Kapitel Vierzehn Fröhliches Delirium

Ich träumte. Eine große Stimme sprach in meinem Verstand; sie sagte: Ich kann dir helfen, wenn du mich nur lässt. Es gibt keine Grenzen für das, was wir gemeinsam erreichen könnten, du und ich. Ich bin die Antwort auf all deine Fragen und auf all deine Probleme. Hör einfach auf, mich zu bekämpfen!

Ich wollte der Stimme glauben. Ich wollte es wirklich. Aber ich war noch nie dazu fähig gewesen, irgendwem außer mir zu vertrauen. Dafür hatte schon die Familie gesorgt.

* * *

Ich erwachte mit einem Messer an meiner Kehle. Molly saß rittlings auf meiner Brust, und das nicht auf angenehme Art. Sie hatte sich dicht über mich gebeugt, und die Schneide ihres Dolchs drückte gerade so fest gegen meinen Hals, dass sie die Haut verletzte. Es tat weh, obwohl es eher irritierend als schmerzlich war, aber ich konnte spüren, wie das Blut langsam an der Seite meines Halses heruntertröpfelte. Ich entschied mich dafür, ganz still zu liegen. Mollys Gesicht hing direkt über meinem und war rot vor Wut, doch ihre Augen waren kalt wie Eis. Im Augenblick war ihre Hand sehr ruhig, und die rasiermesserscharfe Klinge ruhte genau über meinem Adamsapfel. Und ich hatte gerade so einen angenehmen Traum gehabt! Ich schenkte Molly mein allerbestes höfliches Lächeln.

»Guten Morgen, Molly! Gut geschlafen?«

»Du hast mich unter Drogen gesetzt, du Schwein! Hast du etwa gedacht, ich würde es nicht merken? Und du hast im selben Bett wie ich geschlafen nach all dem Unsinn von wegen Decken auf dem Boden!«

»Ja«, bestätigte ich vorsichtig. »Ich habe im selben Bett wie du geschlafen - Betonung auf dem Wort geschlafen. Du musstest dich richtig ausschlafen, und ich ebenso, also habe ich einfach … ein bisschen nachgeholfen.«

Mollys finsterer Gesichtsausdruck wurde noch finsterer, geradezu gefährlich. »Du hast mir Drogen verpasst! Erwartest du allen Ernstes, dass ich dir je wieder vertraue? Du hättest alles Mögliche mit mir anstellen können, während ich schlief!«

»Stimmt«, sagte ich. »Hätte ich. Habe ich aber nicht. Du solltest es trotzdem nicht persönlich nehmen; ich war halt sehr müde. Ich bin sicher, nächstes Mal mache ich es besser!«

»Es wird kein nächstes Mal geben, du hinterhältige kleine Kröte!«, sagte Molly. Aber möglicherweise hatte sich da die Andeutung eines Lächelns in einem ihrer Mundwinkel versteckt. Sie nahm ihr Messer von meiner Kehle und kletterte von meinem Brustkorb herunter. Ich befühlte mit einer Hand meinen Hals und zuckte zusammen, als die Fingerspitzen nass von Blut zurückkamen. Molly zog vernehmlich die Luft ein, während sie vom Bett stieg. »Sei nicht so ein großes Baby! Du hast dich beim Rasieren schon schlimmer geschnitten! Ich nehme nicht an, dass es irgendwo auf diesem Boot eine Dusche gibt, oder? Ich komme mir ziemlich stinkig vor, nachdem ich in meinen Kleidern geschlafen habe.«

»Keine Dusche«, bestätigte ich. »Aber du kannst dir auf dem Gaskocher Wasser heiß machen, wenn du dich waschen möchtest.«

Ich schickte mich an, mich aus dem Bett zu rollen, und hielt abrupt inne; gegen meinen Willen schrie ich auf, denn ein stechender Schmerz raste durch meine Schulter und meinen linken Arm. Es tat höllisch weh, als ich mich, den schmerzenden Arm an der Brust angewinkelt, zähneknirschend aufsetzte. Ich versuchte, ihn langsam zu strecken, und schrie noch einmal auf, als ein fieser Schmerz von meiner Schulter bis hinab in meine Fingerspitzen schoss. Nur den Ellbogen zu beugen fühlte sich schon an, als ob mir jemand einen Schraubenzieher ins Gelenk gestoßen hätte und ihn herumdrehen würde. Sogar meine Finger zu bewegen tat weh. Ich sah zu Molly hinüber, aber sie schüttelte sofort den Kopf.

»Damit hab ich nichts zu tun! Lass mich mal einen Blick auf deine Schulter werfen!«

Ich konnte mein Hemd nicht allein ausbekommen; die Schmerzen waren zu stark. Molly musste mir helfen, es aufzuknöpfen und dann zurückzuschieben, wobei sie mir nicht mehr weh tat als nötig. Vorsichtig drehte ich den Kopf, um meine linke Schulter zu inspizieren. Rings um das Narbengewebe, das von der verheilten Pfeilwunde zurückgeblieben war, war die Haut angeschwollen und entzündet. Molly beugte sich vor, um sich die Sache genauer anzusehen, und drückte dann mit überraschend sanften Fingern hier und da die Haut zusammen. Ich zischte vor Schmerzen, und sie nickte langsam.

»Bist du gestern verletzt worden, als du an den Gefängnispferchen gekämpft hast?«

»Nein«, sagte ich. »Ich war ja in meiner Rüstung. Ich kann nicht verletzt werden, solange ich in meiner Rüstung bin.«

»Der Pfeil des Elbenlords ist aber durchgekommen!«, wandte Molly ein, während sie nachdenklich das Narbengewebe betrachtete.

