Epilog

Jetzt, wo das Herz weg war, fühlte sich das Sanktum nicht mehr wie das Sanktum an. Es fühlte sich an wie die Stille nach der Explosion, die Ruhe nach dem Sturm, der unglaubliche Frieden, wenn man aufwacht und der Albtraum endlich vorbei ist. Das Sanktum war jetzt bloß ein leerer Raum, weitläufig und hallend, mit einer Schicht Sand auf dem Boden. Der Drache war tot, aber ich fühlte mich nicht wie ein Drachentöter.

»Wie fühlst du dich, Eddie?«, fragte Molly.

»Ziemlich gut«, antwortete ich. »Die Schmerzen sind weg, die Schwäche ist weg, und ich bin wieder ganz der Alte.«

»Nein, Eddie«, sagte sie sanft. »Wie fühlst du dich?«

»Ich weiß es nicht«, gestand ich. »Wie betäubt. Verloren … Früher wusste ich immer, was ich war, worum es in meinem Leben ging. Dann wurde mir das weggenommen. Früher hatte ich immer eine Familie, und die ist auch weg. Alles weg …«

»Du hast immer noch mich«, sagte Molly.

»Hab ich das?«

Sie legte mir die Hände auf die Schultern, zog mich dicht an sich heran und küsste mich. »Versuch mich loszuwerden, Dummkopf!«

»So«, sagte ich nach einer Weile, »das Herz ist tot. Was machen wir jetzt?«

»Du meinst als Zugabe?«, fragte Molly. »Hast du noch nicht genug getan?«

Die Tür hinter uns flog auf und wir wirbelten beide herum, bereit uns zu verteidigen, aber es waren bloß der Waffenschmied und der Geist des alten Jacob. Molly und ich entspannten uns ein bisschen, als sie herüberkamen, um sich zu uns zu gesellen. Das Gesicht des Waffenschmieds war noch immer zur Hälfte unter getrocknetem Blut begraben, aber er machte einen viel sicheren Eindruck auf den Beinen. Jacob hatte seine verdrießliche alte Gespenstergestalt wieder angenommen, mitsamt schreiend bunten Hawaiishorts und einem schmuddeligen alten T-Shirt mit dem Schriftzug Tote essen keine Quiche.

»Eddie, mein Junge«, begann der Waffenschmied, »geht es dir gut? Wir haben alle möglichen Geräusche von hier drin gehört, aber wir konnten bis eben nicht hereinkommen. Nicht mal Casper der Unfreundliche Geist hier. Und was zum Teufel ist mit dem Herzen passiert?«

»Schau nach unten«, sagte ich. »Du stehst in dem, was von ihm übrig ist.«

Er schaute nach unten, zuckte zusammen und schüttelte dann den Kopf. »Das also macht der Eidbrecher! Ich wollte es schon immer wissen.«

»Hier«, sagte ich und gab ihm den Stock aus Eisenholz zurück. »Je eher das wieder in den Armageddon-Kodex kommt, desto sicherer werden wir alle sein. Molly, gib ihm den Torquesschneider!«

»Och, schade!«, sagte Molly schmollend. »Ich hatte gehofft, ihn als Souvenir behalten zu können!«

Der Waffenschmied bedachte sie mit einem seiner finsteren Blicke, und sie übergab die Schere ohne ein weiteres Wort.

»So«, meinte ich, »das wär's also endgültig. Alles vorbei. Führ mich jemand zu einem bequemen Sessel und drück mir eine schöne Tasse Tee in die Hand! Es waren ein paar geschäftige Tage … aber wenigstens ist es jetzt zu Ende.«

»Du machst wohl Witze!«, sagte der Waffenschmied streng. »Nach all dem Schaden, den du hier angerichtet hast, glaubst du, du kannst dich einfach zurücklehnen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen? Du hast an einem Abend mehr dazu beigetragen, die Drood-Familie in die Knie zu zwingen, als sämtliche unsere Feinde in Jahrhunderten! Es liegt jetzt an dir, die Familie zu retten, Eddie. Ich habe dich nicht dazu erzogen, eine Arbeit halb vollendet liegen zu lassen. Du hast die Familie gestürzt; nur du kannst sie wieder auf die Beine bringen!«

