Der Graue Fuchs umkreiste mich, vermied es dabei sorgfältig, in meine Reichweite zu kommen, und wartete auf das erste Anzeichen von Schwäche, damit er zum Todesstoß vorpreschen konnte.

Also lieferte ich ihm ein Anzeichen. Ich gab vor zu straucheln und ging fast auf ein Knie herunter, und er kam herangeglitten für den Schlussakt, so elegant wie nur irgendein Tänzer - nur um feststellen zu müssen, dass ich ihn erwartete. Ich machte einen Satz nach vorn, zwang ihn zurück und brachte ihn damit aus dem Gleichgewicht. Er fing sich schnell wieder und richtete sich auf, aber bis dahin hatte ich meine Hände um seinen Hals gelegt und drückte mit meinen goldenen Fingern auf seine goldene Kehle. Ich konzentrierte mich und ließ spitze Widerhaken auf den Innenseiten meiner Finger wachsen, die sich tief in das lebende Metall um seinen Hals gruben. Und Onkel James konnte mich nicht bei den Handgelenken packen, um meine Hände wegzubiegen, ohne seine Schwerter aufzugeben.

Er zog den rechten Arm zurück und ließ sein rechtes Schwert mit der ganzen Kraft seiner Rüstung dahinter vorschnellen. Die goldene Klinge bohrte sich durch die Rüstung über meiner linken Seite und durch mich und trat an meinem Rücken wieder aus. Der Schmerz war entsetzlich. Ich schrie auf, und es war Blut in meinem Mund. Es lief mir am Kinn hinunter, unter meiner goldenen Maske. Fast verlor ich das Bewusstsein. Wahrscheinlich hätte ich es verloren, wenn ich nicht so wütend gewesen wäre.

Ich klammerte mich mit beiden Händen an seinem Hals fest und suchte unterdessen verzweifelt nach irgendeinem letzten Trick, den ich gegen ihn anwenden könnte - und in dem Moment erinnerte ich mich daran, wie ich meine beiden goldenen Hände miteinander verschmolzen hatte, um Archie Leechs kandarianisches Amulett zu umfassen und abzuschotten. Wenn ich meine Rüstung verschmelzen konnte, wieso dann nicht auch meine und Onkel James'? Nur für einen Augenblick. Nur gerade so lange, um zu tun, was ich tun musste. Ich konzentrierte mich, bündelte all meine Willenskraft, während mir der Schweiß unter meiner Maske übers Gesicht strömte, und das lebende Metall um seinen Hals gab meinem stärkeren Willen nach, meinem größeren Zorn: Seine Rüstung verschmolz mit meiner, und plötzlich lagen meine bloßen Hände um seinen nackten Hals, und ich drückte fest zu.

Er wehrte sich heftig, wenngleich er nicht verstand, was vor sich ging, warf mich mit brutaler und nackter Gewalt hierhin und dahin, aber ich ließ nicht los. Er zog seine rechte Hand zurück und riss die Schwertklinge aus mir heraus, und wieder schrie ich auf, als ich in mir drin Dinge zerreißen und kaputtgehen spürte, aber ich ließ immer noch nicht los. Nicht einmal, als er mich wieder durchbohrte, und wieder, und die Klinge tief in meinen Eingeweiden versenkte und hin und her drehte.

Er wurde schnell schwächer, aber ich auch, und Gott allein weiß, was geschehen wäre, wenn Molly nicht gewesen wäre.

Wir waren so in unseren Kampf vertieft gewesen, in unser Ringen von Angesicht zu goldenem Angesicht, dass wir beide Molly Metcalf aus den Augen verloren hatten. Sie tauchte hinter Onkel James in seinem toten Winkel auf, und in den Händen hielt sie den Torquesschneider. Sie presste ihm die hässliche Schere in den Nacken, schrie die aktivierenden Worte und durchschnitt seine goldene Rüstung genau an der Stelle, wo sein Halsreif sich befinden musste. Onkel James schrie einmal auf wie eine frisch in die Hölle verdammte Seele, und dann verschwand seine Rüstung in einem einzigen Moment, und sein ganzer Körper erschlaffte in meinen Händen. Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, was passiert war, und einen weiteren Augenblick, herunterzurüsten und meine Hände von seinem Hals zu lösen, aber schließlich ließ ich los, und sein Körper fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr. Plötzlich saß ich neben ihm, denn meine Beine waren einfach unter mir weggeknickt. Ich hatte so schlimme Schmerzen, dass ich kaum atmen konnte. Mein ganzer Körper war blutüberströmt. Mein Onkel James war tot. Ich wollte ihn in den Armen halten, ihm sagen, dass es mir leidtat, aber meine Arme versagten mir den Dienst. Ich hätte geweint, aber irgendwie … war ich einfach zu müde. Zu todmüde.

Molly hockte sich neben mich und legte den Arm um meine Schulter. »Ich musste es tun«, sagte sie. »Er hätte immer noch gewinnen können. Und er hätte dich getötet, Eddie.«

»Natürlich hätte er das«, sagte ich. »Er war der Graue Fuchs. Er war der Beste. Er wusste, dass die Mission immer an erster Stelle kommt.«

»Ich habe ihn getötet«, fuhr Molly fort, »damit du ihn nicht töten musstest.«

»Ich weiß«, antwortete ich. »Das war lieb von dir. Aber … er war mein Papa, in jeder Hinsicht, auf die es ankam. Der eine Drood, den ich immer liebte und bewunderte. Der Mann, der ich am meisten sein wollte.«

Und dann weinte ich, und Molly tat ihr Bestes, um mich zu trösten. Nach einer Weile holte sie den Eidbrecher von dort, wo ich ihn hingelegt hatte, und half mir auf die Füße hoch, sodass sie mich halb aus der alten Bibliothek führen, halb daraus tragen konnte, zurück durch das Gemälde und wieder hinein in die Hauptbibliothek. Bei jeder Bewegung strömte mir das Blut über die Seiten, mein Gesicht glänzte vor Schweiß und meine Hände hingen taub herab. Jetzt, wo wir das magieunterdrückende Feld der alten Bibliothek hinter uns gelassen hatten, konnte Molly eine ganze Anzahl von Heilungszaubern über mich wirken, doch obwohl sie meine Wunden schloss und die Blutung stillte, konnte ich nicht behaupten, dass ich mich besser fühlte.

»Es ist die fremde Materie in dir«, sagte sie schließlich stirnrunzelnd. »Sie beeinträchtigt meine Zauberkräfte. Ich habe dich stabilisiert, aber das ist so ungefähr alles, was ich für dich tun kann.«

»Schon in Ordnung«, sagte ich und lächelte sie an. Das Lächeln schien mir nicht besonders zu gelingen, aber ich tat mein Bestes. »Es spielt keine Rolle, Molly; ich sterbe sowieso. Und diese Scheiße mit den drei oder vier Tagen hat sich auch erledigt. Bloß … halt mich lang genug zusammen, dass ich tun kann, was ich tun muss.«

»Was können wir denn tun?«, fragte Molly verzweifelt. »Gegen etwas wie das Herz?«

»Du hast den Torquesschneider, und ich habe den Eidbrecher«, entgegnete ich. »Ich werde das Herz zerstören und die ganze verfluchte Familie zu Fall bringen.«

»Weil sie dich verraten haben«, sagte Molly.

»Weil sie gelogen haben«, sagte ich. »Sie haben uns alle belogen. Darüber, wer wir sind und was wir sind. Wir waren nie die Helden unserer Geschichte: Die ganze Zeit über waren wir die wirklich Bösen.«

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