Kapitel Vier Da, wo das Herz ist, bin ich zu Hause

Die Sonne stand erst etwa eine Stunde am Himmel, als ich schließlich meine kleine gemütliche Wohnung verließ, die an einem umschlossenen Platz in einer der besseren Gegenden von Knightsbridge versteckt lag. Sie kostete pro Woche mehr Miete, als die Familie mir im Jahr schickte, aber ich habe dem Eigentümer einmal einen Gefallen getan, und seitdem übernimmt er die Kosten. Im Gegenzug lasse ich kein Sterbenswörtchen darüber verlauten, was genau der Sukkubus in dieser Wohnung gemacht hatte, bevor ich ihn exorzierte. (Es soll hier nur gesagt sein, dass ich das Bett verbrennen und die Wände mit einem Gemisch aus Weihwasser und Lysol abschrubben musste.) Den heller werdenden Himmel durchzogen noch tiefrote Streifen, die Vögel sangen sich die kleinen Herzen aus dem Leib - die lärmenden Drecksviecher -, und der Tag trug die frischen und durchdringenden Vorahnungen von Dingen in sich, die er noch bringen wollte.

Ich bin normalerweise kein Morgenmensch, aber es war eine wirklich gute Nacht gewesen, dank Silikon Lily. Mit einem Knistern sich entladender Tachyonen war sie vor ungefähr einer Stunde aus meinem Bett verschwunden und hatte mich mit der Erinnerung an ein Augenzwinkern und ein Lächeln und dem Duft ihres parfümierten Schweißes auf meinen Laken zurückgelassen. Verdammt, im dreiundzwanzigsten Jahrhundert verstehen sie es zu leben! Ich sog ein paar tiefe Züge frischer Morgenluft ein, gähnte plötzlich und strich über meine Bluejeans, mein weißes Hemd und meine abgenutzte schwarze Lederjacke. Gut genug für die Familie. Normalerweise halte ich nicht viel davon, zur selben Zeit wie alle anderen aufzustehen, wie Leute, die sich ihren Lebensunterhalt tatsächlich verdienen müssen, aber vor mir lag ein langer Tag. Ich sperrte die Garage unter meiner Wohnung mit einem Wort und einer Gebärde auf und fuhr meinen Wagen rückwärts auf den Kopfsteinpflasterhof heraus. Ich jagte den Motor hoch; er dröhnte fröhlich, und ich musste grinsen, als ich an die Köpfe dachte, die es in den Wohnungen rings um den Platz jäh aus den Kissen riss. Muss ich früh raus, muss jeder früh raus!

Ich fegte durch die nahezu leeren Straßen Londons, missachtete rote Ampeln und Geschwindigkeitsbegrenzungen und staunte über die vielen freien Parklücken. London direkt nach Tagesanbruch ist ein völlig anderer Ort. Ein paar Nachtschwärmer befanden sich noch torkelnd auf dem Nachhauseweg, umklammerten leere Champagnerflaschen und gelegentlich auch einen Leitkegel, und ich winkte ihnen im Vorüberfahren vergnügt zu. Wir Nachteulen müssen zusammenhalten.

Ich fuhr meinen Hirondel-Sportwagen, das taubenblaue Modell, das Faltdach heruntergeklappt, und der Wind zerzauste mir liebevoll die Haare, während ich aus London herausfuhr und das südwestliche Umland ansteuerte, nach Hause fuhr, um mit meiner Familie zusammenzutreffen. Ich hatte kaum Schlaf und nur ein überstürztes Frühstück aus Müsli, Milch und verbranntem Toast zu mir genommen, aber um einen Kater abzuwenden, geht nichts über eine Nacht mit richtig gutem Sex. Ich lenkte den Hirondel über die M4, durch ländliche Gegenden mit Wiesen und bestellten Feldern, und genoss die Fahrt, sang lautstark die Greatest Hits der Eurythmics aus dem CD-Spieler mit und überbrückte die hohen Töne, die ich nicht treffen konnte, mit einer zweiten Stimme. Diese Annie Lennox hat schon einen Mordsstimmumfang!

Der Hirondel ist ein 1930er-Modell, vollständig restauriert, er hat jedoch auch viele moderne Extras und einige außergewöhnliche Sonderausstattungen, dank des Waffenschmieds der Familie. Der fest daran glaubt, dass jedes Mitglied der Familie jederzeit auf einen feindlichen Angriff gefasst sein muss. Er glaubt auch daran, es anderen zuzufügen, bevor sie die Chance haben, es einem selbst zu tun. Als Ergebnis seiner äußerst inspirierten Arbeit können Geschwindigkeitsüberwachungskameras mich nicht sehen, mein Nummernschild ist Corps diplomatique, sodass die Bullen mich in Ruhe lassen, und jedes Auto, das den Fehler macht, zu nahe heranzukommen, kann plötzlich ernsthafte Probleme mit dem Motor bekommen. Für diejenigen, die darauf bestehen, zu nahe heranzukommen, habe ich vorn und achtern elektronische Bordkanonen, die pro Minute zweitausend Explosivnadelgeschosse abfeuern können, Flammenwerfer und einen EMP-Generator. Wenn Sie mich fragen, hat der Waffenschmied zu viele Spionagefilme gesehen. Ich ziehe es vor, mein Vertrauen darauf zu setzen, wie der Teufel zu fahren und meine Feinde meine Auspuffgase schlucken zu lassen.

In der Nähe von Bristol fuhr ich von der M4 ab, mittlerweile Leonard Cohens I'm Your Man mitsummend, und ließ die Hauptstraßen rasch hinter mir, während die Gegend immer ländlicher wurde. Ich lenkte den Wagen über immer schmalere Straßen, bis die viel befahrenen Routen ein gutes Stück hinter mir lagen und aus den Sträßchen bessere Feldwege wurden, die nicht mal mehr Markierungen oder Leuchtnägel in der Fahrbahnmitte aufwiesen. Die Morgenluft war klar und belebend, erfüllt vom Duft nach frisch gemähtem Gras und dem unverkennbaren Geruch, der die Anwesenheit von Kühen verrät: Der Südwesten ist Milchland. Kleine Marktflecken wichen noch kleineren Dörfern und Weilern, bis schließlich das Sträßchen, dem ich folgte, sich unvermittelt in einen unbefestigten Feldweg verlor, den schwere Landmaschinen tief aufgewühlt hatten. Ich fuhr weiter, langsamer jetzt, folgte einem gewundenen Weg durch dunkle und brütende Wälder, in deren allgemeine Düsternis sich goldene Speere von Sonnenlicht den Weg erzwangen wie Scheinwerferstrahlen voller tanzender Staubteilchen. Ich bremste stark ab, um dem Zusammenstoß mit einem Dachs von der Größe eines Schweins zu entgehen, der über den Weg wanderte und tatsächlich den Nerv hatte, mir einen bösen Blick zuzuwerfen, bevor er ins Unterholz wegtrippelte. Rotwild mit Augen, die in den Schatten funkelten, beobachtete mich still von den Seiten.

Ich bog um eine scharfe Kurve, und der Weg endete abrupt an einer hohen Steinmauer, die unter einem jahrhundertelangen Bewuchs von kriechendem Efeu begraben war. Jeder andere wäre voll in die Eisen gestiegen, aber ich fuhr einfach weiter. Die Steinmauer türmte sich drohend vor mir auf, fürchterlich massiv und unversöhnlich, füllte mein Gesichtsfeld aus, und dann war ich in ihr und durch sie hindurch, und die Illusion zerteilte sich harmlos um mich herum und strich mir mit Fetzen gespenstischen Mauerwerks wie mit frostigen Fingerspitzen durchs Gesicht.

(Für einen Drood ist es eine Illusion. Für jeden anderen ist es eine solide Steinmauer. Und wenn Sie dagegenknallen, kommend Sie bloß nicht weinend zu uns gerannt! Geschieht Ihnen ganz recht, wenn Sie versuchen, uns zu finden!)

Strahlendes Sonnenlicht überflutete den Wagen, als ich die Illusion hinter mir gelassen hatte und dem von zwei langen Reihen von Ulmen gesäumten Kiesweg in die ausgedehnten Parkanlagen des Herrenhauses folgte. Hier gab es vollendet angelegte Rasenflächen, fachmännisch geschnitten und so lang, dass ein Flugzeug darauf landen konnte. Sprinkler schleuderten ihre flüssigen Gaben durch die Gegend und hüllten die Sommerluft in einen feuchten Dunstschleier. Hinter den Rasen gab es Heckenlabyrinthe und Blumengärten, Zierbrunnen in imposantem viktorianischem Stil mit Wasser, das sich geschmackvoll aus klassischen Statuen ergoss, und sogar unseren eigenen See mit darauf hinziehenden Schwänen.