»Zum Teufel damit!«, sagte Molly scharf. »Dafür habe ich gelebt: die arroganten Droods gedemütigt und auf den Knien rutschen zu sehen, wo sie mit uns Übrigen im Dreck leben müssen! Hör nicht auf ihn, Eddie! Du hast den Fuß der Droods vom Nacken aller in der Welt genommen. Wir sind endlich frei!«

»Frei?«, wiederholte ich widerstrebend. »Nein, Molly. So einfach ist es nicht - und war es auch nie. Trumans Manifestes Schicksal ist immer noch da draußen, hast du das schon vergessen? Befreit vom Einfluss und der Kontrolle der Droods und nach wie vor entschlossen, alles auszulöschen, was ihrer engstirnigen Definition von normal und menschlich nicht genügt. Wer soll sie aufhalten, wenn nicht die Familie? Und dann sind da noch all die anderen dunklen Mächte, die nur die Furcht davor in Schach hält, was die Familie mit ihnen machen würde, wenn sie es je zu weit treiben sollten. Es muss eine andere Macht im Amt sein, um die Mächte der Finsternis daran zu hindern, über die Welt herzufallen. Aber wenn es eine Drood-Familie geben muss, dann wird es eine neue Art von Familie sein.«

»Das lässt sich schon eher hören!«, ergriff Jacob das Wort. »Wusste immer, dass du für Großes bestimmt bist, Eddie; auch wenn ich mich nicht daran erinnern konnte, warum.«

Ich betrachtete ihn nachdenklich. »Du hast dich doch vorhin daran erinnert, dass du dich nur hier herumgetrieben hast, um mir dabei zu helfen, das Herz zu zerstören … Nun - und bitte versteh das nicht falsch, aber - warum bist du noch hier?«

Er sah mich mit seinem üblichen gerissenen Grinsen an und zuckte unbestimmt die Schultern. Kleine Bläschen blaugrauen Ektoplasmas sprangen von seinen Schultern hoch, bevor sie wieder in ihn sanken. »Schätze, ich hab mich einfach dran gewöhnt, hier rumzuhängen. Und außerdem bin ich echt neugierig zu sehen, was als Nächstes passiert. So viel Spaß hab ich seit dem Großen Geschlechtertausch von 1741 nicht mehr gehabt! Wir haben nie herausgefunden, wer dahintersteckte …«

»Ich sehe Alexandra oder Matthew gar nicht«, bemerkte ich vorsichtig. »Was hast du mit ihnen gemacht, Jacob?«

Er erwiderte meinen Blick unbefangen, und einen winzigen Moment lang kam etwas von seinem alten, furchteinflößenden Selbst in seiner Miene zum Vorschein. »Sie werden nicht zurückkommen. Nie mehr.«

»Frag nicht!«, sagte der Waffenschmied mit unbewegtem Gesicht. »Vertrau mir, du willst es nicht wirklich wissen.«

»Arme Alex!«, sagte ich, und ich meinte es.

»Was genau hat dir diese Alex-Person eigentlich bedeutet?«, wollte Molly wissen.

»Es war eher … was sie hätte bedeuten können«, erklärte ich. »Wenn sich die Dinge anders entwickelt hätten.«

»Oh …«, machte Molly. »Jau. Solche Beziehungen hatte ich viele.«

Ich blickte sie einen Moment lang an. »Ich werde nicht fragen«, sagte ich schließlich.

»Ist auch besser so«, stimmte sie mir zu.