»Schon, aber das war … extrem ungewöhnlich. Und außerdem habe ich einen Medklecks benutzt, um die Wunde zu heilen.«

»Der scheint aber seine Arbeit nicht besonders gut gemacht zu haben«, stellte Molly fest. Sie trat zurück und zeichnete eine Reihe von komplexen Symbolen in die Luft; leuchtende Schweife folgten ihren Fingerspitzen und hinterließen fremdartige Schriftzeichen, die schimmernd zwischen uns hängen blieben. Molly studierte sie eine Zeit lang schweigend und blickte dann, als die Symbole verblassten, wieder mich an. Ihr Gesichtsausdruck gefiel mir nicht.

»Nett von dir, dass du Anteil nimmst«, sagte ich in dem Bemühen, die Sache zu bagatellisieren. »Aber falls du im Begriff bist, einen chirurgischen Eingriff mit deinem Messer von vorhin vorzuschlagen, glaube ich, dass ich passen werde.«

»Als Krüppel bist du mir nicht von Nutzen«, sagte sie. »Leider gibt es nichts, was ich für dich tun kann. Die ursprüngliche Wunde ist geheilt, aber es sieht so aus, als habe der Pfeil des Elben etwas hinterlassen, als du ihn herausgezogen hast. Es handelt sich dabei nicht um Gift als solches; damit würde ich fertig. Aber es ist etwas in deinem Körper, das nicht dorthin gehört. Ich kann nicht sagen, was es ist, aber es breitet sich aus.«

Ich nickte langsam. »Der Pfeil stammte aus einer anderen Dimension«, sagte ich. »Das ist die einzige Möglichkeit, wie er meine Rüstung durchdringen konnte. Ich habe die Substanz schon einmal gesehen, im Labor des Waffenschmieds. Er nannte sie fremde Materie.«

»Guter Name dafür«, fand Molly. »Meine Magie kann sie wahrnehmen, aber sie nicht beeinträchtigen. Alles, was ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass dein Körper keine Abwehrkräfte dagegen hat. Es ist jetzt schon schlimm, und es wird nur noch schlimmer werden.«

»Sag es!«, verlangte ich. »Sag es einfach!«

»Es tut mir leid, Eddie. Diese fremde Materie frisst dich bei lebendigem Leib auf, Stück für Stück, und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie man sie aufhalten kann.«

»Wie lange noch?«, fragte ich wie betäubt.

»Drei, höchstens vier Tage.«

»Und danach?«

»Es gibt nichts danach. Es tut mir leid, Eddie.«

Ich saß auf dem Bettrand und dachte nach. Ich fühlte nicht viel - noch nicht. »Ich dachte, ich hätte mehr Zeit«, sagte ich schließlich. »Um all die Dinge zu tun, die ich tun muss. Aber ich nehme an … es ist wohl nur ein weiteres Ultimatum. Und mit Ultimaten kann ich umgehen. Hilf mir, das Hemd wieder anzuziehen!«

Es bedurfte unserer vereinten Bemühungen, meinen linken Arm zurück in den Hemdsärmel zu bekommen, und ich gab noch ein paar Geräusche mehr von mir, sogar durch zusammengebissene Zähne. Ich saß still da, während sie die Knöpfe zumachte. Mein Atem ging schwer, und ich konnte spüren, wie kalter Schweiß auf meinem Gesicht trocknete. Aber die ganze Zeit über dachte ich angestrengt nach. Drei, höchstens vier Tage. Die einzigen Leute, die mir eventuell helfen konnten, waren die Ärzte daheim im Herrenhaus. Und vielleicht der Waffenschmied. Onkel Jack. Alles, was ich über fremde Materie wusste, war das, was er mir erzählt hatte. Dass sie von irgendwo anders stammte, dass sie gewisse nützliche Eigenschaften besaß, die niemand verstand, und dass sie keiner unserer Regeln folgte. Aber selbst wenn ich mich selbst aufgeben und ins Herrenhaus zurückkehren würde - es sprach alles dafür, dass Großmutter Befehl gegeben hatte, mich beim ersten Anblick zu töten.

Mehr denn je brauchte ich Antworten. Informationen. Alternativen. Und die Einzigen, bei denen die eventuell zu haben waren - waren die anderen Vogelfreien.

Molly knöpfte mir den Kragen zu und wischte mir mit ihrem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. Ich nickte dankend. Ich war es nicht gewohnt, Hilfe zu brauchen. Ich war es nicht gewohnt, Schmerzen zu haben. Die einzige Art, einem Drood ernsthaften Schaden zuzufügen, war, ihn außerhalb seiner Rüstung zu erwischen, und wir waren alle sehr schwer zu überraschen. Ich war nicht mehr wirklich verletzt worden, seit ich ein Teenager gewesen war. Schmerz und Schwäche waren etwas Neues für mich, und ich hasste sie. Molly sah etwas von diesen Empfindungen in meinem Gesicht und lächelte kurz.

»Willkommen in der Welt, in der wir Übrigen leben! Was willst du jetzt machen, Eddie?«

Ich stand vorsichtig auf. Mein linker Arm hing an meiner Seite herab und war ruhig, solange ich nicht versuchte, ihn zu bewegen. Ich musste los, mich bewegen, etwas unternehmen … aber was? »Welcher Vogelfreie kommt am ehesten für ein Gespräch infrage? Wer wird am wahrscheinlichsten etwas über mich und meine Familie wissen?«

»Das ist wohl der Seltsame John«, antwortete Molly sofort. »Ich habe es noch nie geschafft, viel aus ihm herauszubringen, ich bin mir aber ziemlich sicher, dass er wichtige Dinge weiß.«

»Wohnt er weit von hier?«

»Zwei Bahnfahrten.«

»Vergiss es! Beschwöre noch ein Raumportal!«

»Ich bin nicht ganz sicher, ob das so klug wäre«, sagte Molly vorsichtig. »Raumportale sind wirklich nur für den Gebrauch im Notfall; eins davon zu erschaffen nimmt mich sehr mit.«

