Kapitel Drei Abhängen im Wolfskopf

Ich verschwand unten in der U-Bahn, mischte mich unter die Menge und nahm die nächste Bahn zum Bahnhof Tottenham Court Road. Ich gesellte mich zu dem Heer von Leuten, die geschäftig die Oxford Street auf und ab eilten, bloß ein weiteres Gesicht unter vielen, und sah mir Schaufensterauslagen an, bis ich sicher war, dass mir niemand gefolgt war. Wenn man nämlich für die Drood-Familie arbeitet, ist der Rest der Welt normalerweise darauf aus, einen zu erwischen. Ich ging hinunter nach Soho. Die Stadt hat das, was einmal der letzte wirklich wilde Teil Londons war, luxussaniert, aber man kann immer noch Sünde, Geheimnisse und Anrüchigkeit in Hülle und Fülle dort finden, wenn man weiß, wo man suchen muss.

Ein kleines bisschen abseits, in einer Seitenstraße, in die sich nie ein Sonnenstrahl verirrt, liegt mein ausgesprochenes Lieblings-Internetcafé. Es ist ein Teil der Electronic-Village-Kette, aber ich mag es, weil es rund um die Uhr geöffnet hat, was Nachtschwärmern wie mir entgegenkommt. Das einzige Fenster in der Ladenfront ist übertüncht, und die Leuchtreklame über der Tür funktioniert schon seit Jahren nicht mehr. Die Leute, die hierherkommen, schätzen die Abgeschiedenheit, während sie merkwürdige, illegale und möglicherweise unnatürliche Sachen mit ihren Computern machen. Ich betrat das Café und blieb im Eingang stehen, damit meine Augen sich an die Düsterkeit gewöhnen konnten. Es gab Stühle und Tische und Computer und sonst rein gar nichts. Den überraschend großen Raum umgab ein Flair stiller Ehrfurcht, nicht unähnlich dem einer Kirche. Die Gäste saßen zusammengekauert über ihren leuchtenden Bildschirmen und hatten für diejenigen um sie herum weder Augen noch Ohren. Die einzigen Geräusche im Raum stammten vom schnellen Tippen auf Tasten und dem leisen Piepsen der Geräte.

Der Geschäftsführer des Cafés kam auf mich zu, um mich zu begrüßen. Willy Fleagal war von der hoch aufgeschossenen, schlaksigen Sorte, mit Bifokalbrille, hoher Stirn und Pferdeschwanz; er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Informationen wollen frei sein TM. Er bedachte mich mit einem breiten Lächeln und einem schlaffen Händedruck. Er kannte mich als Stammkunden mit besonderen Vorrechten, die mir von den Eigentümern der Kette zugesichert worden waren, aber das war auch schon alles, was er wusste. Ich hatte hie und da eine Bemerkung fallen lassen, der er entnehmen konnte, dass ich womöglich ein Enthüllungsjournalist war, der hinter den bösen Jungs in den Konzernen her war, und das gefiel ihm gut.

»Ja da schau her, aber hallöchen, Mr. Bond!«, sagte er, wobei er sich schwer um Fröhlichkeit bemühte, jedoch knapp scheiterte. Willy war ein alter Verschwörungstheorienfreak und neigte daher zu Depressionen, Schwermut und Trübsalblasen als natürlichen Standardeinstellungen. »Ist mir immer eine Freude, Sie hier drin zu sehen, Mann. Sind Sie sicher, dass Ihnen niemand gefolgt ist? Aber klar doch sind Sie sicher, aber klar doch!« Er zog einen tragbaren Scanner heraus und untersuchte meine Kleidung auf angebrachte Wanzen. Gehörte bei Willy alles zum Service.

»Sie scheinen ganz gut zu tun zu haben, Willy«, meinte ich. »Irgendwas Pikantes zutage gefördert kürzlich?«