Als ich mich dem Herrenhaus näherte, stolzierten Pfauen über den manikürten Rasen und verkündeten mit ihren schrillen und heiseren Rufen meine Ankunft. Auf einer Seite stand ein alter Wunschbrunnen, von dessen rotem Dach der Rost abblätterte. Wir hatten ihn mit Beton aufgefüllt, weil er zu eingebildet geworden war. Vor den angrenzenden Stallungen grasten geflügelte Einhörner, die ihre edlen Köpfe in meine Richtung warfen; ihre Felle waren von so vollkommenem Weiß, dass sie beinah zu strahlen schienen. Wachsame Greifen patrouillierten rings um das Herrenhaus und behielten die nahe Zukunft im Auge, gerüstet für jedweden Angriff - die perfekten Hüter und Wachhunde. Leider ernähren sie sich ausschließlich von Aas und mögen es, sich vorher darin zu wälzen, deshalb streichelt sie nie jemand, und sie dürfen auch nie ins Haus.

Im Zuhause meiner Familie war es schon immer lebhaft wie auf einem Kindergeburtstag zugegangen. Der künstliche Wasserfall beherbergt eine Undine, die alte Kapelle hat ein Gespenst (allerdings spricht meine Familie nicht mehr mit ihm), und ab und zu gibt es Feen in unserem Garten. Wenn man allerdings schlau ist, macht man einen großen Bogen um sie.

Das Herrenhaus rückte bedrohlich näher wie ein Termin beim Zahnarzt; notwendig zwar, aber man weiß einfach, dass alles in Tränen enden wird. Meine Gefühle, als ich nach so langer Zeit meine alte Heimstätte wiedersah, waren so gemischt, dass ich nicht einmal wusste, wo ich anfangen sollte. Wohin ich auch schaute, überall sprangen mich vertraute Anblicke an und überfielen mich mit Sehnsucht nach vergangenen Zeiten, als die Welt noch so viel einfacher schien. Dies war die Stätte meiner Kindheit, meiner prägenden Jahre. Ich erinnerte mich daran, wie ich über den See gesegelt war in einem Boot aus Spinnweben und Dichtungszaubern, unter der Sorte von blauem Himmel und strahlender Sonne, die man nur in den Erinnerungen an Kindheitssommer antrifft. Ich erinnerte mich daran, wie ich vier Jahre alt war und auf meinen kurzen, dicken Beinen den Pfauen nachjagte und weinte, weil ich sie nicht fangen konnte. Ich erinnerte mich daran, wie ich in Elbenstiefeln auf dem Dach tanzte, und wie ich auf den Einhörnern flog, und wie … wie ich einfach nur auf dem Rasen lag mit einem guten Buch und mich durch endlose Sommernachmittage hindurchdöste …

Ich erinnerte mich auch an endlose Unterrichtsstunden in überfüllten Klassenzimmern, endlos strengen Drill und kalte Höflichkeit und an den stummen, störrischen Widerstand meiner Teenagerjahre, als ich mich hartnäckig weigerte, geführt und geformt und bevormundet zu werden. An die nicht enden wollenden Auseinandersetzungen mit zunehmend höherrangigen Familienmitgliedern darüber, wie mein Leben verlaufen sollte, und an das schreckliche Gefühl, von ihren starren Erwartungen dessen, wer und was ein Drood sein sollte, eingeschränkt und erdrückt zu werden. An mein Bedürfnis, mein eigener Herr zu sein in einer Familie, wo dies niemals geduldet werden konnte. Am Ende war es weniger ein von zu Hause Fortgehen als vielmehr ein Fortlaufen, und es gereicht der Matriarchin zur Ehre, dass sie mich ziehen ließ.

Ich erinnerte mich an die Schläge, die ärgerlich erhobenen Stimmen und, schlimmer noch, an die schneidend kalten Worte der Enttäuschung. An die Vorenthaltung von Vergnügen und Privilegien und Zuneigung, bis ich lernte, ohne sie auszukommen, nur um der Familie eins auszuwischen. Ich lernte es auf die harte Tour, unabhängig zu sein. Man härtet ein Schwert, in-dem man die Scheiße aus dem Stahl prügelt, und ich bin verdammt hart geworden.

Nun war ich wieder herzitiert worden, ohne Ankündigung oder Begründung, und Vorahnungen und Paranoia schlangen einen kalten Knoten in meine Magengrube. Hieraus konnte nichts Gutes entstehen - nichts Gutes für mich jedenfalls. Ein Teil von mir wollte am liebsten eine Vollbremsung hinlegen, wenden und wieder wegfahren. Einfach weiter und immer weiter fahren, England verlassen und mich in den dunkleren Teilen der Welt verlieren, vergessen, dass ich jemals ein Drood gewesen war. Aber das konnte ich nicht: Die Familie würde nicht vergessen. Sie würden mich zum Sicherheitsrisiko, zum Abtrünnigen, zum Vogelfreien erklären, und sie würden keine Ruhe geben, bis sie mich zur Strecke gebracht hätten.

Und außerdem, selbst nach allen Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten, glaubte ich immer noch an das, wofür die Familie eintrat: Ich glaubte immer noch daran, dass es richtig war, den guten Kampf zu kämpfen.

Ich lenkte den Wagen durch eine lang gezogene Kurve, und das Haus schwenkte vor mir an den richtigen Platz, bis es die Bildfläche beherrschte. Der riesige, wuchernde, alte Herrensitz stammte ursprünglich aus Tudorzeiten, doch war im Lauf der Jahrhunderte viel hinzugefügt worden. Das zentrale Gebäude hatte immer noch die traditionelle schwarz-weiße, mit Brettern verkleidete Vorderfront mit schweren Bleiglasfenstern und vorspringendem Giebeldach; umgeben war es von den vier großen Flügeln, wuchtig und massiv im alten Regency-Stil, die ungefähr fünfzehnhundert Schlafzimmer beherbergten, alle derzeit bewohnt von Familienmitgliedern. Jeder hier ist ein Drood. Das Dach hob und senkte sich wie eine mit grauen Ziegeln gedeckte See samt Giebeln, Wasserspeiern und Zierregenrinnen. Nicht zu vergessen das Observatorium, den Horst, den Hubschrauberlandeplatz und mehr Antennen als Chinesen im Südteil Sohos. Es gibt viele Zimmer im Wohnhaus meiner Familie, und es gibt Platz für jeden darin. Solange man spurt.

Das Herrenhaus ist auch schweineschwer zu heizen, im Winter zieht es darin wie Hechtsuppe, und die Familie glaubt nicht an Zentralheizung, weil sie findet, dadurch wird man nur verweichlicht. Ich wuchs heran mit der Vorstellung, das halbe Jahr über lange Unterwäsche zu tragen sei normal.

Und in den geheimsten Räumen des Herrenhauses bestimmt meine Familie das Schicksal der Welt. Sieben Tage die Woche und kein Urlaub wegen guter Führung.

Das hier ist selbstverständlich nicht das erste Zuhause meiner Familie. Die Droods waren schon damals, zu Tudorzeiten, eine alte, sehr alte Familie. So, wie unsere Größe und unser Prestige und unser Einfluss zunahmen, zogen wir weiter und wurden mächtiger. Aber inzwischen war das Herrenhaus schon so lang unser Zuhause und Operationszentrum, dass es einem schwerfällt, sich uns irgendwo anders vorzustellen. Sie werden das Herrenhaus auf keiner offiziellen Karte finden und Sie werden auch keinen der Wege finden, die zu ihm führen. Ich spürte, wie die zahlreichen Schichten wissenschaftlicher und magischer Verteidigungsanlagen beiseite glitten, um mich vorbeizulassen, als ich den Hirondel über den langen, gekiesten Fahrweg steuerte, wie sie vor mir fielen oder sich hoben wie eine Reihe von Schleiern, die weggezogen wurden, und dann hinter mir wieder hermetisch abriegelten. Jemand beobachtete mich seit dem Augenblick, als ich die Steinmauer passiert hatte, und würde fortfahren mich zu beobachten, bis ich wieder ging. An einer Stelle kamen tatsächlich Automatikkanonen aus dem Rasen hoch und visierten meinen Wagen an, bevor sie sich widerstrebend wieder versenkten. Die waren neu. Aber natürlich sind es immer die Verteidigungsanlagen, die man nicht sehen oder spüren kann, die einen fix und fertig machen. Jeder, der auf der Suche nach uns hierherkommt, ungeladen und unerwartet, läuft Gefahr, auf unzählige Arten ums Leben zu kommen, eine qualvoller als die andere.