»Könnte uns jemand durch das Portal aufspüren, wenn wir weg sind?«

»Nein. Aber jede Menge Leute würde merken, wenn eine derartige Magie in Tätigkeit ist, und hierherkommen, um nachzuschauen, was los ist.«

»Sollen sie ruhig!«, sagte ich. »Das spielt keine Rolle. Ich bezweifle, dass ich noch einmal hierherkommen werde. Wir können es uns nicht mehr leisten, offen durch London zu reisen. Mittlerweile werden sowohl meine Familie als auch das Manifeste Schicksal die Stadt mit Agenten bevölkert haben, die nach uns suchen. Erzähl mir von diesem … Seltsamen John!«

»Er lebt draußen in Flitwick«, sagte Molly, ohne mir dabei direkt in die Augen zu sehen. »Netter kleiner Pendlerort ein Stück außerhalb des eigentlichen Londons.«

»Da gibt es doch etwas, was du mir nicht erzählst!«

»Es gibt viel, was ich dir nicht erzähle. Aber das hier - du musst dir das wirklich selbst anschauen, Eddie.«

»Also schön«, sagte ich. »Lass uns gehen!«

* * *

Das Portal setzte uns knapp außerhalb einer kleineren Ortschaft auf der Kuppe eines grasbedeckten Hügels ab, der Aussicht auf einen alten georgianischen Herrensitz gewährte, welcher von weitläufigen Anlagen umgeben war. Vögel sangen fröhlich unter einem strahlend blauen Himmel, und die Luft des frühen Morgens war frisch und klar. Alles ganz wie auf einer Ansichtskarte, bis auf die hohe Steinmauer, die die Anlagen des Herrensitzes umgab und deren Krone mit Eisenspitzen und Stacheldrahtrollen bewehrt war. Der einzige Weg hinein führte durch ein mächtiges Eisentor, das schwer genug war, um einen Panzer zum Stehen zu bringen. Als ich über die hohen Mauern schaute, konnte ich noch eben so Leute ausmachen, die in den Anlagen hin und her spazierten. Alles sehr beschaulich. Aber selbst aus dieser Entfernung wirkte der Herrensitz streng und bedrohlich, und an den Menschen in den Anlagen war etwas … falsch. Etwas an der Art, wie sie sich bewegten, langsam und ziellos, ohne miteinander zu interagieren. Ich schaute Molly an.

»Also gut«, sagte ich. »Lass hören! Zu was für einem Ort hast du mich da gebracht?«

»Dies sind die Glücklichen Gefilde«, erklärte Molly ruhig, »eine Hochsicherheitsanlage für kriminelle Geisteskranke. Die Einheimischen nennen sie Fröhliches Delirium.«

»Und unser Vogelfreier ist da drin? Was ist er, verrückt?«

»Ja und nein«, antwortete Molly. »Das musst du schon selbst herausfinden. Die Stellung des Seltsamen John hier ist … kompliziert.«

Wir machten uns auf den Weg den Hügel hinunter, rutschten und schlitterten über Gras, das noch nass vom Morgentau war, und lenkten unsere Schritte auf die Anstalt für kriminelle Geisteskranke zu. Mit einem Mal sah das schwere Eisentor nicht mehr annähernd schwer genug aus. Ich studierte den Herrensitz unschlüssig, bis die emporsteigenden Steinmauern ihn meinen Blicken entzogen. Ich war noch nie in einem Irrenhaus gewesen und nicht sicher, was ich erwarten sollte. Wenn Droods ernsthaft verrückt werden, töten wir sie. Das müssen wir; die Rüstung macht sie viel zu gefährlich. Wie Arnold Drood, den Blutigen Mann. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass der Dreckskerl uns so lange an der Nase herumführen konnte! Molly und ich kamen am Fuß des Hügels an, und ich blieb etwas hinter ihr zurück, während sie auf den Eingang zusteuerte. Ich machte nicht bewusst langsamer; es war einfach nur so, dass Molly den Weg kannte.

»So«, sagte ich. »Kriminelle Geisteskranke. Sprechen wir über … Axtmörder und dergleichen?«

»Oh, mindestens!«, meinte Molly aufgeräumt. »Aber keine Sorge; ich bin sicher, sie werden dir alle das Gefühl geben, ganz zu Hause zu sein!«

Wir blieben vor dem Eisentor stehen, das von Nahem noch größer schien. Es sah aus, als ob es in einem Stück gegossen worden sei, mit Gitterstäben so dick, dass man sie mit einer Hand nicht umfassen konnte. Seine Ausführung war nüchtern und rein funktional; es war da, um die Insassen im Inneren zu halten, sonst nichts. Molly drückte auf den Summer, der in die dicke Steinsäule neben dem Tor eingelassen war, und nach einer übermäßig langen Pause kam ein korpulenter Mann in weißer Krankenhauskleidung herüber, um uns durch das Tor misstrauisch anzustarren. Der Ledergürtel um seine dicke Taille beinhaltete ein Funkgerät, Pfefferspray und einen langen, schweren Gummiknüppel.

»Hallo, George!«, begrüßte Molly ihn ungezwungen. »Erinnern Sie sich noch an mich? Ich bin hier, um meinen Onkel John nochmal zu besuchen. John Stapleton.«

»Sie kennen die Prozedur, Molly«, erwiderte George mit überraschend sanfter und angenehmer Stimme. »Sie müssen mir einen datierten und unterschriebenen Erlaubnisschein von der Krankenhausverwaltung vorzeigen.«

»Oh, sicher!«, sagte Molly. Sie hielt eine leere Hand vor ihm hoch, und er beugte sich näher heran, um genauer hinzusehen; seine Lippen bewegten sich langsam, als er die Einzelheiten auf einem nicht existierenden Erlaubnisschein las. Schließlich nickte er, und Molly nahm die Hand schnell wieder herunter. George beschäftigte sich mit einem elektronischen Schloss auf der anderen Torseite, und das Geräusch schwerer Metallriegel, die zur Seite glitten, war zu hören. Das Tor schwang auf versteckter Hydraulik stoßfrei auf, und Molly ging voran in die Parkanlagen. Hinter uns schwang das Tor zu und schloss uns mit den Insassen ein.