Und dann, endlich, blickte ich den Waffenschmied an, meinen Onkel Jack, und sagte das Eine, wovor ich mich gedrückt hatte, das Eine, wovon ich wusste, dass ich es würde sagen müssen, seit ich ihn durch die Tür hatte kommen sehen. »Es tut mir leid, Onkel Jack. Es tut mir wirklich leid, aber … Onkel James ist tot.«

»Ich weiß«, sagte der Waffenschmied. »Du hättest nichts anderes tun können, Eddie. James hätte dir keine andere Wahl gelassen. Für ihn kam die Familie immer an erster Stelle. Und er konnte nie nein zu Mutter sagen.«

»Er hätte mich eigentlich auf der Autobahn töten sollen«, sagte ich. »Aber er ließ mich gehen. Gab mir eine Chance … ermöglichte all dies.«

»Schön für ihn«, meinte der Waffenschmied. »Vielleicht wurde er endlich erwachsen. So, der Graue Fuchs ist tot … Gute Barkeeper und schlechte Frauen in Bars auf der ganzen Welt werden bittere Tränen vergießen, wenn sich die Nachricht verbreitet.«

Es war sinnlos, ihm zu erzählen, dass es eigentlich Molly gewesen war, die meinen Onkel James getötet hatte. Die Familie würde schon genug Probleme haben, sie zu akzeptieren, nach allem, was passiert war.

Jacob fixierte mich mit festem Blick. »Du musst dich an die Familie wenden, Eddie. Hier und jetzt! Erklär ihnen, was los war; sie müssen die Wahrheit erfahren. Ich werde sie hierherzitieren, und du kannst ihnen erzählen, was getan werden muss, um die Familie wieder zu einen.«

»Was? Ich weiß gar nicht, was ich ihnen sagen soll!«

»Du wirst dir etwas einfallen lassen«, tat der Waffenschmied meinen Einwand ab. »Du musst das Kommando übernehmen, Eddie! Die Veränderung durchboxen, bevor die alte Garde wieder die Kontrolle übernimmt!«

»Augenblick mal!«, sagte ich schnell. »Ich wollte nie auch nur ein regulärer Teil der Familie sein, geschweige denn ihnen erzählen, wie sie ihren Betrieb führen müssen! Ich habe die erste Gelegenheit ergriffen, von zu Hause auszureißen, schon vergessen?«

»Tja, diesmal kannst du nicht ausreißen«, meinte der Waffenschmied. »Nicht nach dem ganzen Ärger, den du gemacht hast. Du hast unsere Verteidigungsanlagen zerschlagen, das Herrenhaus in Trümmer gelegt, die Kämpfer der Familie demoralisiert, das Herz zerstört und allen die Torques weggenommen! Du hast die Pflicht, den Schaden, den du angerichtet hast, wiedergutzumachen.«

»Aber -«, setzte ich an.

»Nur du kannst ihnen die Wahrheit sagen«, erklärte Jacob.

»Es ist das, was dein Onkel James gewollt hätte«, fügte der Waffenschmied ernst hinzu.

Ich starrte ihn wütend an. »Ich wusste gar nicht, dass du so bewandert in emotionaler Erpressung bist!«

Er grinste. »Liegt in der Familie.«

* * *

Und dann fuhren wir alle zusammen und erschauderten, denn Jacob nahm seine totenähnliche Erscheinung wieder an. Seine gespenstische Präsenz erfüllte den Raum, kalt und abweisend und nur entfernt menschlich, machtvoll jenseits aller Vorstellungskraft, jetzt, da er nicht mehr länger an die Beschränkungen des Lebens gebunden war. Seine Stimme breitete sich im gesamten Herrenhaus aus und befahl allen Familienmitgliedern, sich im Sanktum einzufinden. Unverzüglich, keine Ausnahmen, keine Ausflüchte. Ich bekam nur die äußersten Ausläufer der gespensterhaften Vorladung ab, und das war immer noch genug, um mich auf meinen Füßen schwanken zu lassen. Die schiere Macht in Jacobs Stimme war wie nichts auf dieser Welt. Niemand in der Familie würde es wagen, sich zu widersetzen.