Die Familie hat ihre Zurückgezogenheit immer sehr ernst genommen. Wenn man die Welt so lange beschützt und in Ordnung gehalten hat wie wir, ist es unvermeidlich, dass sich ernst zu nehmende Feinde ansammeln. Das Herrenhaus und seine weitläufigen Parkanlagen sind umgeben und überzogen von Schicht um Schicht von Schutzvorrichtungen, einschließlich eines ganzen Haufens von Vogelscheuchen. Wir stellen sie aus alten Feinden her. Wenn Sie die richtige übernatürliche Frequenz abhören, können Sie sie schreien hören. Legen Sie sich nicht mit den Droods an: Wir nehmen das persönlich! Wir werden sauer und machen Sie fertig!

Mit einer Vollbremsung brachte ich den Hirondel in einem Sprühregen aus aufgewirbeltem Kies direkt vor der Vordertür zum Stehen und parkte ihn genau dort, nur weil ich wusste, dass ich das nicht sollte. Ich stellte den Motor ab und saß dann eine Weile einfach da, starrte ins Leere und trommelte mit den Fingerspitzen auf dem Lenkrad herum, lauschte den Schreien der Pfauen und dem langsamen Ticken des abkühlenden Motors. Ich wollte das hier nicht machen. Indem ich nicht ausstieg, schob ich den Moment hinaus, in dem ich mein altes Zuhause betreten und in den kalten, abweisenden Schoß der Familie zurückkehren musste. Aber … früher oder später muss man in den Behandlungsraum des Zahnarztes gehen und die Sache eben hinter sich bringen.

Ich knallte die Autotür zu, erfreute mich an den Echos und schloss dann ab. Nicht, weil es nötig war, und schon gar nicht, weil es denjenigen, den sie mit Sicherheit schicken würden, davon abhalten würde, den Wagen zu bewegen. Ich wollte einfach nur jedermann klarmachen, dass ich hier niemandem traute. Das Herrenhaus erhob sich vor mir wie eine versteinerte Flutwelle. Von Nahem wirkte es noch größer, als ich es in Erinnerung hatte, und noch bedrohlicher. Ich konnte seine Substanz spüren, die Jahrhunderte angesammelter Pflicht und Verantwortung, die versuchten, mich einzusaugen wie ein schwarzes Loch, doch vor der Vordertür zögerte ich. Eigentlich hätte ich direkt hineingehen und mich bei der Matriarchin melden müssen, wie Brauch und Tradition es verlangten - aber ich habe noch nie großen Wert darauf gelegt, zu tun, was ich eigentlich müsste. Und da ich immer noch mehr als nur ein bisschen verärgert darüber war, so abrupt zurückbeordert worden zu sein, beschloss ich, dass die Matriarchin warten konnte, dieweil ich noch einen kleinen Spaziergang machte.

Ich kehrte der Vordertür den Rücken zu, summte laut und sorglos vor mich hin und schlenderte an den vielen Bogen- und Bleiglasfenstern in der Fassade des Hauses vorbei. Ich konnte ihre Gegenwart spüren wie den Druck unzähliger beobachtender Augen, daher hielt ich meinen eigenen Blick eisern geradeaus gerichtet. Der Kies knirschte laut unter meinen Füßen, als ich am Ostflügel vorüberging, um die Ecke bog und zum ersten Mal lächelte, als ich die alte Familienkapelle sah. Sie war deutlich vom Rest der Gebäude abgesetzt und vor den Blicken versteckt, ein gedrungenes Steingebäude mit Kreuzfenstern. Sie sah angelsächsisch aus, war aber tatsächlich eine Torheit aus dem achtzehnten Jahrhundert. Die Familie hatte jetzt ihre eigene Kapelle im Inneren des Herrenhauses, angenehm und friedlich und großzügig multikonfessionell, und das alte Gebäude war dem Verfall überlassen worden. Es wird gegenwärtig vom Familiengespenst, Jacob Drood, bewohnt, zänkischer alter geiler Bock, der er ist. Ich glaube, er ist mein Urururgroßvater - Genealogie war noch nie meine Stärke.

Im Großen und Ganzen ermutigt meine Familie Gespenster nicht zum Aufenthalt, sonst würden wir hüfthoch in den Dingern waten. Falls doch mal welche plärrend ins Herrenhaus zurückkommen, nachdem sie an der Front ihr Leben gelassen haben, werden sie verdammt schnell ins Jenseits weiterbefördert. Die Familie blickt streng nach vorn, nie zurück, und im Herrenhaus ist einfach kein Platz für Sentimentalitäten. Jacob darf weiter in der Kapelle bleiben aufgrund irgendeiner formalen Spitzfindigkeit, die ich nie richtig verstanden habe, hauptsächlich, weil es den wenigen Leuten, die Genaueres wissen, anscheinend zu peinlich ist, darüber zu reden. Alle Familien haben irgendeine sonderbare Leiche im Keller, und unsere ist halt Jacob. Ostentativ spricht die Familie schon seit Jahren nicht mehr mit ihm, und ihm ist das völlig schnuppe. Meistens sitzt er einfach in seiner Gespensterunterwäsche herum und schaut sich die Erinnerungen alter Fernsehsendungen in einem Gerät ohne Innenleben an. Hin und wieder hat er ein geisterhaftes Auge darauf, was die Familie vorhat, nur weil er weiß, dass er das nicht soll.

Jacob und ich sind immer prima miteinander ausgekommen.

* * *

Ich war acht, als ich ihn entdeckte. Cousin Georgie forderte mich dazu heraus, einen Blick durch das Fenster der verbotenen Kapelle zu werfen, und einer Herausforderung konnte ich noch nie widerstehen. Ich wurde erwischt (natürlich) und bestraft (natürlich) und mir wurde gesagt, dass die Kapelle und ihr Bewohner streng tabu waren. Anschließend konnte ich es nicht erwarten, ihn kennenzulernen. Ich wusste einfach, dass wir verwandte Geister waren. Also schlich ich mich in dieser Nacht hinaus und überfiel kurzum das alte Gespenst in seinem Bau. Er machte ein paar unbeholfene Versuche, mich zu verscheuchen, aber er war nicht mit dem Herzen dabei. Er hatte lange darauf gewartet, dass die Familie noch ein schwarzes Schaf wie ihn hervorbrachte. Wir wurden schnell warm miteinander, und danach konnte uns niemand mehr voneinander fernhalten. Die Familie versuchte es, aber Jacob kam mit großen Schritten aus der Kapelle und marschierte geradewegs in die Privatgemächer der Matriarchin, und was immer dort auch gesagt wurde, danach überließ man uns beide strikt uns selbst.

Jacob war vielleicht der einzige echte Freund, den ich damals hatte; mit Sicherheit der einzige, dem ich vertrauen konnte. Er ermutigte mich in all meinen frühen Auflehnungen und war als Einziger immer auf meiner Seite. Er war es, der mir sagte, ich solle bei der ersten Gelegenheit fortgehen. Er akzeptierte mich;

sagte, ich erinnerte ihn an ihn selbst als Teenager. Was eigentlich ziemlich beunruhigend war.

* * *

Die Kapelle sah so gedrungen und hässlich aus wie immer: unbehauene Steine, begraben unter dickem Efeugeflecht, das sich bedrohlich regte und wand, als ich mich der offenen Vordertür näherte - ein Bestandteil von Jacobs Frühwarnsystem. Ich tätschelte das Efeu und sprach ihm freundlich zu, und es entspannte sich wieder, als es meine Stimme wiedererkannte und sich erinnerte. Die Tür stand halb auf und klemmte, wie immer, und ich stemmte die Schulter dagegen. Das schwere Holz kratzte laut über den nackten Steinfußboden und wirbelte eine Staubwolke auf. Ich hustete und nieste ein paarmal und spähte in die Düsterkeit: Nichts hatte sich verändert.