Er nickte schnell und senkte die Stimme, während er mich über den neuesten Verschwörungstratsch ins Bild setzte. Von dem ich das meiste bereits kannte, aber ich brachte es nicht übers Herz, ihm das zu sagen. Seine tränenden Augen leuchteten hinter den Bifokalgläsern, als er mir feierlich versicherte, dass die britische Königsfamilie in Wirklichkeit von uralten Eidechsengöttern abstammt, die ihren schrecklichen Ursprung im deutschen Schwarzwald hatten; dass das Pentagon der Vereinigten Staaten in Wirklichkeit eine geheime sechste Seite hat, unsichtbar für alle bis auf die Auserwählten, wo alle wirklich wichtigen Entscheidungen getroffen werden; und dass eine gewisse Hollywood-Schauspielerin in Wirklichkeit ein gestaltwandlerisches Alien ist, weshalb sie auch so leicht ab- und zunehmen kann und gleichzeitig niemals zu altern scheint. Diese letzte Geschichte war mir neu, und ich nahm mir vor, sie später zu überprüfen. Die Familie weiß von vier gestaltwandlerischen Alienspezies, die gegenwärtig auf unserer Welt zu tun haben, und ein Teil der Übereinkunft lautet, dass sie sich aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit fernhalten sollen.

Schließlich war Willy leergelaufen und führte mich an seinen Gästen, die blind für die Welt um sich herum an ihren Rechnern saßen, vorbei zu dem Hinterzimmer, das für meinen Gebrauch reserviert war. Er schloss die Tür auf, geleitete mich mit einem letzen düsteren Schniefen hinein und ließ mich dann allein. Ich blieb stehen, bis ich ihn die Tür wieder abschließen hörte, und setzte mich dann vor den wartenden Computer. Ich brauchte nicht nachzusehen, ob Willy oder sonst wer sich daran zu schaffen gemacht hatte; falls irgendjemand außer mir sich ihm auch nur näherte, würde sich das ganze Ding auf ziemlich beeindruckend unangenehme Art und Weise selbst zerstören. Das wusste Willy natürlich nicht. Er brauchte es nicht zu wissen. Er brauchte auch nicht zu wissen, dass sich im Inneren des Standardcomputergehäuses nichts als eine zweckmäßig präparierte Kristallkugel befand. Viel leistungsstärker als jeder Rechner und verdammt viel schwerer zu hacken.

Ich sagte laut meinen richtigen Namen, und der Monitor schaltete sich ein und zeigte mir das Bild meiner üblichen Kontaktperson, Penny Drood. Eine kühle Blonde in einem engen Pullover, hinlänglich süß und gescheit und sexy, auf eine distanzierte Art. Ich mag Penny. Sie lässt sich nichts von mir gefallen.

»Du bist spät dran«, sagte sie. »Von Agenten im Außendienst wird verlangt, dass sie ihren Bericht exakt zur vollen Stunde abgeben.«

»Ja, es ist mir gelungen, nicht getötet oder schwer verletzt zu werden, danke der Nachfrage, Penny. Dürfte ich mich erkundigen, wieso die Missionsinstruktionen mich nicht über den verflucht großen Dämonenhund in Kenntnis setzten, der draußen vor Dr. Dee Wache stand?«

Penny rümpfte die Nase. »Dämonenhunde entwickeln sich dieser Tage zum Standard, Eddie. Was du wüsstest, wenn du dir die Mühe gemacht hättest, die ganzen Aktualisierungen zu lesen, die ich dir geschickt habe.«

»Wenn ich alles lesen wollte, was die Familie mir schickt, würde ich nie irgendwas erledigt kriegen. Und das hier war ein echt großer Scheißkerl.«

Penny lächelte kurz. »An dem Tag, an dem du nicht mehr mit einem Dämonenhund fertig wirst, werden wir dich in Rente schicken. Und jetzt erstatte bitte deinen Bericht. Du bist nämlich nicht der einzige Agent, um den ich mich kümmern muss.«

»Ah, aber die andern vergöttern nicht wie ich den Boden unter deinen Füßen!«

»Götzenanbetung führt zu nichts. Erstatte deinen Bericht!«

Ich machte mich sofort an die Arbeit, flüssig und präzise, mit der Mühelosigkeit langer Gewohnheit. Nur die relevanten Details; die Familie braucht nicht alles zu wissen, solange der Auftrag erfolgreich durchgeführt wird. Mein kurzes, unglückliches Zusammentreffen mit dem Karma-Katecheten ließ ich unerwähnt. Als ich jedoch zum Ende meines Berichts kam und mich in meinem Stuhl zurücklehnte, war das Allererste, was Penny sagte: »Erzähl mir vom Karma-Katecheten!« Ich seufzte tief, aber wirklich überrascht war ich nicht. Die Familie weiß alles, wissen Sie noch? So ist es eben. Also erzählte ich Penny, was passiert war, wobei ich sorgfältig darauf achtete zu betonen, dass nichts davon in irgendeiner Weise meine Schuld war, und zum Schluss nickte sie einfach und unterbrach die Verbindung. Der Bildschirm ging aus, und ich stand auf, streckte mich träge und fühlte mich ziemlich erleichtert. Hätte ich in Schwierigkeiten gesteckt, hätte sie mich aufgefordert zu warten, während sie es nach oben weitergab.