Und schon bald kamen sie durch die große Doppeltür in den gewaltigen leeren Raum des Sanktums geströmt, einzeln und zu zweien, dann in Gruppen und schließlich in Massen, bis sich eine stete Flut von verwirrten Droods durch die beiden Türöffnungen drängte. Viele unter ihnen blickten immer noch ganz entgeistert wegen des plötzlichen Verlusts ihrer Torques. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlten sie sich völlig wehrlos und verwundbar, und sie hatten Trost und Antworten bitter nötig. Schnatternd und laut rufend kamen sie herein, nur um augenblicklich in Murmeln und Raunen zu verfallen, als sie sahen, wer sie erwartete: der Vogelfreie der Familie, das Gespenst der Familie, der blutverschmierte Waffenschmied und die berüchtigte Molly Metcalf. Welche Antworten sie hier auch erhalten mochten, sie würden bestimmt nicht besonders beruhigend sein. Immer noch strömten sie unaufhörlich ins Sanktum, Haus-Droods und Sicherheits-Droods, Forscher und Planer und Hauspersonal und alle anderen Mitglieder der Familie. Bis hin zu einigen Kindern mit extrem weit aufgerissenen Augen, die kleinsten darunter getragen auf den Armen ihrer Eltern. Das Sanktum füllte sich von Wand zu Wand mit Droods, die sich Schulter an Schulter drängten, während weitere durch die Eingänge hereinguckten.

»Fang an«, forderte der Waffenschmied mich auf, »bevor noch jemand in der Menge erdrückt wird!«

Ich schaute Molly an, und sie beschwor eine unsichtbare Plattform für uns vier herauf, auf die wir uns stellten, und hob sie dann mehrere Fuß in die Höhe, sodass alle mich sehen und hören konnten.

»Es ist hilfreich, dass alle zu uns aufsehen müssen«, raunte sie mir ins Ohr. »Verschafft uns einen psychologischen Vorteil. Und jetzt leg los; versprich ihnen Brot und Spiele oder so was!«

»Apropos sehen«, meinte der Waffenschmied ein klein wenig gereizt. »Könntest du den Rändern dieser verdammten Plattform vielleicht ein bisschen Farbe geben, damit einige unter uns sehen können, wo die Saudinger sind? Man könnte ziemlich tief fallen, und einige unter uns fühlen sich im Moment ein bisschen zerbrechlich!«

Unvermittelt leuchteten die Ränder der Plattform grellsilbern auf. Sie waren viel näher, als mir klar gewesen war.

Der Raum war jetzt zum Bersten voll und auch vor den geöffneten Türen drängten sich noch Droods. Das Gemurmel drohte ständig zu mehr auszuarten, tat es jedoch nicht, denn jedes Mal, wenn jemand anfing, die Stimme zu heben, musste er feststellen, dass Jacob ihn anfunkelte, und plötzlich überlegte er es sich anders und brachte kein Wort mehr heraus. Gänzlich verstummte die Menge, als schließlich die Matriarchin eintraf und sich ihren Weg ins Sanktum bahnte. Alle machten so viel Platz, wie sie konnten, um sie vorbeizulassen. Sie erreichte die vorderste Reihe der Menschenmenge und starrte wütend zu mir auf meiner Plattform hoch. Statt Alistair stand der Seneschall an ihrer Seite. Sein Gesicht war geschwollen und voller blauer Flecken, doch sein Blick war kalt und direkt wie immer. Ich nickte der Matriarchin zu.