Das Kirchengestühl war immer noch an der Wand gegenüber aufgestapelt, um Platz zu machen für Jacobs gigantischen schwarzen Ledersessel mit verstellbarer Rückenlehne, und neben diesem stand ein antiquierter Kühlschrank, der irgendwie immer mit ätherischem Alk gefüllt war. Vor dem Sessel thronte ein massiver alter Fernseher, auf dem echte Kaninchenohren aufgehäuft waren, um den Empfang zu verbessern. Jacob blickte sich nicht um, als ich näher kam. Er lümmelte sich knochenlos in seinem großen Sessel, eine graue, schmächtige Gestalt, die ein- und ausflimmerte, wenn ihre Konzentration schwankte. Er sah älter als der Tod aus, das Gesicht eine Ansammlung von Falten, der knochige Schädel geziert von einigen wenigen langen, lose fallenden Haaren. Augenblicklich trug er verblichene Bermudashorts und ein T-Shirt, auf dem Geister tun 's von jenseits zu lesen war. Er trank den Rest seines Biers auf ex und warf die Dose weg; sie verschwand, bevor sie auf dem Boden aufkam. Jacob fuchtelte mit einer grauen Hand fahrig in meine Richtung, was dünne Ektoplasmaschweife in der Luft zurückließ.

»Komm rein, Eddie, komm rein! Und mach die Tür hinter dir zu! Die Zugluft spielt meinen alten Knochen übel mit.«

Ich pflanzte mich neben seinem Stuhl auf, die Arme vor der Brust verschränkt. »Und was für Knochen sollen das sein, du widerlicher alter Wiedergänger?«

Er blickte unter buschigen weißen Augenbrauen heraus finster drein. »Werd erst mal so steinalt wie ich, Junge, dann wirst du auch deine Wehwehchen haben! Es ist nicht einfach, so alt zu sein. Sonst würde es ja auch jeder werden.«

»Wie kann dir was wehtun? Du bist tot. Du hast gar keinen eigentlichen Körper mehr.«

»Recht so! Reite nur darauf herum! Nur weil ich tot bin, heißt das noch lange nicht, dass ich keine Gefühle habe. So, wie die Familie mich dieser Tage behandelt, würde ich mich am liebsten im Grab herumdrehen!«

»Du bist eingeäschert worden, Jacob.«

»Na schön, dann werde ich mich eben in der Urne herumdrehen!« Mit einem Fingerschnippen stellte er den Ton seines gespenstischen Fernsehgeräts ab und drehte sich endlich um, um mir zuzulächeln. »Verdammt, es tut gut, dich wieder hier zu haben, Junge! Keiner aus der jetzigen Generation hat den Mumm, hier rauszukommen und mit mir zu reden. Wie lange ist es jetzt her, Eddie? Hier drin verliert man jegliches Zeitgefühl …«

»Zehn Jahre«, sagte ich.

Er nickte bedächtig. »Hast ganz schön zugenommen, Junge. Gute Kleidung, saumäßige Haltung, und du siehst aus, als ob du deinen Mann stehen könntest. Gereichst meinen Lehren zur Ehre. Aber was zum Teufel treibt dich wieder hierher, Eddie? Du hast doch das geschafft, was nicht mal mir gelungen ist: Du bist entkommen!«

»Die Familie hat mich heimgerufen«, sagte ich und gab mir alle Mühe, locker und unbeschwert zu klingen. »Irgendwie hatte ich gehofft, du könntest wissen, warum.«

Jacob rümpfte die Nase und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Eine Geisterpfeife erschien in seiner Hand; nachdenklich sog er am Mundstück und paffte dicke Ektoplasmawolken vor sich hin, die zur spinnwebenbehangenen Decke emporschwebten. »Hat nicht viel Sinn, mich zu fragen, Junge. In letzter Zeit hat sich die Familie mich noch mehr vom Leib gehalten als sonst. Natürlich hält mich das nicht davon ab, ein wachsames Auge auf sie zu haben …« Er grinste mich niederträchtig an. »Du willst den ganzen neuesten Klatsch und Tratsch, Eddie-Junge? Du willst wissen, wer wen übers Ohr haut, wer's an der Front mal wieder vermasselt hat und wer völlig bedröhnt zurückgekommen ist und mit dem Autogiro eine Bruchlandung auf dem Dach hingelegt hat?«

»Erzähl mir alles!«, forderte ich ihn auf. »Ich denke, ich muss alles wissen.«

Jacob winkte seine Pfeife fort, und sie löste sich in dahintreibende Ektoplasmafäden auf. Er setzte sich in seinem Sessel gerade und fixierte mich mit einem starren Blick aus seinen uralten Augen, der mich an der Stelle festnagelte, wo ich gerade stand. »Um es gleich zu sagen, es gibt eine neue Splittergruppe innerhalb der Familie. Findet 'ne Menge Unterstützung, besonders unter den Jüngeren. Im Grunde läuft es auf eine Lasst-uns-sie-erledigen-bevor-sie-uns-erledigen-Strategie hinaus. Diese neue Splittergruppe redet lauthals über die Vorzüge von Präventivschlägen und einer Null-Toleranz-Politik gegenüber allen bestätigten Bösewichtern: ›Schlagt euch nicht mehr mit Problemen rum, wenn welche auftauchen; hängt alles ohne Rücksicht auf Verluste den Bösen an, ob ihnen was zu beweisen ist oder nicht.‹«

»Wenn wir den offenen Kriegszustand erklären würden«, sagte ich langsam, »würden unsere Feinde sich einfach zusammenrotten, um sich gegen eine allgemeine Bedrohung zu schützen, und wir wären gewaltig in der Unterzahl. Wir haben nur deshalb so lange überlebt, weil wir die Vorteile von ›Teile und herrsche!‹ begriffen haben.«

Jacob zuckte die Schulter. »Die jungen Leute heutzutage - keine Geduld mehr. Betrachten nichts mehr auf weite Sicht. Für sie zählt nur noch sofortige Befriedigung. Für mich sind daran MTV und Videospiele schuld. Bis jetzt halten ältere und weisere Köpfe in der Familie die neue Fraktion fest in ihren Schranken, aber jeder spricht darüber … Auch dein Cousin William hat gestänkert, nur um reichlich gutes Filmmaterial für die Dokumentation zu bekommen, die er über die Familie macht. Auch wenn Gott allein weiß, wer die seiner Ansicht nach sehen soll. Könnte andererseits ein großer Hit werden, wenn man bedenkt, wie viele Leute The Osbournes angeschaut haben. ›Lernen Sie die Droods kennen: eine noch gestörtere Familie, nur weitaus gefährlicher‹ …

Die Matriarchin hat die Sicherheitsvorkehrungen um das Herrenhaus herum verschärft. Wieder einmal. Wahrscheinlich hast du die zusätzlichen Maßnahmen auf deinem Weg hierher bemerkt. Klar, mich können sie natürlich nicht draußen halten. Es ist schwer, Geheimnisse vor den Toten zu wahren: Wir sind natürliche Voyeure. Sollen wir mal einen Blick darauf werfen, was unsere geliebte Anführerin im Moment so vorhat?«

Er schnalzte mit den Fingern in Richtung des leeren Fernsehgeräts vor sich, und die alte Folge von Dark Shadows, die mit abgestelltem Ton gelaufen war, wurde von einem beeindruckend scharfen Bild der Familienmatriarchin in ihrem Arbeitszimmer ersetzt, die gerade mit ihrem Mann, Alistair, sprach. Er ging auf und ab und machte einen ausgesprochen besorgten Eindruck, wohingegen sie mit geradem Rücken auf ihrem Stuhl saß und eisige Ruhe und Würde ausstrahlte.

»Er wird bald hier sein«, sagte Alistair. »Was werden wir ihm sagen?«

»Wir werden ihm sagen, was er wissen muss, und nicht mehr«, sagte die Matriarchin. »So war es immer Familienbrauch.«

»Aber wenn er auch nur den leisesten Verdacht hegt …«

»Das wird er nicht.«

»Wir könnten ihm die Wahrheit sagen.« Alistair blieb stehen und blickte die Matriarchin direkt an. »Wir könnten an sein besseres Wesen appellieren. An seine Pflicht, an seine Liebe zur Familie …«

Die Matriarchin schnaubte verächtlich. »Sei kein Narr! Er ist viel zu gefährlich. Ich habe entschieden, was getan werden muss, und das ist alles, was dazu zu sagen ist. Ich habe immer verstanden, was für die Familie das Beste ist. Warte … jemand hört mit! Bist du das, Jacob?«

Sie drehte sich mit einem Ruck um und starrte uns durch den Bildschirm direkt an. Jacob gestikulierte rasch, und das Bild verschwand und machte einer alten Folge der Addams Family Platz.