Daher, Bericht zu Ende, Mission abgeschlossen. Zeit, ein kultiviertes Wirtshaus aufzusuchen und sich die Kante zu geben.

* * *

Ich verließ das Internet-Café und nickte Willy, der gerade damit beschäftigt war, Bill Gates anonyme Hass-E-Mails zu schicken, zum Abschied zu. Ich machte die Tür fest hinter mir zu und schaute dann beiläufig die Seitenstraße hoch und runter, um mich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war. Der Nachmittag ging inzwischen in den Abend über, die Schatten wurden länger und dunkler. Die Seitenstraße endete an einer schmutzigen Backsteinmauer voll verblasster Graffiti. Ich stellte mich vor die Mauer, sprach gewisse Worte, und im Mauerwerk vor mir erschien eine Tür. Eine Tür aus massivem Silber, mit tief eingeätzten Warnungen und Drohungen in Engels- und Dämonenschrift und ohne jede Spur einer Klinke. Ich legte meine linke Hand auf das Silber, und die Tür schwang vor mir auf. Versuchen Sie das mal, wenn Ihr Name nicht auf der Liste der zugelassenen Gäste steht, und die Tür wird Ihnen geradewegs die Hand abbeißen. Aber gerade das ist eine der Sachen, die mir am Wolfskopf am meisten gefällt: wie eifersüchtig er über seine Ungestörtheit und die seiner Kunden wacht.

Der Club ist nicht wirklich in London; man kann ihn von jeder Stadt der Welt aus betreten, solange man ein angesehenes Mitglied ist und die augenblicklichen Passwörter kennt. Ich bin nicht sicher, ob irgendjemand weiß, wo genau (oder in der Tat wann genau) sich der Wolfskopf tatsächlich befindet. Wodurch er zum besten aller möglichen Orte wird, wenn man mal eine Pause von der Welt und ihren Anforderungen braucht.

Ich trat durch die Tür in blendendes Licht, stampfende Musik und das Gebrüll von Leuten, die entschlossen waren, sich zu amüsieren, koste es, was es wolle. Der Wolfskopf ist sehr auf dem neuesten Stand, sehr Hightech. Ganz mit Neonstreifen ausgeleuchtet und die Einrichtung so modern, dass man die Hälfte der Zeit über nicht mal sagen kann, wofür sie eigentlich sein soll. Die Wände sind gigantische Plasmabildschirme, die ständig wechselnde dramatische Aufnahmen aus der ganzen Welt zeigen. Hin und wieder flimmern Schlafzimmergeheimnisse berühmter und wichtiger Leute darüber, heimlich aufgenommen von Spannern mit Zugang zu weit mehr Technologie, als gut für sie ist. Die Musik hämmerte und dröhnte, während Mädchen in so gut wie keinen Kleidern auf angestrahlten Miniaturbühnen herumstolzierten und aufstampften und sich die Seele aus dem Leib tanzten, bis der Schweiß von ihren sich windenden Körpern floss, und die Bässe wummerten durch den Boden hoch.

Der Club war wie immer überfüllt, randvoll mit den interessantesten Leuten, die man überhaupt nur finden kann. Der Wolfskopf ist der Ort, wo all die schrägen Leute hingehen, um sich zu entspannen und sich einen Drink und einen Plausch mit ihresgleichen zu gönnen. Die Mitgliedschaft des Clubs beinhaltet die Übernatürlichen, die Überbelichteten, die Überwissenschaftlichen und den ganzen Rest der übermenschlichen Bande. Es ist eine kosmopolitische Mischung, die Gute und Böse umfasst und all die seltsamen Leute dazwischen. Geschäfte werden getätigt, Leute und andere werden flachgelegt, ab und zu geschieht ein Mord oder eine Verwandlung, und alle amüsieren sich. Es ist eine Wahnsinnsatmosphäre.

Der Club ist neutraler Boden von alters her, aber eine Schlägerei dann und wann darf man schon erwarten. Es ist halt einfach die ausgelassene Stimmung. Der Barkeeper hält mit einem Dampfhammer Ordnung, und die Rausschmeißer sind Golems und können daher weder bestochen noch eingeschüchtert werden.