»Hallo, Großmutter. Wie geht es Alistair?«

»Er lebt. Gerade so. Er ist in der Krankenstube; sie versuchen, sein Gesicht zu retten.«

»Er hat mich überrascht«, sagte ich, wobei ich mir der Tatsache bewusst war, dass jeder im Sanktum an unseren Lippen hing. »Am Ende war er ein guter Mann und treu.«

»Das habe ich immer gewusst«, erwiderte die Matriarchin. »Er hat der Familie gedient - anders als du. Was hast du uns angetan, Eddie? Wo sind unsere Torques? Wo ist das Herz?«

»Deshalb seid ihr alle hier«, sagte ich. »Um endlich die Wahrheit zu erfahren.« Ich ließ meinen Blick über die Menge schweifen, über all die verwirrten, verängstigten, verzweifelten Gesichter. »Ihr seid hier, um die Wahrheit zu erfahren über alles, was geschehen ist. Alles, was vor euch verborgen wurde, durch all die Jahrhunderte des Bestehens dieser Familie hindurch. Die Geheimnisse, die nur ein Drood euch verraten kann.«

»Wir kennen dich«, sagte eine weiblich Stimme tief in der Menge. »Aber was hat die berüchtigte Molly Metcalf da oben bei dir zu suchen?«

Ein allgemeines Raunen der Zustimmung folgte dieser Frage, das schnell verebbte, als Molly mit den Fingern schnippte und die Frau in der Menge laut quiekste, weil all ihre Kleider plötzlich verschwunden waren. Molly lächelte zuckersüß in die Menge.

»Sonst noch Fragen? Ich liebe es, Fragen aus der Menge zu beantworten!«

Und während die Menge still war, erzählte ich ihnen alles.

Ich erzählte ihnen, was das Herz wirklich gewesen war und von der wahren Natur des Handels, der uns allen unsere Torques beschert hatte. Es gab Laute des Erschreckens und schockierte Aufschreie, aber niemand zweifelte meine Worte an. Ich erzählte ihnen, wie der Handel von jeder neuen Matriarchin bekräftigt werden musste, und jedes Auge im Raum richtete sich auf Martha Drood. Sie ignorierte sie alle und starrte mich kalt an. Ich erklärte, wie ich das Herz zerstört hatte und wieso sie nicht alle gestorben waren, als ihre Torques verschwanden. Und dann verriet ich ihnen das letzte schreckliche Geheimnis der Droods, das nur dem inneren Zirkel bekannt war: Dass wir nicht die geheimen Beschützer der Welt waren, sondern ihre geheimen Herrscher.

Ich glaube, spätestens da wäre es zu einem Tumult gekommen, denn verschiedene Splittergruppen in der Familie schrien und drängten gegeneinander, aber Jacob erhob sich plötzlich in die Luft und nahm wieder seine totenähnliche Erscheinung an. Die Temperatur im Sanktum sackte rapide ab, und wir erschauerten alle, und das nicht nur vor Kälte: Der Tod war zugegen und blickte uns ins Auge. Mit nicht mehr menschlichen Augen starrte Jacob um sich, und alle wurden ganz still und ganz ruhig, denn keiner wollte seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Langsam sank Jacob wieder auf die Plattform herunter und nahm seine übliche Gestalt an.

Aus dem Schweigen erhob sich eine Stimme: Die Matriarchin verfluchte mich, bezichtigte mich des Verrats an der Familie, nannte mich einen Narren und einen Lügner und einen Feind von allem, wofür die Droods standen. Sie sagte, ich sei kein Enkel von ihr, und rief alle Droods auf, sich zu erheben und mich herunterzuzerren und zu töten. Ihre Stimme wurde immer lauter, schrill vor Wut und Hysterie, Spucke flog ihr aus dem Mund, bis plötzlich der Seneschall ihr eine Hand auf die Schulter legte und sie ordentlich durchschüttelte. Sie verstummte abrupt und sah ihn schockiert an. Der Seneschall ließ sie los und kehrte ihr den Rücken zu, um sich an die Menge zu wenden.