»Soll ich im Haus anrufen und eine Begleitung anfordern, die Sie den Rest des Weges führen kann?«, fragte George, dessen Hände an seinem Gürtel in der Nähe des Pfeffersprays und des Schlagstocks lagen.

»Nein, schon in Ordnung, George«, erwiderte Molly. »Ich kenne den Weg.«

Ich muss wohl ein bisschen besorgt ausgesehen haben, denn George lächelte mir beruhigend zu. »Ihr erster Besuch? Keine Angst! Keiner der Patienten wird Sie belästigen! Bleiben Sie einfach nur auf dem Weg, und es wird Ihnen nichts passieren.«

Wir machten uns auf und gingen den breiten Kiesweg hoch. »Was war denn das mit der leeren Hand?«, fragte ich leise.

»Elementarer Illusionszauber«, erklärte Molly munter. »Lässt die Leute sehen, was sie sehen wollen.«

»Onkel John!«, sagte ich mit einiger Betonung. »Und den Namen des Wärters hast du auch gekannt. Bist du rein zufällig vielleicht eine regelmäßige Besucherin hier?«

»Treffer, Sherlock! Durch Zufall fand ich heraus, wer der Seltsame John tatsächlich ist, und seitdem habe ich es für mich behalten. Ich hoffte, ich könnte mich seiner bedienen, um ein bisschen nützlichen Schmutz über seine Familie ans Tageslicht zu bringen. Irgendein geheimes Stück Insiderwissen, das ich als Waffe einsetzen könnte.«

»Und?«

Sie blickte mich kurz mit unlesbarer Miene an. »Warte, bis du ihn kennenlernst, dann wirst du es verstehen.«

Ausgedehnte, fast totgemähte und -kultivierte grüne Rasenflächen erstreckten sich zu beiden Seiten des Weges. Patienten in Morgenmänteln mit wilden Haaren und leeren Augen wanderten teilnahmslos hin und her und schöpften frische Luft. Eine Hand voll gelangweilt aussehender Wärter in weißer Krankenhauskleidung genoss eine Zigarettenpause beim Zierbrunnen. Einige Patienten murmelten vor sich hin. Einige machten nur Geräusche. Keiner von ihnen sah wie ein Axtmörder aus. Und keiner warf auch nur einen Blick auf Molly und mich; sie waren in ihre eigenen privaten Welten vertieft.

Als Molly und ich uns dem großen Haus näherten, erkannte ich, dass die Fenster alle mit Stangen vergittert und mit schweren Metallläden versehen waren, die bei Bedarf zugeklappt werden konnten. Schwenkbare Außenkameras verfolgten unser Herannahen. Das Hauptportal sah sehr stabil und sehr verschlossen aus. Molly beugte sich über das elektronische Kombinationsschloss, das sich in dem Pfosten neben der Tür befand, und tippte vier Zahlen ein.

»Man sollte denken, sie würden die Nummer von Zeit zu Zeit ändern«, sagte sie mäkelig. »Oder sich wenigstens eine anständige Kombination einfallen lassen. Ich meine, solange ich hierherkomme, ist es schon 4321; bloß damit das Personal keine Schwierigkeiten hat, sich im Notfall daran zu erinnern. Jeder x-Beliebige könnte sie erraten! Zumindest jeder x-Beliebige mit der normalen Anzahl von Tassen im Schrank. Ich würde ja einen ernsten Brief an den Anstaltsdirektor schreiben, aber man kann ja nie wissen - eines Tages muss ich vielleicht mal hier einbrechen. Oder aus.«

Die Tür schwang auf und enthüllte eine angenehm offene Eingangshalle. Hübsche Teppiche, gemütliche Möbel, Gedenktafeln und Auszeichnungen an den Wänden. Der einzige Misston war, dass die Empfangsdame in ihrer eigenen kleinen Kabine hinter schwerem verstärktem Glas saß. Sie war eine matronenhafte Frau mittleren Alters in der unvermeidlichen weißen Krankenhauskleidung mit einem ungezwungenen, freundlichen Lächeln. Molly lächelte und nickte vertraulich zurück, und die Empfangsdame schob uns durch einen schmalen Schlitz im Glas ein Gästebuch zu, damit wir uns darin eintrugen. Nach nur einem Moment des Zögerns schrieb ich Mr.& Mrs. Jones.

»Oh, wie nett!«, sagte die Empfangsdame fröhlich. »Mal was anderes als die ganzen Smiths, die wir sonst hier haben! Die meisten Leute legen keinen Wert darauf, ihren richtigen Namen zu benutzen, wenn sie Verwandte besuchen kommen - nur für den Fall, dass jemand herausfindet, dass es einen Kannibalen in der Familie gibt. Obwohl wir natürlich bei solchen Dingen immer größte Sorgfalt walten lassen. Schön, Sie wieder hier zu sehen, Molly! Die meisten Leute kommen nicht gern an einen Ort wie diesen. Wir haben die ganzen Bösen hier: die Kindermörder, die Serienvergewaltiger, die Tierverstümmeler …. All die Patienten, die sonst keiner will oder mit denen sonst keiner zurechtkommt. Erst vor wenigen Wochen hatten wir den Dorset-Schlitzer hier: lammfromm, überhaupt keine Schwierigkeiten.«

»Wir sind hier, um meinen Onkel John zu besuchen«, sagte Molly und beendete einen Monolog, der kein Ende zu nehmen drohte. »John Stapleton?«