Ich arbeitete mich zu der langen Theke im hinteren Teil des Clubs durch: eine glänzende Hightech-Konstruktion, die eher nach einem Stück moderner Kunst als nach etwas Funktionalem aussah. Der Club brüstet sich damit, alles, dem man einen Namen geben kann, auf Lager zu haben, von Absinth über menschliches Blut bis hin zu rauchender Salpetersäure mit einem LSD-Nachspüler. Tatsächlich ist die Auswahl so umfangreich, dass die meisten von uns glauben, dass der Club sein Warenlager in einer Taschendimension hat, die mittels einer hyperdimensionalen Verbindung an die Bar angehängt ist. Ein guter Tipp ist nach wie vor, die Hausweine zu vermeiden, es sei denn man läuft schon auf dem dritten Magen.

Die Barsnacks sind fürchterlich, aber andererseits sind Barsnacks das ja immer.

Ich nickte und lächelte alten Bekannten und bekannten Gesichtern zu, während ich mich behutsam durch das Gedränge der Körper manövrierte. Sie kannten mich nur als Shaman Bond; nur ein weiteres Gesicht auf der Bildfläche. Keiner von ihnen hatte auch nur den leisesten Verdacht, dass ich ein Drood sein könnte, und ich war entschlossen, es dabei zu belassen. Wir beschützen die Welt, aber niemand hat je behauptet, dass wir beliebt sind. Ich bestellte mir eine Flasche kaltes Becks an der Theke und sah mich um. Zu meiner Linken ließ sich Scharlatan-Joe vor einer ausgewählten Gruppe aus, und ich ging hinüber, um zuzuhören. Joe war ein feiner Großstadtpinkel und Betrüger; ein Hai auf Beinen in einem Armani-Anzug. Ein weiteres Gesicht hörte seinen selbstgefälligen Prahlereien mehr oder weniger geduldig zu: Janitscharen-Jane. Sie nickte mir energisch zu, als ich mich zu der Gruppe gesellte. Ihre Armeebekleidung war steif von schwarzem Blut, und von Nahem roch sie nach Rauch und Schwefel.

»Frisch vom Schlachtfeld zurück?«, sagte ich, wobei ich die Stimme hob, um über dem Lärm gehört zu werden. »Wohin hat es dich denn diesmal verschlagen?«

Jane zuckte die Schultern und schüttete ihren Whiskey direkt aus der Flasche hinunter. Sie trug ihr schwarzes Haar kurz geschnitten, sodass niemand es während eines Kampfs packen konnte, und falls ihr vernarbtes Gesicht jemals hübsch gewesen war, so war das eine lange Zeit her. Sie war eine gute Zechgenossin, solange man sie vom Gin fernhielt. Gin machte sie gefühlsduselig, und dann neigte sie dazu, Leute zu erschießen.

»Dämonenkrieg in einer anderen Dimension«, sagte sie endlich. »Irgend so ein verdammter Nekromantenschwachkopf hat ein Höllentor geöffnet, und an alle guten Söldner erging die Aufforderung, sich um die Flagge zu scharen. Die Bezahlung war gut, aber ich wär auch so gegangen, des Kampfes wegen. Ich hasse diese Scheißdämonen!«

»Wer tut das nicht?«, meinte der Indigogeist, strahlend wie immer in seiner mitternachtsblauen Ledermontur samt Umhang und Maske, und nippte mit sorgfältig abgespreiztem kleinem Finger an seinem Manhattan. »Die verdammten Dinger sind schlimmer als Kakerlaken.«

Ich prostete ihm kurz mit meiner Flasche zu. »Schön dich wiederzusehen, Indigo. Wie läuft's mit dem Kampf gegen das Verbrechen? Irgendwelche interessanten Superschurken umgebracht in letzter Zeit?«

»Nur den üblichen Abschaum, guter Junge. Mit denen ist nichts verkehrt, was zwei Kugeln in den Kopf nicht hinbiegen könnten. Ich muss sagen, dass die derzeitige Nachkommenschaft an diabolischen Superhirnen und schrecklichen Unholden wirklich sehr enttäuschend ist … Kein Stil, verstehst du, kein Sinn für besondere Anlässe. Bisweilen lohnt es kaum die Mühe, sich die Montur überzustreifen. Ich meine, ist es wirklich zu viel verlangt von einem Verbrecher, in seinem geheimen Unterschlupf wenigstens eine Dominomaske zu tragen?«

Scharlatan-Joe hatte mittlerweile seine eigene Geschichte aufgegeben, weil keiner zuhörte, und nippte schmollend an seinem Port-and-Lemon. Der Blaue Elf neben ihm war voll wie eine Strandhaubitze, beklagte das Herannahen der mittleren Jahre und jammerte darüber, dass sein Zauberstab nicht mehr so gut funktionierte wie früher.