»Ihr alle kennt mich«, sagte er, und seine vertraute raue Stimme fesselte die Aufmerksamkeit aller. »Ihr alle wisst, wofür ich eintrete. Und ich sage euch, Edwin hat sich das Recht verdient, angehört zu werden! Er ist der treueste Sohn, den diese Familie jemals gehabt hat! Mach weiter, Junge! Erzähl ihnen, was sie wissen müssen!«

»Danke«, erwiderte ich. »Aber wohlgemerkt, ich hasse dich trotzdem wie die Pest!«

»Das bringt die Arbeit halt so mit sich«, meinte er völlig unbekümmert. »Tempo jetzt!«

Also erzählte ich ihnen den Rest: Wie ich unbegründet von der Null-Toleranz-Fraktion geächtet worden war, die insgeheim das Manifeste Schicksal leitete. Das sorgte jetzt wirklich für helle Aufregung; sie wussten alle, wofür Truman und seine Leute sich einsetzten.

»Wir sind angelogen worden«, sagte ich schließlich müde. »Wir sind nicht, wer wir zu sein glaubten. Wir sind nicht die Guten und sind es auch seit Jahrhunderten nicht mehr gewesen. Aber wir können es sein; wir können sein, wozu wir bestimmt waren. Wenn ihr bereit seid, dafür zu kämpfen!«

Im Augenblick sahen die Männer und Frauen vor mir nicht besonders wie Kämpfer aus. Die meisten wirkten ziemlich durcheinander, als ob ihnen allen gerade jemand in den Bauch geschlagen hätte, nachdem ihnen so viele unerfreuliche und unerwartete Neuigkeiten eine nach der anderen aufgetischt worden waren. Sie blickten einander unsicher an und schauten dann wieder auf mich, bis schließlich eine Stimme aus dem Hintergrund fragte:

»Was sollen wir tun?«

»Wir sollen tun, wofür wir geboren wurden! Wir sollen sein, was wir immer sein sollten: Schamanen des Stammes, die ihr Volk vor allen bösen Mächten beschützen, die es bedrohen! Nur dass jetzt der Stamm die Menschheit ist und wir die Krieger der Welt sein müssen, die den guten Kampf kämpfen; nicht für uns, sondern weil es das Richtige zu tun ist! Wir müssen uns das Recht verdienen, wieder stolz darauf zu sein, den Namen Drood zu tragen!«

»Aber … wie können wir kämpfen, ohne unsere Torques?«, fragte eine andere Stimme.

Ich lächelte und legte eine Hand an den silbernen Torques um meinen Hals. »Das Herz ist nicht mehr da, aber glücklicherweise habe ich einen neuen Sponsor für die Familie gefunden.« Und ich sprach innerlich: Zeig es ihnen, fremde Materie!

Binnen eines Moments floss die neue Rüstung über mich und umschloss mich vollständig mit glänzendem Silber. Die Menge schrie auf; manche applaudierten sogar. Dann sprach eine große Stimme zu ihnen - die fremde Materie, die sich durch mich an die Familie wandte, und ihre Stimme war voller Frieden und Ruhe und Kameradschaftlichkeit:

»Lange und lange habe ich die Kreatur verfolgt, die ihr als das Herz kanntet, durch all die vielen Dimensionen, um sie für all ihre entsetzlichen Verbrechen zu bestrafen. Nun, da sie tot ist, werde ich hierbleiben, um zu helfen, das Böse, das sie getan hat, wiedergutzumachen. Ich werde euer neuer Protektor sein, und es wird Torques für alle geben.«

»Wie lange beabsichtigst du dazubleiben?«, fragte eine praktische Stimme.

»Bis ich euch allen beigebracht habe, stark zu sein ohne Rüstung«, erwiderte die Stimme. »Ihr habt keine Vorstellung von eurem wahren Potenzial.«

Diese Worte riefen viel Gemurmel in der Menge hervor.