»Natürlich sind Sie das, meine Liebe! Der Seltsame John, so nennen wir ihn. Er ist nie ein Problem, Gott segne ihn! Keine Ahnung, was er getan hat, dass man ihn an einen Ort wie diesen geschickt hat, vor meiner Zeit, aber es muss ziemlich schlimm gewesen sein, denn es ist nie darüber gesprochen worden, ihn in eine weniger sichere Einrichtung zu überweisen, obwohl er sich so gut benimmt. Denken Sie daran: Halten Sie hier immer die Augen auf, meine Lieben! Viele Patienten an diesem Ort sind die letzten Gesichter, die viele Menschen jemals sahen! Nun machen Sie es sich bequem, und ich werde einen Aufseher herrufen, der sie ins oberste Stockwerk begleitet.«

Molly ließ sich in einem behaglichen Sessel nieder, aber mir war nicht nach Sitzen zumute. Das hier war kein gemütlicher Ort, trotz allem Schnickschnack. Ich schaute durch eine offene Tür in einen angrenzenden Aufenthaltsraum, in dem Patienten in Morgenmänteln einfach nur herumsaßen. Das war nicht das, was ich erwartet hatte. Keine sich hin und her werfenden Gestalten in Zwangsjacken, keine allgegenwärtigen muskulösen Wärter, die darauf warteten, jeden, der ungezogen war, windelweich zu prügeln. Stattdessen bloß eine Kollektion ganz normal aussehender Leute, die in Sesseln saßen, in Zeitungen und Magazinen blätterten oder sich die morgendlichen Fernsehshows ansahen. Der einzige anwesende Pfleger saß im Hintergrund und löste das Times-Kreuzworträtsel. Als Molly neben mich kam, zuckte ich unwillkürlich ein bisschen zusammen.

»Heutzutage wird alles mit Freundlichkeit gemacht«, erklärte sie mir leise. »Der chemische Knüppel. Sie sind alle vollgepumpt mit Medikamenten, damit sie keine Schwierigkeiten machen oder freche Antworten geben. Allerdings wirst du überall Überwachungskameras bemerken, für den Fall eines Falles. Die richtigen Härtefälle werden außer Sicht verwahrt, um die Besucher nicht zu vergrätzen.«

»Das stimmt«, sagte unsere Begleitung, die plötzlich neben uns erschien: noch ein muskulöser Mann in weißer Krankenhauskleidung, diesmal mit rasiertem Kopf und einem selbstzufriedenen Grinsen im Gesicht. Er behielt eine Hand am Gürtel, direkt neben dem Gummiknüppel, und machte keine Anstalten, uns die andere zu geben. »Hallo, ich bin Tommy. Fragen Sie mich, was Sie wollen! Ich bin sozusagen schon ewig hier. Es gibt gutes Geld, viel Urlaub, und die Arbeit ist die meiste Zeit über nicht besonders schwierig. Kaum irgendwelche Aufregung dieser Tage. Die Wunder der modernen Wissenschaft; besser leben durch Chemie!« Er sah durch die Tür in den Aufenthaltsraum und kicherte ungeniert. »Schauen Sie sie sich an! Man könnte ihnen die Pantoffel in Brand stecken, und sie würden es nicht merken! Wie Ihre Frau gesagt hat, die richtigen Tiere halten wir unten, in der Bärengrube.« Er kicherte noch einmal und sah Molly von der Seite an. »Wir mussten Ihren Onkel John ein paarmal runterstecken, als er anfangs hier war. Danach hat er uns keinen Arger mehr gemacht.«

»Wie geht es ihm?«, erkundigte sich Molly. »Hat mein Onkel einen seiner guten Tage?«

Tommy zuckte leichthin die Schulter. »Schwer zu sagen bei ihm. Solange er sich benimmt, ist das alles, was mich interessiert.« Wieder kicherte er und schaute diesmal mich an. »Der seltsame John - so nennen wir ihn hier. Er ist wirklich nicht ganz beieinander, das arme Schwein. Erster Besuch, was? Erwarten Sie nicht zu viel von dem alten Mann! Wir halten ihn gut sediert, damit er nicht herumwandert. Viele von unsern Schäfchen bekommen nervöse Beine …«

»Es ist gut zu wissen, dass Sie sich so gut um meinen Onkel kümmern«, sagte Molly. »Ich darf nicht vergessen, Ihnen eine Kleinigkeit zu geben, bevor ich wieder gehe!«

Tommy lächelte und nickte, der Gimpel.

Er und Molly unterhielten sich noch weiter, aber ich hörte ihnen nicht mehr zu. Ich benutzte den Blick, den der Torques mir verlieh, um die Eingangshalle so zu sehen, wie sie wirklich war, verborgen vor den Augen bloßer Sterblicher. Überall waren Dämonen; sie huschten über die Decke, hingen an den Wänden und ritten auf den Rücken der Patienten. Dämonen lösen keinen Wahnsinn aus, aber sie ergötzen sich an dem Leiden, das er verursacht. Einige Dämonen waren fett und aufgebläht geworden, wie Parasiten, die sich mit zu viel Blut vollgestopft hatten. Ein untersetztes, schwarzes Insektenwesen hockte zu Füßen des anwesenden Pflegers, wie ein treues Haustier, das auf einen Leckerbissen wartete. Manche Dämonen merkten, dass ich sie sehen konnte. Sie bewegten sich unbehaglich, versenkten ihre Stachelklauen und Greifhaken in Rücken und Schultern der Patienten, um klarzumachen, dass sie ihre Opfer nicht kampflos aufgeben würden. Ich hätte gern jeden einzelnen Dämon im Raum getötet, sie von ihren Opfern heruntergerissen, ihre Schädel und Rückenpanzer unter meinen goldenen Fäusten brechen und zersplittern gefühlt, aber ich durfte es nicht riskieren, eine Szene zu machen. Ich musste den Seltsamen John sehen. Ich musste erfahren, was er wusste.