»Und«, sagte ich, laut genug, um den Blauen Elfen zu übertönen, »wie lautet der neueste Klatsch?«

Es gibt immer ein paar Leute, die gerade versuchen, die Welt zu übernehmen oder sie in die Luft zu jagen oder einen besseren Ort aus ihr zu machen; alle gleichermaßen gestört und gefährlich.

»Dr. Delirium führt wieder irgendetwas Übles im Schilde«, berichtete der Indigogeist. »Gondelt in den Tiefen des Amazonasdschungels herum. Hält sich für besonders wichtig, nur weil er seine eigene Privatarmee hat. Dabei ist der einzige Grund, weshalb er eine Armee hat, der, dass sein Onkel sie ihm hinterlassen hat.«

»Stimmt!«, pflichtete Janitscharen-Jane ihm bei und gestikulierte dabei ein wenig zu weitläufig mit ihrer Whiskeyflasche. »Verlass dich nie auf einfache Soldaten! Hübsche Uniformen, aber nichts dahinter. Kein Feuer in der Hose. Wenn sie nicht zehn zu eins gegen dich vorrücken können, wollen sie erst gar nichts davon wissen. Vor ein paar Jahren hat Delirium versucht, mich dazu zu bringen, bei ihm anzuheuern, aber ich hab natürlich nein gesagt. Der Sold, den er mir angeboten hat, war echt mies.«

»Delirium«, mischte sich Scharlatan-Joe ins Gespräch ein. »Ist das nicht der, der neue Seuchen sammelt und dann damit droht, sie auf die zivilisierte Welt loszulassen, wenn er nicht ausgezahlt wird?«

»Das ist er«, sagte ich. »Will immer in seltenen Briefmarken ausgezahlt werden. Ich schätze, einmal Sammler, immer Sammler.«

»Es geht das Gerücht um, dass einer der Alten allmählich aus seinem langen Schlaf unter dem nördlichen Polarkreis erwacht«, sagte Scharlatan-Joe. »Und das ist der Grund, weshalb das polare Packeis so viel schneller schmilzt, als es sollte.«

Janitscharen-Jane zog laut die Nase hoch. »Immer, wenn das Wetter mal kurz Kapriolen schlägt, denkt irgendwer, dass die Alten zurückkehren. Wird aber nicht passieren. Die schlafen jetzt schon so lange, dass man nicht mal einen wach kriegen würde, wenn man ihm eine Atombombe in den Hintern schieben und dann zünden würde.«

»Ich habe gehört, dass die Trollplage in den U-Bahn-Schächten schlimmer wird«, sagte der Indigogeist. »Widerliche Kreaturen; nur Zähne und Appetit und keine Manieren. Es wird gesagt, sie könnten kurz davor stehen, wieder zu schwärmen.«

Janitscharen-Janes Gesicht erhellte sich. »Bei einem Keulen ist immer gutes Geld zu machen. Ich werde meinen Agenten kontaktieren; mal sehen, ob jemand Leute einstellt. Die Stadt sollte es besser nicht noch mal von Gruppe Zweiundvierzig ausschreiben lassen; diese Scheißkerle wollen immer die Köpfe als Beweis für den Abschuss sehen. Letztes Mal bin ich aus der U-Bahn gekommen wie der Weihnachtsmann mit einem Sack voll Süßigkeiten.«

»Hab ein paar neue Videos reinbekommen, falls jemand Interesse hat«, sagte Scharlatan-Joe. »Ich kenne diesen Typen, der diesen Typen kennt, der behauptet, dass sein Fernsehgerät Übertragungen aus der Zukunft empfängt. Er verkauft Best-of-Zusammenstellungen auf VHS und DVD, und ich könnte ein paar davon zu einem echt vernünftigen Preis in die Finger kriegen …«