»Aber welchen Preis müssen wir für diese neue Rüstung bezahlen?«, wollte eine andere Stimme in der Menge wissen. »Das Herz wollte unsere Kinder; unsere unbekannten Brüder und Schwestern. Was willst du?«

»Nur helfen«, sagte die Stimme. »Das ist meine Aufgabe. Und bezahlt habt ihr mich bereits, indem ihr das Herz zerstört habt. Ihr habt ja keine Ahnung, wie lange ich damit zugebracht habe, das verdammte Ding zu jagen! Ich bin einfach nur froh, dass es endlich vorbei ist … Ich habe Anspruch auf ein bisschen Urlaub, also denke ich, ich werde ihn hier verbringen. Nur ein paar Jahrtausende. Faszinierende Dimension, faszinierende Leute. Ihr müsst mir unbedingt auch mehr über diese Sexsache erzählen, die ihr da -«

Später!, sagte ich schnell innerlich. Weißt du, ich kann dich nicht die ganze Zeit Fremde Materie‹ nennen. Hast du keinen Namen, den ich benutzen kann?

Wie wär's mit Ethel?, schlug die Stimme in meinem Kopf vor. Das ist ein guter Name.

Auch das werden wir später erörtern, sagte ich. Und jetzt befrei mich bitte von dieser Rüstung!

Oh, aber sicher!

Die silberne Rüstung verschwand wieder in meinen Torques, und ich blickte wieder auf die Familie hinab. »Folgt mir, und ihr werdet alle wieder Rüstungen haben! Und wir werden alle sein … was die Familie einmal sein sollte, bevor wir vom Weg abgekommen sind.«

»Unter deiner Führung?«, fragte die Matriarchin laut mit schroffer und unversöhnlicher Stimme.

»Nicht, wenn ich ein Wörtchen mitzureden habe«, antwortete ich. »Das wollte ich nie; zu viel harte Arbeit.« Ein paar Lacher kamen aus der Menge. »Nein; wir haben Führer genug gehabt. Man kann ihnen nicht trauen. Ihr habt alle dem Handel mit dem Herzen zugestimmt, Großmutter; Generationen von Matriarchinnen, die mit der Abschlachtung von Generationen von Kindern einverstanden waren.«

»Wir hatten keine Wahl!«, fuhr sie mich an. »Wir mussten stark sein, um gegen die Mächte der Finsternis zu kämpfen!«

»Ihr hattet immer eine Wahl«, sagte ich. »Wir nicht. Wir haben der Opferung unserer Brüder und Schwestern nie zugestimmt, Großmutter.«

Und irgendetwas muss wohl in meiner Stimme gelegen haben, denn sie wandte den Blick ab und blieb die Antwort schuldig.

»Ich schlage einen gewählten Rat vor«, sagte ich zur Menge. »Über die Bestimmungen könnt ihr euch einigen - mit der Ausnahme, dass sich kein Mitglied des gegenwärtigen Rats darin finden darf, denn sie waren Teil der Verschwörung. Teil der Lügen. Ich werde während der Übergangsphase nach den Dingen sehen, und dann … bin ich hier weg. Zurück zum Frontagentendasein. Da gehöre ich hin.«

»Wenn du vorhast, die Familie im Stich zu lassen, warum sollten wir dann auf dich hören?«, warf eine weibliche Stimme in der Menge ein, nur um gleich darauf den Kopf einzuziehen, als Molly sie nachdenklich ansah.

»Ich werde die Familie nicht verlassen«, sagte ich bestimmt. »Ich werde mich nur wieder dem widmen, was ich am besten kann: Den Bösen in den Arsch treten und sie wie Babys zum Weinen bringen. Das Manifeste Schicksal ist immer noch da draußen und ebenso all die anderen Monster, die uns sofort angreifen würden, wenn sie glaubten, dass wir schwach sind.«

»Wir sind schwach!«, sagte die Matriarchin. »Du hast ihnen gezeigt, dass unsere Verteidigungsanlagen durchbrochen werden können!«

»Wir sind schwach geworden unter dir, weil du der Familie gestattet hast, sich in Splittergruppen aufzuspalten«, hielt ich ihr entgegen, und wieder sah sie weg. »Wir müssen stark sein, vereint. Schäfer der Herde, nicht Wölfe. Verdammt, wenn es einfach wäre, das Böse zu bekämpfen, dann würde es jeder machen! Aber keine Angst, Großmutter; von jetzt an wird es keine Fanatiker mehr geben. Nur noch Männer und Frauen, die guten Willens sind und den guten Kampf kämpfen. Und jeder, der damit nicht einverstanden sein kann oder will, kann sich verziehen. Ohne Torques!«