Ich wandte dem Aufenthaltsraum den Rücken zu und stellte den Blick ab. Es hat schon seinen Grund, weshalb ich ihn nicht sehr oft einsetze. Wenn wir alle die ganze Zeit über die Welt sehen könnten, wie sie wirklich ist, könnten wir es nicht ertragen, darin zu leben. Nicht einmal wir Droods. Unwissenheit kann ein Segen sein.

Ich gesellte mich wieder zu Molly, die sofort meine Ungeduld spürte. Sie hörte auf, den Wärter auszuquetschen, und sagte ihm, sie möchte jetzt ihren Onkel sehen. Tommy zuckte die Schulter und führte uns zu den Aufzügen. Und die ganze Zeit dachte ich: Drei Tage, höchstens vier. Ein Teil von mir wollte schmollen und mit den Füßen aufstampfen und schreien: Unfair! Aber wann war mein Leben jemals fair gewesen? Ich konnte es mir nicht leisten, der Hysterie nachzugeben; ich musste ruhig und konzentriert bleiben. Vielleicht würde mir, am Ende, nur übrigbleiben, kämpfend unterzugehen und so viele meiner Feinde mit mir zu nehmen, wie ich konnte.

Wenn es so war, dann konnte ich es nicht erwarten loszulegen.

* * *

Tommy brachte uns hoch ins oberste Stockwerk. Der Aufzug hatte sein eigenes Sicherheitsschloss. Ich guckte Tommy unauffällig über die Schulter, als er die Kombination einhämmerte: Und siehe da, es war 4321! Hier hätte eine Gruppe entschlossener Pfadfinder einbrechen können! Und würde heutzutage wahrscheinlich eine Auszeichnung dafür erhalten.

»Wieso Seltsamer John?«, fragte ich unvermittelt. »Was ist eigentlich so … seltsam an ihm?«

Tommy kicherte. Dieses Geräusch hatte ich langsam wirklich satt. »Weil er mit Leuten redet, die nicht da sind, und oft nicht mit Leuten reden will, die da sind. Er sieht Dinge, die sonst niemand sehen kann, und erzählt allen möglichen Mist darüber, wenn man ihn lässt. Der Kerl lebt in seiner ganz eigenen Welt. Früher hatte er echt schlimme Albträume, bis wir seine Medikation erhöht haben. Um fair zu sein muss man allerdings sagen, dass er nie gewalttätig ist; isst immer brav sein Essen auf und macht nie Theater, wenn er seine Pillen nehmen soll. Das sind an einem Ort wie diesem die besten Patienten.«

Er führte uns bis ganz ans Ende des Korridors. Die Wände waren in blassen Pastellfarben gestrichen, als ob man vermeiden wollte, dass die Patienten überreizt wurden. Bewegungsempfindliche Kameras folgten uns den ganzen Weg. Die Tür zum Zimmer des Seltsamen John stand halb offen; Tommy trat zurück und bedeutete Molly und mir einzutreten.

»Falls es irgendwelche Probleme gibt: Direkt neben der Tür ist ein großer roter Alarmknopf. Wenn Sie den drücken, komm ich angerannt. Scheuen Sie sich nicht, ihn zu benutzen! Vor nicht allzu langer Zeit hatten wir eine Schwester hier, die einen Kerl zu nah an sich herangelassen hat, und er hat ihr das halbe Gesicht abgebissen, bevor wir ihn wegziehen konnten. Wir haben ihn anschließend halb totgetreten, aber das hat ihr wenig geholfen. Sie kam nie wieder. Kann es ihr nicht verübeln! Hab allerdings gehört, sie soll 'ne echt anständige Entschädigung gekriegt haben. Das sind alles kranke, bösartige Dreckskerle, sonst wären sie nicht hier. Is' nicht bös gemeint, Molly! Besuchen Sie mal schön Ihren Onkel John!«

Er schlenderte fort, und Molly und ich blickten einander an. »Fröhliches Kerlchen«, sagte sie.

»Den Eindruck hatte ich auch.«

»Ich muss wirklich daran denken, ihm einen scheußlichen Fall von Hämorrhoiden zu verpassen, bevor ich gehe.«

»Tu das! Sollen wir reingehen?«

Wir gingen rein. Das Zimmer machte einen ganz angenehmen Eindruck. Noch mehr beruhigende Farben an den Wänden, ein bequem aussehendes Bett und ein paar einfache Möbel, alle offensichtlich am Boden verschraubt. Ein paar Bücher in einem Regal, Blumen in Vasen und ein Fernseher in einer Ecke, ausgeschaltet. Der Patient saß ruhig in einem Sessel am Fenster und sah durch die Gitterstäbe. Ein gebrechlicher alter Mann in einem verblassten Morgenmantel. Er blickte sich weder um, als wir hereinkamen, noch zeigte er sonst eine erkennbare Reaktion, als wir uns ihm näherten. Ich überprüfte ihn kurz mit dem Blick. Er hatte nirgends einen Dämon an sich, aber er trug einen golden Reif um den Hals. Er war tatsächlich ein Drood. Ich ging um ihn herum, um ihm richtig ins Gesicht sehen zu können, und schnappte nach Luft und starrte ihn mit offenem Mund an.

»Was?«, fragte Molly. »Was ist los? Erkennst du ihn?«

»Teufel noch mal, ja! Sein Name ist nicht John: Das ist William Dominic Drood. Und er ist kein Vogelfreier; er wird als vermisst aufgeführt. Die Familie sucht schon seit Jahren nach ihm! Er war der Oberbibliothekar, daheim im Herrenhaus. Einer unserer allerbesten Forschungsgelehrten! Eines Tages … verschwand er einfach und wurde nie mehr gesehen. Und glaub mir, wir alle haben wirklich schwer nach ihm gesucht! Er wusste alle möglichen Sachen über die Familie und das Herrenhaus, Geheimnisse, bei denen wir es uns nicht leisten konnten, dass sie jemand außerhalb der Familie kennt. Aber wir haben ihn nie gefunden. Sein Verschwinden ist eins der großen ungelösten Rätsel meiner Familie. Und die ganzen Jahre über war er … hier?«

Ich hielt inne und sah unvermittelt auf die Überwachungskamera in der anderen Ecke das Zimmers.