»Ich würd's bleiben lassen«, sagte ich. »Ich habe dieses Band gesehen. Nichts als ein Haufen Typen in schrägen Klamotten, die ihren Hintern in die Kamera halten und viel kichern. Für manche Leute ist Technologie einfach zu schade.«

* * *

So tranken wir und redeten und tranken noch mehr, und der Abend verstrich hinlänglich angenehm. Scharlatan-Joe nahm alles auf seine Rechnung, denn er schwelgte noch im Hochgefühl seines letzten Nepps. Janitscharen-Jane versuchte, irgendeinen Kerl in Kettenpanzer anzumachen und schoss ihm in den Arsch, als er ihr den Rücken zukehrte. Der Indigogeist bot an, mir seine geheime Höhle zu zeigen, aber ich lehnte höflich ab. Der Blaue Elf kippte um und lag schnarchend auf dem Fußboden. »Tretet nicht auf ihn«, sagte Scharlatan-Joe weise, »oder es wird vierzig Tage und vierzig Nächte lang regnen!«

An irgendeiner Stelle kam die Rede auf die jüngsten Sichtungen der berüchtigten Drood-Familie und ihrer goldenen Agenten, und ich hielt die Klappe und passte auf. Man weiß nie, wann man etwas Nützliches erfahren kann. Es gibt immer wieder Sichtungen meiner Familie bei der Arbeit, die meisten davon apokryph oder Wunschdenken. Wenn ein Drood-Agent seine Arbeit ordentlich gemacht hat, sollte niemand außer den Opfern auch nur wissen, dass er da gewesen ist. Aber wir sind ein bisschen wie Kornkreise und Viehverstümmelungen: Man gibt uns die Schuld an allen möglichen Sachen, mit denen wir überhaupt nichts zu tun haben. Die aktuellen Sichtungen beinhalteten Aktionen in Moskau, Las Vegas und Venedig. Letztere war besonders eklig; niemand schien genau zu wissen, was passiert war, aber die Stadt fischte anschließend noch stundenlang Leichen aus den Kanälen. Ich nahm mir vor, der Sache nachzugehen, obwohl das Ganze ziemlich schlampig für unsere Verhältnisse klang.

Meine Familie erhält viel Anerkennung (oder Tadel) für Dinge, die wir in Wahrheit gar nicht getan haben, aber nie bestätigen oder dementieren wir etwas. Es genügt, dass die Welt beschützt wird; sie muss nicht noch Einblick in die Familiengeschäfte haben. Außerdem ist es nur von Vorteil für den Ruf.

Das Publikum ist normalerweise gut im Wolfskopf, aber in jedem Verein gibt es immer einen. Eine große Gestalt ragte plötzlich über uns auf, fuchtelte drohend mit einem Pint Lager herum und bestand darauf, sich an unserer Unterhaltung zu beteiligen. Er war bestimmt zwei Meter zehn groß mit passenden Schultern und steckte in einer übergroßen Bikerjacke und abgewetzter Lederhose. Dies, stellte sich heraus, war Boyd, Leibwächter der Stars. Ein Neuling im Wolfskopf, jung und stark und dumm genug zu glauben, dass die Clubregeln auf ihn keine Anwendung fänden. Er war offensichtlich ein Hyde, der ein Destillat von Dr. Jekylls alter Formel benutzte. Stark genug, um ihn groß und brutal zu erhalten, jedoch so verdünnt, dass er in der Lage war, die Kontrolle zu wahren.

Er überredete uns einfach im wahrsten Sinne des Wortes, bestand darauf, uns von seiner neuen Stelle als Leibwächter einer bedeutenden Hollywoodschauspielerin zu erzählen. Die, wenn man Boyd glauben wollte, rein gar nichts tun konnte, ohne dass er da war und es überwachte. Er ließ auch plumpe Andeutungen darüber fallen, dass er ›Stichproben‹ von ihrem berühmten Körper nahm, wenn er nicht gerade darauf aufpasste.

»Wirklich?«, sagte der Indigogeist. »Ich dachte immer, sie sei eine Freundin Dorothys.«

»Weiß nicht, ob ich so weit gehen würde«, meinte ich. »Aber wenn sie knapp an Personal wären, würde sie wahrscheinlich aushelfen.«

Boyd starrte mich wütend an. »Das ist doch nur Boulevardblech! Klatsch und Gehässigkeit! Sie ist ganz und gar Frau, und ich sollte das ja wissen. Richtig?«

Er starrte uns der Reihe nach wütend an, aber ich muss wohl nicht überzeugt genug ausgesehen haben, denn Boyd kam zu dem Schluss, er müsse mich ein wenig herumschubsen, einfach um zu zeigen, dass man ihm nicht widersprach. Er stieß mir mit einem großen Finger hart in die Brust, und ich betrachtete ihn nachdenklich, während er mich anschrie.