»Hab dir ja gesagt, dass sie die Sicherheitsvorkehrungen verschärft hat«, sagte Jacob. »Was denkst du, worum es wohl gerade ging?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Aber die Sache gefällt mir nicht.«

»Irgendetwas ist im Busch«, orakelte Jacob dunkel. »Etwas, wovon die Matriarchin und ihr feiner innerer Zirkel nicht wollen, dass das Fußvolk es erfährt. Es liegt etwas in der Luft … Etwas Großes ist im Anmarsch. Ich kann es spüren, wie es sich wie Gewitterwolken in der Zukunft zusammenballt. Und wenn es schließlich losbricht, dann wird es etwas Ungeheuerliches sein … In jüngster Zeit hat es mehrere direkte Angriffe auf das Herrenhaus gegeben.«

»Augenblick mal!«, sagte ich überrascht. »Angriffe? Niemand hat mir irgendwas von irgendwelchen Angriffen erzählt! Was für Angriffe?«

»Mächtige Angriffe.« Jacob rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. »Selbst ich habe sie nicht kommen sehen, und das sieht mir gar nicht ähnlich. Natürlich kam nichts durch, aber die bloße Tatsache, dass jemand oder etwas sich zuversichtlich genug fühlte, einen direkten Angriff auf den Ort zu starten, an dem wir leben, spricht Bände. Zu meiner Zeit hätte das niemand gewagt. Wir hätten sie aufgespürt, ihnen die Seelen herausgerissen und sie an unsere Außenmauern genagelt. Aber heutzutage ist alles Politik - Übereinkünfte und Pakte und Burgfrieden. Die Familie ist nicht mehr das, was sie mal war … Ich weiß nicht, wieso sie dich zurückgerufen haben, Eddie, aber todsicher nicht, um dir einen Orden an die Brust zu heften. Halt die Augen auf, Junge!«

»Immer doch!«, sagte ich. »Irgendetwas, was ich für dich tun kann, Jacob?«

Er sah mich mit einem, offen gestanden, beunruhigenden lüsternen Grinsen an. »Falls diese kopflose Nonne noch im Nordflügel spukt, dann sag ihr, sie soll ihren ektoplasmatischen Arsch hier runterschwingen, und ich werde sie eine ganz neue Methode der Manifestation lehren!«

»Aber … sie hat keinen Kopf!«

»Es ist ja auch nicht ihr Kopf, an dem ich interessiert bin!«

Und da wundert er sich, dass der Rest der Familie nicht mit ihm sprechen will!

* * *

Wieder draußen im strahlenden Sonnenlicht, unter einem makellos blauen Himmel, bei Greifen, die auf den Rasenflächen patrouillierten, bei Schmetterlingen, so groß wie meine Hand, die durch die Blumengärten flatterten, fand ich es schwer zu glauben, dass die Familie sich in wirklicher Gefahr befinden könnte. Oder ich. Ich mochte hier nicht immer glücklich gewesen sein, aber ich hatte mich im Herrenhaus immer sicher gefühlt. Die Macht der Droods war von der Tatsache abhängig, dass niemand uns erreichen konnte. Ich sah am Herrenhaus hoch, das vor mir aufragte, uralt und mächtig, genau wie wir. Wie konnte an einem so vollkommenen Ort, an einem so vollkommenen Tag, etwas nicht in Ordnung sein?

Ich ging durch den Haupteingang, und dort in der Vorhalle stand der Familienseneschall und wartete darauf, mich abzuholen. Klar wartete er; die Greifen hatten ihm sicher schon vor Stunden den genauen Moment meines Eintreffens mitgeteilt. Der Seneschall wurde niemals von etwas oder jemandem überrascht - das war sein Job. Er nickte mir steif zu, was so ungefähr das an Begrüßung war, was ich erwartet hatte. In der Drood-Familie hatte der verlorene Sohn noch nie was zu lachen gehabt. Der Seneschall trug die stocksteife, schwarz-weiße formelle Aufmachung eines viktorianischen Butlers, bis hin zu dem steifen und gestärkten Stehkragen, auch wenn er die Statur und das Auftreten eines Hauptfeldwebels hatte. Ich wusste ganz sicher, dass er ständig ein halbes Dutzend versteckter Waffen von zunehmender Leistung und Bösartigkeit mit sich herumtrug. Sollte bei einem Angriff jemals eine Bresche ins Herrenhaus geschlagen werden, würde er in der vordersten Verteidigungslinie stehen und höchstwahrscheinlich das Letzte sein, was die Angreifer je zu sehen bekamen.

Er hatte ein Gesicht, das aus Stein hätte gemeißelt sein können. Er wirkte ganz und gar nicht erfreut darüber, mich zu sehen, aber andererseits wirkte er nie erfreut über irgendwas. Es ging das Gerücht, dass Lächeln gegen seinen Glauben war.

»Grüß dich, Butler«, sagte ich, nur um ihn aufzuziehen, denn wir wussten beide, dass er weit mehr als nur ein Butler war. (Im Herrenhaus gibt es keine Diener als solche. Wir dienen alle der Familie, auf unsere eigene Art.) (Oder zumindest ist das das offizielle Prinzip …)

»Guten Morgen, Edwin«, erwiderte der Seneschall mit einer Stimme wie ein Steinmahlwerk. »Die Matriarchin erwartet dich.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Ich wünschte, ich könnte sagen, ich bin froh, wieder zu Hause zu sein.«

»In der Tat«, sagte der Seneschall. »Ich wünschte, ich könnte sagen, ich bin froh, dich wiederzusehen, Junge.«

Wir grinsten einander einen Moment lang höhnisch an, dann - der Ehre war Genüge getan - erlaubte ich ihm, durch das schattige Vestibül voran und weiter in die große Diele zu gehen. Durch Hunderte von Farbglasfenstern strömte das Licht herein und erfüllte den weitläufigen Raum mit sämtlichen Farben des Regenbogens. Alte Gemälde und Bildnisse zeigten ehrwürdige Mitglieder der Familie: Drood-Männer und -Frauen, sitzend und stehend in starren und formellen Posen, in Kleidung und Mode vergangener Jahrhunderte, die mit strengen, unbewegten Augen auf ihre Abkömmlinge hinausschauten.

Drood-Dienst und Drood-Tradition reichen einen langen Weg zurück, und keinem von uns wird jemals erlaubt, das zu vergessen. Bis wir am Ende der Diele angekommen waren, waren die Gemälde Fotografien gewichen. Von den ersten schattenhaften Bildern über Sepiatöne bis hin zu den grellen Farben moderner Zeiten starrten die gefallenen Toten stolz auf die Welt hinaus, die sie erschaffen hatten.

Ich blieb stehen, um ein Foto in einem Silberrahmen zu betrachten, und der Seneschall hielt widerwillig neben mir an. Auf dem Foto waren zwei Gesichter abgebildet, die ich wie mein eigenes kannte. Ein Mann und ein Frau standen nebeneinander, stolz aufgerichtet, wie es Droods geziemt, doch in ihrem Lächeln und in ihren Augen lagen eine unverkennbare Wärme und Zuneigung. Er war groß und elegant und gut aussehend, und das Gleiche traf auf sie zu, und jeder Zoll an ihnen sah nach den großspurigen Abenteurern aus, für die jedermann sie gehalten hatte: Charles und Emily Drood; mein Vater und meine Mutter. Ermordet auf einer Familienmission im Baskenland, als ich noch ein kleines Kind war. Als ich sie anschaute, so jung und voller Leben, wurde mir klar, dass ich jetzt älter war als sie zum Zeitpunkt ihres Todes.

Der Seneschall hielt sich schweigend dicht neben mir auf, machte mich durch seine Nähe auf seine Ungeduld aufmerksam, aber ich ließ mich nicht hetzen. Hallo, Papa, dachte ich. Hallo, Mama. Ich bin zurückgekommen. Aber sonst fiel mir nichts ein, also nickte ich ihnen bloß zu und ging weiter.

Schließlich führte mich der Seneschall in die Bibliothek, wo ich warten sollte, bis die Matriarchin bereit wäre, mich zu empfangen. Er neigte noch einmal den Kopf, sehr steif, und entfernte sich, wobei er die Tür fest hinter sich zuzog. Ich schnitt der geschlossenen Tür ein Gesicht und entspannte mich ein wenig. Mit dem Seneschall irgendwohin zu gehen kam einem immer so vor, als würde man mit einer Pistole im Rücken abgeführt. Ich schlenderte langsam durch die vielen, hoch aufragenden Bücherregale der Familienbibliothek und atmete die altvertrauten Gerüche der Ledereinbände, des Papiers, der Tinte und des Staubs ein. Auf diesen Regalen, in diesen Büchern, ist die wahre Geschichte der Welt festgehalten. All die geheimen Übereinkünfte und Verträge, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Versprechen und Treubrüche und all die geheimen Kriege, die hinter den Kulissen geführt werden und von denen normale Leute nie etwas erfahren. Die raffinierten Schachzüge auf dem unsichtbaren Brett, im größten Spiel von allen.