»Alles in Ordnung«, sagte Molly schnell. »Ich habe sie mit meinem Illusionszauber belegt, als wir durch die Tür gekommen sind. Sie werden sehen, was sie zu sehen erwarten, sonst nichts. Aber es wird nicht lange halten. Also rede mit dem Mann! Nenn ihn bei seinem richtigen Namen! Ich habe alles versucht, was mir eingefallen ist, und nie mehr als ein Dutzend Worte aus ihm herausbekommen. Probier, ob du mehr Glück hast! Aber mach schnell! Die Zeit ist nicht auf unsrer Seite!«

»Ich weiß«, erwiderte ich. »Glaub mir, ich weiß!«

Ich ging neben dem Sessel des Seltsamen John in die Hocke. Auf die Art fiel es mir leichter, an ihn zu denken, hauptsächlich wegen des wirklich beunruhigenden Blicks in seinen Augen. Was immer er draußen vor seinem Fenster sah, ich war mir ziemlich sicher, dass ich es nicht sehen würde, wenn ich hinaussähe. Oder es sehen wollte.

»William?«, sagte ich. »William Dominic Drood. Kannst du mich hören?«

Er blickte sich nicht einmal um. Der traurige, verlorene Ausdruck in seinem Gesicht änderte sich keinen Moment lang.

»Versuch, ihm deinen Torques zu zeigen!«, sagte Molly auf einmal. »Das könnte etwas ihn ihm auslösen.«

Nur mit der rechten Hand öffnete ich die oberen Knöpfe meines Hemds und legte den goldenen Reif um meinen Hals frei. Ich nahm das Kinn des Seltsamen John in die Hand und drehte sein Gesicht sanft, aber bestimmt herum, sodass er mich ansehen musste. »Hör mir zu, William! Ich bin Edwin Drood, geschickt, um dich zu finden. Schau meinen Torques an! Erinnerst du dich an mich? Ich bin die ganze Zeit in der Bibliothek ein und aus gegangen, als ich noch ein Kind war.«

Er sah auf den Torques, und einfach so - wachte er auf. Es war unheimlich, sogar entsetzlich, zu sehen, wie eine ganz neue Persönlichkeit in sein Gesicht floss, wie Wasser, das in ein Glas strömte. Er sah aufgeweckt und intelligent und nicht im Geringsten verrückt oder mit Medikamenten vollgepumpt aus. Er sprang aus seinem Sessel auf und wich vor mir zurück, wobei er beide Hände von sich streckte, als ob er mich abwehren wollte.

»War es das?«, fragte er. »Bist du gekommen, um mich endlich zu töten, für die Familie?«

»Nein, nein!«, sagte ich schnell. »Ich will dir nichts Böses! Ich bin nicht im Auftrag der Familie hier. Ich bin für vogelfrei erklärt worden und weiß nicht, warum. Ich habe gehofft, du könntest einige Antworten haben, oder wenigstens ein paar Ratschläge.«

Er beruhigte sich fast augenblicklich, kam zurück und ließ sich in seinem Sessel nieder. »So!«, sagte er schließlich. »Eddie Drood. Selbstverständlich erinnere ich mich an dich! Du hast mich ständig mit Fragen geplagt, alles in Zweifel gezogen, dir Bücher ausgeliehen und nie zurückgebracht. Der beste Schüler, den ich je hatte. Und jetzt bist du ein Vogelfreier in Begleitung der berüchtigten Molly Metcalf. Nichts für ungut, meine Liebe!«

»Schon gut!«, sagte Molly. »Erinnern Sie sich daran, dass ich früher schon hier gewesen bin?«

»Ich fürchte, nein. Ich … ich komme nicht mehr viel raus. Außer wenn ich unbedingt muss. Es gab Überlegungen, mich von hier zu verlegen. Denen habe ich schnell ein Ende gesetzt …«

»Aber warum?«, wunderte ich mich. »Was tust du hier, an einem Ort wie diesem? Was ist dir zugestoßen?«

Er sah mich traurig an. »Ich kann die Geister von allen sehen, die du je getötet hast, Eddie. Es sind so viele … Und da ist etwas in dir, etwas anderes … Ich sehe dieser Tage so klar, ob ich will oder nicht.« Er schaute hinüber zu Molly, die sich jetzt auf der anderen Seite seines Sessels niederkauerte. »Und Sie haben so viele unglückselige Übereinkünfte getroffen, um die Macht zu bekommen, die Sie wollten. Um Ihre armen Eltern zu rächen. Ich kann die Ketten sehen, die Sie mit sich schleppen und die Sie niederdrücken. Eine so große Last für jemanden, der so jung ist …« Er blickte erneut aus dem Fenster, damit er Molly oder mich nicht mehr ansehen musste.

»Was siehst du da draußen?«, fragte ich.