Er brachte doppelt so viel und mehr auf die Waage wie ich, das meiste davon in Muskeln. Ich hätte es leicht mit ihm aufnehmen können, wenn ich meine Rüstung angelegt hätte, aber das konnte ich nicht machen. Strikter Familiengrundsatz: Die Rüstung wird ausschließlich für Familienangelegenheiten benutzt. Wichtiger noch, die Rüstung hätte allen verraten, dass ich ein Drood bin, und dann hätte ich nie mehr hierherkommen können. Ich mag es, einfach nur Shaman Bond zu sein, und ich hatte nicht vor, darauf zu verzichten.

Der Barkeeper warf bereits bedeutungsvolle Blicke in unsere Richtung und machte sich bereit, einzuschreiten, und ich zog tatsächlich in Betracht, ihn die Sache regeln zu lassen. Ungefähr ein oder zwei Sekunden lang. Aber ich bin nicht den Großteil meines Lebens dazu ausgebildet worden, den guten Kampf zu kämpfen, nur um mich dann von einem Hyde herumschubsen zu lassen. Außerdem, wenn ich ihm das durchgehen ließ, könnte ich hier niemals wieder in Frieden trinken. Selbst die Schrägen und hoffnungslos Sonderbaren haben ihre Hackordnung. Allerdings, angesichts der Tatsache, dass Boyd ein Hyde war und mehr als doppelt so massig wie ich, würde ich todsicher nicht fair kämpfen.

Also erwiderte ich sein Starren, nahm unauffällig die tragbare Tür aus der Tasche, aktivierte sie und warf sie aus dem Handgelenk geschickt unter die Füße des Hydes. Boyd blieb gerade noch genug Zeit, um überrascht dreinzuschauen, bevor er durch die neue Öffnung in den Keller unter dem Club stürzte. Er landete mit einem befriedigend lauten Krachen, dem eine Reihe von leisen Ächzlauten folgte. Ich hob meine tragbare Tür auf, und der Boden kehrte zurück und schloss Boyd im Keller ein, bis sich jemand die Mühe machen würde, runterzugehen und ihn zu retten. Der Barkeeper nickte mir dankend zu, froh, dass er sich nicht hatte einmischen müssen, und die Zuschauermenge spendierte mir eine Runde Applaus. Janitscharen-Jane und ich gaben uns fünf, wohingegen Scharlatan-Joe mich nachdenklich betrachtete.

»Wie hast du eine verbotene Vorrichtung wie diese tragbare Tür in die Finger gekriegt, Shaman?«

»Bei eBay gefunden.«

* * *

Die Zeit verstrich weiter angenehm, und um die frühen Morgenstunden herum wanderte ich ziellos durch einen Schleier der Betrunkenheit und machte eine unablässig kichernde Sexdroidin an, die aus dem dreiundzwanzigsten Jahrhundert hereingeschneit war, um einige wissenschaftliche Untersuchungen für ihre Dissertation über sonderbare sexuelle Komplexe der Reichen und Berühmten durchzuführen. Sie war groß und drall und zu einhundert Prozent künstlich, reizend angezogen in einem klassischen kleinen Schwarzen, das im Rücken so tief ausgeschnitten war, dass es den Strichcode und den Urheberrechtsvermerk erkennen ließ, die auf ihrer prachtvollen linken Hinterbacke aufgeprägt waren. Ihr sprühendes Stahlhaar war voll Funken bildender Statik, ihre Augen waren silbern, und sie roch nach purem Moschus. Sie lief mit einer atomaren Brennstoffzelle, die sich in ihrem Unterbauch befand, was ein bisschen beunruhigend war, aber andererseits - niemand ist vollkommen.

»Nun, was führt Sie in den Wolfskopf?«, fragte ich.