Der Waffenschmied trat vor. »Dies ist Edwin Drood. Er hat sich mit der Familie angelegt und gewonnen. Wer könnte uns besser führen? Um uns wieder stark zu machen? Um uns zu dem zu machen, was wir immer sein sollten? Ich bin der Waffenschmied, und meine Unterstützung hat er!«

»Und meine!«, sagte der Geist des alten Jacob.

»Und meine!«, sagte der Seneschall.

Die Menge sah die Matriarchin an. Sie blickte langsam um sich, nahm in sich auf, was sie in den Gesichtern las, und endlich ließ sie die stolzen Schultern hängen und drehte sich um.

»Ich bin müde«, sagte sie. »Und Alistair braucht mich. Macht, was ihr wollt. Das werdet ihr ja sowieso.«

Sie wandte mir den Rücken zu und entfernte sich durch die Menge, wobei sie blindlings die Hände vorstreckte, und wieder wichen die Leute zur Seite, um sie vorbeizulassen. Niemand sagte etwas; niemand machte höhnische Bemerkungen. Schließlich war sie die Matriarchin. Und auch nach allem, was passiert war, nach allem, was sie getan hatte, mir und so vielen anderen, schmerzte es mich dennoch, sie gedemütigt und gebrochen zu sehen. Sie war meine Großmutter, und als ich noch klein war, hatte sie mir an Weihnachten immer das beste Spielzeug geschenkt und mich gepflegt, wenn ich krank war.

»Edwin führt uns jetzt!«, sagte der Waffenschmied, ergriff meine Hand und hielt sie mir wie einem Berufsboxer über den Kopf. »Der größte Frontagent aller Zeiten! Der treueste, tapferste Sohn, den diese Familie je gehabt hat! Edwin! Edwin!«

Die Menge nahm den Ruf auf, brüllte in Sprechchören meinen Namen, geriet in Ekstase, als sich der große Raum mit dem Lärm der Familie füllte, die mir zujubelte, immer und immer wieder. Ich fand es ein kleines bisschen unheimlich. Ich hatte die Familie nie führen wollen, aber es sah so aus, als ob man mir keine andere Wahl ließe. Also würde ich eine Weile dableiben. Tun, was ich konnte. Und wieder weglaufen, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit. Mit sanfter Gewalt befreite ich meinen Arm aus dem Griff des Waffenschmieds, drehte mich zu Molly um und grinste sie an.

»Das waren ein paar verrückte Tage, was?«, sagte ich. Ich musste die Stimme heben, um über dem Getöse der Menge verstanden zu werden. »Wer hätte gedacht, dass wir hier oben landen würden?«

»Ich freue mich für dich, Eddie. Aber wo passe ich in das Ganze?«

»Wo immer du willst. Die Familie wird vielen von denen die Hand reichen müssen, die einst unsere Feinde waren. Ich habe selbst erfahren, dass der Abstand zwischen uns und den Bösen nicht so klar und deutlich ist, wie man mich zu glauben gelehrt hat. Wir müssen lernen, gegen die wirklichen Bedrohungen zusammenzuarbeiten, zum Beispiel das Manifeste Schicksal. Und wer wäre geeigneter als du, unsere Abgesandte zu sein?«

Sie lächelte. »Das ist der einzige Grund, weshalb du willst, dass ich hierbleibe?«

»Nein«, sagte ich. »Ich brauche dich hier, weil … ich dich brauche.«

»Aha!«, meinte sie. »Haben wir dann zu guter Letzt doch noch eine Beziehung?«

»Sieht ganz danach aus«, sagte ich.

* * *

Und so blieb schließlich die Führung der Familie an mir hängen. Manchmal ist es schon eine komische alte Welt.

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