»Alle Anblicke aus allen anderen Dimensionen, die sich mit dieser hier schneiden. Ich sehe einen Wald aus Blumen, die in schrecklichen Harmonien singen. Ich sehe eine große, steinerne Honigwabe, tausend Fuß hoch, mit Leuten, die in den Zellen ein und aus krabbeln und wie Insekten an den Wänden hochhuschen. Ich sehe Türme aus reinem Licht und Wasserfälle aus Blut und einen Friedhof, wo sie aus ihren Gräbern steigen und im Mondlicht tanzen.«

Ich schaute zu Molly hinüber. »Denkst du, dass er diese Dinge wirklich sieht?«

»Wer weiß?«, meinte Molly. »Er ist deine Familie.«

Der Seltsame John sah mich scharf an. »So, du bist jetzt also ein Vogelfreier. Was hast du ausgefressen, Eddie?«

»Ich weiß es nicht! Ich hatte gehofft, du könntest -«

»Du bist nicht wegen Hilfe hierhergekommen«, sagte der Seltsame John. »Du bist hierhergekommen auf der Suche nach Schutz und Sicherheit, genau wie ich. Ich habe den Wahnsinn simuliert, um an diesen Ort zu kommen. Die Symptome vorgetäuscht, den ganzen Papierkram gefälscht. Ich war sehr überzeugend! Hier bin ich sicher. Ich bin nicht eingesperrt - die Familie ist ausgesperrt. Hier werden sie mich nie finden. Sie wollen nämlich meinen Tod; oder wenigstens wollen das einige von ihnen. Wegen dem, was ich weiß. Was ich herausgefunden habe …«

»Ich werde die Familie stürzen«, sagte ich. »Ihre Gewalt über die Welt brechen. Wirst du mir helfen?«

»Nein!«, sagte der Seltsame John und schlug auf einmal mit seinen gebrechlichen Fäusten auf die Lehnen seines Sessels. »Das reicht nicht! Die Familie muss ausgelöscht werden, abgeschlachtet, bis auf den Allerletzten von uns! Einschließlich dich und mich! Wir müssen sterben! Die Drood-Familie ist gemein, bösartig, völlig korrupt! Wegen dem, was wir getan haben und was wir alle sind … Für solch eine Sünde kann es keine Vergebung geben. Nur der Tod kann so einen Frevel wiedergutmachen!« Er packte meine Hand mit schmerzhaft festem Griff. »Suchen sie noch nach mir? Nach all der Zeit?«

»Ja. Natürlich! Du bist der Familie sehr wichtig.«

»Sie suchen nach mir wegen dem, was ich weiß.« Er ließ meine Hand los und starrte wieder aus dem Fenster. »Sie werden nie aufhören, nach mir zu suchen.«

»Was ist es?«, fragte Molly. »Was wissen Sie?«

»Ihre Agenten könnten überall sein«, sagte der Seltsame John schlau. »Besucher, Patienten, Wärter. Aber sie werden William Drood nie finden, denn er ist nicht hier. Nur der Seltsame John ist hier. Ich verstecke mich in ihm, so tief, dass niemand mich sehen kann … Aber ihr seid hier. Wenn ihr mich gefunden habt, können sie es auch!«

Jetzt regte er sich richtig auf und warf seinen knochigen Schädel hin und her. Molly und ich brauchten eine Weile, bis wir ihn wieder beruhigt hatten, indem wir ihn trösteten und beruhigten wie ein kleines Kind nach einem Albtraum. »Wieso will die Familie dich so dringend finden?«, fragte ich ihn. »Was weißt du?«

»Ich weiß es nicht«, sagte der Seltsame John unglücklich. »Ich kann mich nicht erinnern. Ich habe mich selbst dazu gebracht, zu vergessen, verstehst du? Es war die einzige Möglichkeit, nicht wahnsinnig zu werden … Ich habe etwas herausgefunden; so viel weiß ich. Ich habe ein Buch gelesen, das ich nicht hätte lesen sollen, ein sehr altes Buch, und es hat mir etwas Entsetzliches über die Familie verraten. Über das, was wir wirklich sind.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Es war auch für mich ein Schock, zu erfahren, dass wir die geheimen Herrscher der Welt sind.«

»Nicht das!«, erwiderte der Seltsame John verächtlich. »Wer schert sich darum? Damit könnte ich leben … Nein, das hier war viel schlimmer … Manchmal träume ich, ich bin wieder im Herrenhaus. Ich gehe ins Sanktum und stehe vorm Herzen … und dann wache ich schreiend auf. Da ist etwas, woran ich mich nicht erinnere, etwas, woran ich mich nicht erinnern darf, weil es zu schrecklich ist, zu entsetzlich, um es zu ertragen. Das Geheimnis im Herzen der Droods … Ich verließ das Herrenhaus. Ich rannte und rannte und rannte, und schließlich kam ich hierher. Hier bin ich sicher. Sicher vor allem und jedem; sogar vor mir selbst. Ich weiß nicht mehr, was draußen in der Welt passiert, und es ist mir auch egal. Dinge zu wissen macht einen nicht glücklich.«

»Niemand ist uns gefolgt!«, beruhigte ich ihn schnell. »Niemand weiß, dass wir hier sind. Du bist immer noch sicher.«

»Gott segne dich, Eddie!«, sagte er. »Ich wünschte, es gäbe etwas, was ich für dich tun könnte! Aber ich kann dir nicht helfen. Ich kann keinem von uns helfen. Wir sind nämlich alle verdammt. Alle verdammt wegen dem, was wir getan haben und was wir sind …«

Und einfach so ging er wieder in sich selbst zurück. William Dominic Drood verschwand, und nur der Seltsame John war noch da. Die Persönlichkeit floss aus seinem Gesicht ab und ließ nur die leere Hülle des Patienten der Anstalt zurück, der ruhig in einem Sessel saß und durch die Gitterstäbe seines Fensters auf die Dinge blickte, die nur er sehen konnte. William Dominic Drood hingegen versteckte sich wieder vor meiner Familie und vor dem, woran er sich so verzweifelt nicht erinnern wollte. Was konnte er entdeckt haben, über welche Wahrheit konnte er gestolpert sein, die so viel schlimmer war als das, was ich bereits wusste? Es war sinnlos, den Seltsamen John oder William Drood danach zu fragen.

Wenn er nicht schon verrückt gewesen war, als er hier ankam, so war er es jetzt todsicher.

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