Hier im Herrenhaus kam ich auf die Welt, wurde ich großgezogen und ausgebildet, wie alle anderen Drood-Söhne und -Töchter, aber ich war einer der ganz wenigen, die sich je die Mühe machten, ein Buch zu lesen, das nicht Teil des offiziellen Lehrplans war. Ich entdeckte die Bibliothek, als ich zehn war, und danach war ich nicht mehr aus ihr draußen zu halten. Die Familie bringt einem bei, wovon sie glaubt, man müsse es wissen, und darüber hinaus nichts. Ich hingegen verschlang Bücher wie andere Leute Junkfood, und was die Familie als Bildung bezeichnete, betrachtete ich bald als Indoktrination. Ich wollte alles wissen, die reinen Fakten wie auch die Zusammenhänge. Und je mehr ich las, desto mehr wollte ich in die wirkliche Welt hinaus und sie sehen, wie sie wirklich war.

Lange Zeit konnte ich nicht verstehen, wieso das solch ein Problem für meine Lehrer war. Ich wurde dazu ausgebildet, das Böse zu bekämpfen, zu wissen, wer die wahren Feinde der Menschheit waren und wie man sie besiegte; also war es doch bestimmt umso besser, je mehr ich über sie wusste. Wann immer ich etwas infrage stellte, jedes Mal wurde mir gesagt, ich solle einfach die Klappe halten und weitermachen wie alle anderen auch, denn nur Leute, die älter und mir geistig überlegen seien, könnten das Große Bild sehen. Also las ich eben weiter und versuchte es auch zu sehen.

Das Problem mit der Drood-Familienbibliothek ist die verdammte schiere Größe von dem Ding. Meilen über Meilen von Bücherregalen und -brettern, die das gesamte untere Stockwerk des Südflügels einnehmen, jedes zum Bersten vollgepackt mit dem geballten Wissen und der gesammelten Weisheit von Jahrhunderten. Bücher, geschrieben in jeder Sprache unter der Sonne, und manche auch in Sprachen von dunkleren Orten, darunter ein paar derart arkane Dialekte, dass menschliche Stimmbänder sie nicht laut aussprechen können. Also las ich, was ich konnte, im Original, und setzte dem Bibliothekar unaufhörlich zu, bis er mir die Übersetzungen für diejenigen heraussuchte, bei denen ich das nicht konnte. Ein komischer Kauz, der Bibliothekar. Trug schreiend bunte Pullover, auch im Sommer, und ging jedes Wochenende Motocrossrennen fahren. Er verschwand plötzlich, Jahre bevor ich wegging. Wir haben nie herausgefunden, was ihm zugestoßen ist.

Ich wanderte ziellos durch die Regale und strich mit den Fingerspitzen leicht über die ledernen Buchrücken. Wir glauben an Bücher. Computerdateien können gehackt werden; Papier nicht. Der einzige Weg, Zugang zu den Informationen in dieser Bibliothek zu erhalten, ist, persönlich hierherzukommen. Und der einzige Weg, das zu tun, ist, Teil der Familie zu sein.

»Hallo, Eddie! Schön dich wiederzusehen!«

Ich drehte mich um, bereits ein Lächeln auf den Lippen, denn ich wusste, wer das war, wer es sein musste. Es gab nur ein lebendes Familienmitglied, das sich tatsächlich freuen würde, mich wiederzusehen. Mit großen Schritten kam Onkel James auf mich zu, um mich zu begrüßen, eine Hand ausgestreckt, um mir einen festen, männlichen Händedruck zu geben. Er sah fabelhaft aus, wie immer, perfekt ausgestattet mit dem stilvollsten dreiteiligen Anzug, der für Geld zu haben war, und sah vom Scheitel bis zur Sohle wie der verwegene Abenteurer aus, der er war. Onkel James war hochgewachsen, auf düstere Weise gut aussehend, mühelos elegant und sardonisch und in echt guter Verfassung für einen Mann in den Endfünfzigern. Sein auffälliges Gesicht hatte mehr als seinen gerechten Anteil an Charakterfalten, aber sein Haar war immer noch pechschwarz. Sein Begrüßungslächeln war breit und ungekünstelt, doch selbst mir gegenüber blieb eine Spur der eisigen Kälte, die seine Augen nie verließ.

James war mir immer das liebste Mitglied der Familie gewesen. Nachdem mein Vater und meine Mutter ums Leben gekommen waren, wurde James für mich das, was einem Elternteil am nächsten kam. Er nahm einen widerspenstigen, schweigsamen, verlorenen und introvertierten Jungen und gab ihm einen Grund zu leben. Er fand Sachen, die mein Interesse weckten und mich forderten, ermutigte mich in meiner Auflehnung und gab meinem Lernen ein Ziel: All die schlechten Menschen auf der Welt zu bekämpfen, die dafür verantwortlich waren, dass so viele Kinder zu Waisen wurden. Er brachte mich zurück aus mir selbst und ermöglichte es mir, wieder glücklich zu sein. Wenn ich jemals einen Helden hatte, dann war es Onkel James. Er war der Letzte der großen Abenteurer; er zog in den guten Krieg wie ein Verhungernder zu einem Festmahl. Er hatte die größte Erfahrung und mehr Aufträge erfolgreich durchgeführt als irgendein anderes Mitglied der Familie. Sein Rufname war ein Fluch auf den Lippen der Gottlosen, mit dem man Unterhaltungen in Bars und Spelunken auf der ganzen Welt zum Verstummen bringen konnte. Sie nannten ihn den Grauen Fuchs, und er verkörperte alles, was zu sein ich jemals anstrebte.

Er war auch der Erste, der mir riet, das Herrenhaus zu verlassen und meine eigenen Wege zu gehen, bevor das Beharren der Familie auf Pflicht und Tradition mir den Schwung nahm. Ich habe immer geglaubt, der einzige Grund, weshalb mir überhaupt erlaubt wurde, aus solcher Entfernung zu operieren, ist der, dass Onkel James sich bei der Matriarchin für mich eingesetzt hat. Nicht dass ich das jemals erwähnt hätte, selbstverständlich; es hätte ihn nur in Verlegenheit gebracht.

»Es ist schön, dich wiederzusehen, Onkel James«, sagte ich. »Zehn Jahre ist es jetzt her, und doch ist da seltsamerweise nicht eine Spur von Grau an deinen Schläfen …«

»Anständiges Leben und heftiges Trinken«, sagte er leichthin. »Du hast zugenommen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Steht dir.«

»Weißt du, weshalb man mich zurückgerufen hat?«, fragte ich unverblümt.

»Hab keinen Schimmer, Eddie. Ich bin nur zu einem kurzen Besuch zwischen zwei Missionen hier. Ein weiches Bett, eine gute Mahlzeit und ein Bummel durch die Weinkeller, bevor sie mich wieder fortschicken. Ich komme gerade vom Amazonas zurück, wo ich Dr. Delirium eine blutige Nase verpasst habe, und sobald ich hier ein paar Recherchen angestellt habe, bin ich auch schon wieder weg, um die Schattenboxer von Schanghai zur Schnecke zu machen. Du weißt ja, wie es ist; eine verdammte Sache nach der anderen.«

»Ich bin ja so neidisch!«, sagte ich und musste wider Willen grinsen. »Du kriegst immer die glamourösesten Aufträge; ich selbst durfte noch nicht ein einziges Mal auch nur außer Landes.«

Er zog eine Augenbraue hoch, während er sich mit seinem goldenen Feuerzeug mit Monogramm eine schwarze russische Zigarette anzündete. »Nun, du weißt, wieso das so ist, Eddie. Aber du leistest gute Arbeit. Die Leute bemerken das. Je mehr Aufträge du erfolgreich abschließt, desto mehr Vertrauen wirst du dir verdienen und desto mehr Leine werden sie dir geben.«

»Aber ganz von der Leine lassen werden sie mich nie, stimmt's? Ich werde nie frei von der Familie sein.«

»Warum solltest du das auch wollen? Du bist Teil des wichtigsten Erbes auf der Welt.« James blickte mir direkt und sehr ernst in die Augen. »Als Drood geboren zu werden, ist ebenso ein Privileg wie auch eine Verantwortung. Wir erfahren die Wahrheit darüber, wie die Dinge wirklich sind, und uns bleibt es überlassen, die Kämpfe zu bestreiten, auf die es wirklich ankommt. Und wenn wir dafür von allem das Beste bekommen, dann geschieht das deshalb, weil wir es verdient haben. Und alles, was die Familie je verlangt hat, ist Loyalität.«

»Wir sind schon bei unserer Geburt für einen Krieg ausgewählt, der niemals endet«, erwiderte ich und hielt seinem Blick entschlossen stand. »Und die meisten von uns lassen ihr Leben in diesem Krieg, fernab der Familie und der Heimat. Manche von uns lernen nie ihre Eltern kennen und manche Eltern nie ihre Söhne. Ich weiß: Es ist eine Ehre zu dienen. Aber ich wäre gern gefragt worden.«

Und das war der Moment, in dem Generalalarm geschlagen wurde, so als ob sämtliche Glocken und Sirenen der Welt auf einmal losgingen. Wie ein Mann drehten James und ich uns um und rannten zurück durch die Bibliothek. Wir stürmten auf den Gang hinaus und hätten um ein Haar den Seneschall über den Haufen gerannt, der an uns vorbeistürzte, eine Waffe in jeder Hand. James packte ihn an der Schulter, zerrte ihn herum und brachte ihn zum Stehen, während Familienmitglieder aus allen Richtungen angelaufen kamen.