»Ich versuche mich bloß als Touristin«, entgegnete sie mit einem Lächeln, das so breit war, dass selbst Julia Roberts nicht hätte mithalten können. »Ich habe so viel mehr Freizeit, seit wir endlich gewerkschaftlich organisiert wurden. Einen Applaus für Rossum's Vergewerkschaftete Roboter!«

»Nieder mit den Bossen!«, sagte ich feierlich. »Die Arbeit ist der Fluch der trinkenden Klassen!«

»Oh, ich liebe meine Arbeit«, meinte sie und blinzelte mich mit ihren enormen Wimpern an. »Es hat mehr als einen Mann gebraucht, um meinen Namen in Silikon Lily zu ändern.«

Und das war der Moment, als mein Handy klingelte. Ich war nicht erfreut. Die einzigen Leute, die diese Nummer haben, sind die Mitglieder meiner Familie, und von denen hätte ich so bald nach einem abgeschlossenen Auftrag eigentlich nichts hören dürfen. Es mussten irgendwelche schlechten Nachrichten sein, und das ganz bestimmt mehr für mich als für sie. Die Leute rings um mich sahen finster auf das Telefon in meiner Hand und warfen mir vielsagende Blicke zu; es wird erwartet, dass man sämtliche Kommunikationsmittel ausschaltet, bevor man den Wolfskopf betritt. Ich hatte nicht daran gedacht, weil die Familie mich so selten in meiner Freizeit belästigt. Ich lächelte schwach, zuckte entschuldigend mit den Achseln, warf der Sexdroidin eine flüchtige Kusshand zu und zog mich in eine mehr oder wenig private Ecke zurück, um den Anruf entgegenzunehmen.

»Ich dachte, ich hätte euch gesagt, mich nie hier anzurufen«, sagte ich kalt.

»Komm nach Hause«, sagte eine fremde Stimme. »Komm jetzt nach Hause! Du wirst für eine persönliche Einweisung in einen dringenden Auftrag gebraucht.«

Und das war es. Das Telefon ging aus, und ich steckte es langsam weg, während mein Verstand raste. Ein neuer Auftrag, jetzt schon? Das war noch nie da gewesen. Zwischen zwei Aufträgen war mir mindestens eine Woche zugesichert. Zu viel Arbeit im Felde, und man ist schnell ausgebrannt. Die Familie weiß das. Und weshalb musste ich nach Hause, um eingewiesen zu werden? Normalerweise schicken sie mir die für die Mission benötigten Informationen und Ausrüstung über einen toten Briefkasten, den ich regelmäßig wechsele. Dann gehe ich einfach los und tue, was immer zu tun ist, und gebe mir Mühe, dabei nicht zu sterben. Anschließend Bericht an Penny und dann untertauchen, bis ich wieder gebraucht werde. Die Familie und ich halten eine höfliche Distanz aufrecht, und genau so mag ich es auch.

Ich blickte finster in das, was von meinem Getränk noch übrig war. Der Anruf hatte mich schlagartig nüchtern werden lassen. Ich wollte wirklich nicht nach Hause gehen. Zurück zum Herrenhaus, dem uralten Heim der großen Drood-Familie. Ich hatte den Ort seit zehn Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Direkt nach meinem achtzehnten Geburtstag war ich weggegangen, zu unserer gegenseitigen Erleichterung, und die Familie schickte mir ein regelmäßiges und (leidlich) großzügiges Gehalt, das mir so lange garantiert war, wie ich weiter im Außendienst arbeitete. Sollte ich mich je dazu entscheiden, meine Laufbahn als Agent an den Nagel zu hängen, könnte ich entweder nach Hause gehen oder mich als Vogelfreien hetzen und töten lassen. Das verstand sich von selbst. Eine kurze Leine gestanden sie mir zu, aber das war alles. Ich war ein Drood.

Ich ging von zu Hause fort, weil ich die Last der Verpflichtungen und der Geschichte der Familie als mehr als nur ein bisschen erdrückend empfand, und sie ließen mich gehen, weil meine Haltung ihnen auf die Eier ging. Ich hielt mich über die Jahre hinweg beschäftigt, nahm Auftrag um Auftrag an, nur um zu vermeiden, wieder nach Hause zu müssen und mich der Familienautorität und den Familienvorschriften zu unterwerfen. Mir gefiel die Illusion, mein eigener Herr zu sein.

Aber wenn die Familie ruft, folgt man dem Ruf, wenn man weiß, was gut für einen ist. Ich würde wieder nach Hause gehen, verdammte Scheiße!

Morgen früh. Heute Nacht gehörte Silikon Lily …

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