»Es ist das Herz!«, schrie der Seneschall, riss sich los und raste den Gang hinunter. »Es ist ein Angriff aufs Sanktum!«

Er brauchte nicht mehr zu sagen; James und ich stürmten bereits mit voller Geschwindigkeit hinter ihm her. James hatte jetzt ebenfalls in jeder Hand eine Pistole. Und alles, was ich hatte, war mein Nadelrevolver. Ich zog ihn nicht; ich war mir ziemlich sicher, dass gefrorenes Weihwasser diesmal nicht genug sein würde. Das Herz war die Quelle der Macht der Familie. Seine gespeicherte Energie machte all unsere Zauber und Superwissenschaften möglich, einschließlich der lebenden Rüstung, auf die wir alle angewiesen waren. Aber das Sanktum, der große Raum, der das Herz enthält, war der mit Abstand am besten verteidigte und beschützte Teil des Herrenhauses. Er sollte eigentlich unverletzlich, unantastbar sein. Ein direkter Angriff auf das Herrenhaus war selten genug; ein Angriff auf das Herz war noch nie da gewesen, war undenkbar.

James und ich rannten weiter, stürmten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch Gang um Gang, wobei wir beide regelmäßig atmeten, wie man es uns beigebracht hatte, damit uns nicht die Luft ausging. Immer mehr Familienmitglieder kamen von überall her angerannt und stießen zu uns, Männer und Frauen mit schockierten, angespannten Gesichtern und allen möglichen Waffen in der Hand. Junge und Alte, Kämpfer und Forscher und sogar diensthabendes Personal; Leute, die eigentlich nie hätten gebraucht werden dürfen, in Anbetracht der garantierten Sicherheit des Herrenhauses.

Wir näherten uns jetzt dem Sanktum im Zentrum des Herrenhauses von allen Seiten. Ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten. Es lag ein Druck, eine Präsenz in der Luft, wie der kalte Schatten eines Ortes, wo schlimme Dinge geschehen waren. Etwas Großes ist im Anmarsch, so hatte der alte Jacob gesagt. Etwas Großes … Etwas Schlimmes. Und es war nahe jetzt. Sehr nahe.

Onkel James und ich holten den Seneschall ein, als er gerade durch die große Doppeltür ins Sanktum platzte, und da war das Herz: Ein einzelner, riesiger Diamant, der wie die Sonne strahlte, so groß, dass er das gewaltige Zimmer ausfüllte, das die Familie zu seiner Aufbewahrung und zu seinem Schutz errichtet hatte. Ein Diamant größer als ein Bus, eine Million Facetten so schimmernd und gleißend, dass keiner von uns ihren direkten Anblick aushalten konnte. Der Raum war erfüllt von seinem Licht, und das Sanktum zu betreten war, als stürze man sich in eiskaltes Wasser. Es nahm einem den Atem, es war wie ein Schock für die Seele. Das Herz loderte mit einem jenseitigen Licht, das die Macht, die die Arbeit unserer Familie ermöglichte, bewahrte und nutzbar machte. Ein Licht oder eine Energie, eine Wissenschaft oder eine Zauberei - auch nach all den Jahrhunderten, die es bei uns war, waren wir seinem Verständnis nicht näher gekommen.

Das Herz war von mächtigen Schutzvorrichtungen umgeben. Ich konnte sie spüren, als ich mich ins Sanktum drängte, wie sie auf die schimmernde Luft einhämmerten. Manche aus der Familie konnten sich nicht einmal dazu bringen, den Raum zu betreten. Doch noch immer kreischten die Glocken und Sirenen und riefen die Familie herbei, um das Herz gegen einen Angriff von jemand oder etwas unglaublich Mächtigem zu verteidigen. Nur die schrecklichsten unserer Feinde würden es wagen, einen so unverfrorenen Überfall zu starten. Langsam umkreiste ich den gigantischen Diamanten, einen Arm vor den Augen, um mich vor der überwältigenden Grelle zu schützen. Das Licht schien sich direkt durch mein schwaches Fleisch zu brennen, wie ein Röntgenstrahl. James war bei mir und der Seneschall, und ich fühlte es ebenso, wie ich es sah, wie andere Familienmitglieder sich langsam um das Herz herumbewegten und verzweifelt nach irgendeiner Spur des Feindes suchten.

Mein Nadelrevolver lag jetzt doch in meiner Hand. Ich hatte nicht viel Vertrauen darin, aber allein sein Vorhandensein gab mir ein besseres Gefühl. Ich hatte nicht hochgerüstet; keiner von uns hatte das. Wir dachten alle immer noch im Sinne von Bedrohungen für die Sicherheit des Herzens. Dass wir in Gefahr sein könnten, dieser Gedanke kam uns nicht einmal. Dies war das Herrenhaus, und wir waren hier immer sicher gewesen.

Ich spürte, wie sich etwas näherte, aus einer Richtung, die ich wahrnehmen, aber nicht benennen konnte. Es war eine Präsenz, etwas derart Ungeheures und Fremdartiges und völlig anderes, dass seine schreckliche Natur tatsächlich das Herz verfinsterte und überwältigte. Es kam näher und näher, strengte sich bis zum Äußersten an, im Inneren des Sanktums zu materialisieren, versuchte sich aus irgendeiner anderen Dimension der Realität gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Es schien sich aus allen Richtungen gleichzeitig an uns heranzuarbeiten, und die bloße Empfindung davon war wie Scheiße, die über meine Seele geschmiert wurde. Wie ein Berg von Maden oder das Lächeln, dass die Rasierklinge hinterlässt, wenn sie durch das Handgelenk des Selbstmörders schneidet. Es war über uns, und es hasste uns, einfach weil wir Menschen waren.

Die holzvertäfelte Wand links von mir knarrte laut, als sie sich nach innen wölbte und das alte Holz sich unglaublich dehnte, aus der Form gezwungen von einem unsagbaren Druck von außerhalb unserer dreidimensionalen Wirklichkeit. Der Fußboden hob sich in seiner Mitte wie ein monströses Geschwür, und die Decke beulte sich nach unten. Sämtliche Wände ächzten und knarrten jetzt protestierend, verformten sich nach innen auf das Herz zu. Etwas erzwang sich seinen Weg ins Sanktum, aus irgendeiner höheren oder niedrigeren Dimension, von irgendeinem Ort, den zu verstehen wir nicht einmal hoffen durften. Und eine nach der anderen zersprangen all die vielen Schichten der Schutzvorrichtungen, die die Familie um das Herz herum errichtet hatte, und flogen auseinander wie billige Feuerwerkskörper.

Inzwischen waren Familienzauberer im Raum, scharten sich um das Herz, leierten Zaubersprüche und schwenkten uralte Talismane und versuchten, neue Verteidigungsparameter aufzustellen. Direkt neben ihnen arbeiteten Familienwissenschaftler, bedienten esoterische Konstruktionen bizarrer Technologie, von denen manche aussahen, als ob sie geradewegs aus den Versuchslaboren hergeschleppt worden seien. Alle Arten von Energiefeldern knisterten in der Luft, aber noch immer umgab uns die furchtbare Präsenz und stieg von überall her zugleich auf uns herab.

Und schließlich brach es durch. Etwas war plötzlich einfach da im Raum bei uns - oder vielmehr, Nichts war da. Da war eine Lücke, eine Abwesenheit, eine entsetzliche Leere, die einfach vor dem Herzen in der Luft hing. Ich konnte sie nicht sehen oder hören, aber ich konnte sie spüren auf einer Ebene, die nichts mit Sinnen zu tun hatte. Es war, als ob irgendein schrecklich altes, vielleicht sogar vormenschliches Stück meines Selbst sie wiedererkannte. Ein Mahlstrom des Geistes; ein Loch in der Realität selbst. Es pulsierte wie ein großes, bösartiges Herz, und dann streckte es sich aus und saugte den Familienmitgliedern, die ihm am nächsten waren, einfach das Fleisch vom Leib.

Innerhalb eines Moments verloren wir ein Dutzend Männer und Frauen, denen Haut und Fleisch von den Knochen gerissen wurden; ganze Organe flogen durch die Luft und in die Leere, um einen Körper zu erschaffen, ihr Aussehen und Form in dieser Welt zu geben. Der blutige Brei aus Organen und Muskeln klatschte zusammen, Fleisch knallte auf Fleisch, baute einen Körper, dessen Gestalt keinen Sinn ergab, um das furchtbare Wesen unterzubringen und zu beherbergen, das sich vom Draußen gewaltsam Einlass verschafft hatte. Blutige Knochen lagen über den Boden verstreut, verschmäht, zusammen mit einem Dutzend goldener Torques. Überall waren Leute am Würgen und Kotzen, während sie gleichzeitig zurückwichen.

»Rüstung hoch!«, brüllte James. »Alle! Sofort!«

Wir sprachen alle innerlich die Worte, und lebende Rüstung umhüllte uns, golden und prächtig, und riegelte uns hermetisch vor dem Sog der Leere ab. Zum ersten Mal fühlte ich mich wieder geistig gesund und menschlich, eines klaren Gedankens fähig, mein Geist nicht länger besudelt von der Anwesenheit des Wesens vor uns. Wo die Leere gewesen war, hatte eine gewaltige neue Kreatur Gestalt angenommen. Sie sah aus, als ob sie aus Krebsgeschwülsten bestünde, wie Form gewordene, boshafte Krankheit und Tod. Sie war scharlach- und purpurrot mit hervorquellenden dunklen Adern, und sie glänzte nass. Ungleichmäßige Reihen menschlicher Augen starrten reglos aus einer schwammigen Substanz, die vielleicht als Gesicht gedacht sein mochte. Sie ragte bis zur gewölbten Decke empor, groß wie zehn Männer; so etwas Ähnliches wie Gliedmaßen ging strahlenförmig von ihrer zentralen Masse aus, aber Form und Dimensionen und Attribute des Wesens ergaben überhaupt keinen Sinn. Ich merkte, wie seine Aufmerksamkeit sich von der Familie ab- und dem Herzen zuwendete, und ich spürte eine schreckliche Gefühlswallung in der Gestalt, die Wut oder Hunger oder das Bedürfnis zu schänden sein mochte. Sie bewegte sich auf das Herz zu, wogte vorwärts wie eine Schnecke, und das Licht des großen Diamanten schien zu flackern und abzunehmen, nur durch die Nähe des Wesens.

»Haltet es auf!«, schrie James. »Es darf das Herz nicht berühren!«

Der Seneschall hatte schon das Feuer eröffnet und ballerte mit beiden Pistolen gleichzeitig drauflos. James ging mit großen Schritten nach vorn und pumpte die blutige Gestalt aus nächster Nähe mit Kugeln voll, und ich war direkt bei ihm und schoss mit meinem Nadelrevolver. Alle anderen im Sanktum eröffneten das Feuer auf die Masse mit allem, was sie an Waffen hatten, drängten unter Missachtung ihrer eigenen Sicherheit vorwärts, um das Herz zu beschützen. Zauberer entfesselten Flüche und Verdammungen und Wissenschaftler schossen seltsame Energien aus noch seltsameren Waffen ab … und nichts davon nützte etwas. Die blutige Gestalt absorbierte unsere Kugeln und alles andere mit derselben Gleichgültigkeit, schob sich langsam, aber unerbittlich weiter auf das Herz zu. Goldgepanzerte Hände, die Mauern durchschlagen oder Stahl zertrümmern konnten, hieben wild auf die fleischige Masse ein, und sie ignorierte uns einfach. Ein gepanzerter Mann stellte sich ihr trotzig in den Weg. Die scharlachrote Form saugte ihn ein und spie ihn auf der anderen Seite wieder aus. Er zappelte schwach auf dem Boden herum und schrie wie die frisch Verdammten.

Ich packte James am Arm und brachte ihn dazu, mich anzusehen. »Ruf sie weg! Auf dich werden sie hören. Ich habe eine Idee!«

Er blickte mich an, dann nickte er knapp und befahl der Familie den Rückzug. Augenblicklich wichen alle zurück. Sie vertrauten James, wo sie mir fast sicher nicht vertraut hätten. James schaute mich erwartungsvoll an. Ich griff durch die Seite meiner Rüstung, zog die tragbare Tür aus der Tasche, aktivierte sie und warf sie in die Bahn der blutigen Kreatur, während sie vorwärtswogte, genau wie ich es bei dem Hyde im Wolfskopf getan hatte. Die tragbare Tür rutschte sauber an die anvisierte Stelle, zündete, stotterte ein paarmal und lag dann einfach inaktiv da: Ich hatte sie zu oft benutzt; die Batterien waren leer.

James schaute mich immer noch an. Hinter der glänzenden goldenen Maske konnte ich sein Gesicht nicht sehen, aber ich konnte seinen Ausdruck erraten. Er hatte mir vertraut, und ich hatte ihn enttäuscht. Ich sah wieder auf die Gestalt: Sie war jetzt fast über dem Herzen. Ich dachte angestrengt nach, schaute mich verzweifelt im Sanktum um auf der Suche nach einer Eingebung, und dann fiel mein Blick auf das Dutzend Torques, die verlassen auf dem Boden lagen, zurückgeblieben, als ihre Besitzer ihres Fleischs beraubt worden waren, um die blutige Gestalt zu erschaffen. Ich machte einen Satz nach vorn, packte eine Hand voll der goldenen Halsreifen, hob meine goldene Faust und schlug die Torques direkt durch die dunkel geäderte, kanzeröse Seite der Kreatur. Ich presste sie tief in die Masse hinein, ließ die Torques los und versuchte dann, meine Hand zurückzuziehen - aber sie steckte fest.

Eine entsetzliche Kälte, des Geistes ebenso wie des Körpers, kroch an meinem Arm hoch. Ich glaube, ich schrie auf. Und dann war James an meiner Seite und zog mit all seiner Kraft an meinem eingeklemmten Arm. Einen schrecklich langen Moment lang reichte nicht einmal unsere vereinte Stärke, und dann kam meine Hand mit einem Ruck aus der blutigen Masse, und James und ich taumelten zurück. Ich brüllte laut die Worte, die die lebende Rüstung aktivierten, jene Worte, die wir normalerweise immer nur innerlich sprechen, und die fünf Torques im Inneren der blutigen Gestalt aktivierten sich. Alle auf einmal.

Im Inneren der krebsigen, fleischigen Masse taten die Torques das, worauf sie programmiert waren: Sie identifizierten ihre Besitzer - oder in diesem Fall das, was noch von ihnen übrig war - und schlossen sie in lebender Rüstung ein. Goldene Scherben brachen aus der roten und purpurnen Gestalt hervor und schnitten sie in Stücke. Die blutige Masse setzte sich zur Wehr, kämpfte darum, die Einheit der Form, die sie angenommen hatte, aufrechtzuerhalten, aber die Fortschritte der Torques waren unaufhaltsam. Einmal in Gang gesetzt, konnte ihre Verwandlung von nichts und niemandem aufgehalten werden. Die blutige Gestalt brach zusammen, und ein lautloses Wutgeheul erfüllte einen Moment lang unser aller Köpfe, als das Wesen von Draußen aus dem Sein gezerrt wurde und seine Gewalt über unsere Realität abriss. Auf dem Boden vor dem Herzen, in schrecklicher, unnatürlicher Haltung, lagen fünf goldene Rüstungen, umringt von blutigen Fleischstücken. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was diese Rüstungen enthielten.

Das bedrückende Gefühl der eindringenden Präsenz war verschwunden. Die Glocken und Sirenen verstummten abrupt, und eine gesegnete Stille senkte sich über das Sanktum. Einer nach dem anderen rüsteten wir ab, goldene Gestalten machten Männern und Frauen mit schockierten, traumatisierten Gesichtern Platz. James klopfte mir auf die Schulter.

»Gut gemacht, Eddie! Guter Einfall!«

Langsam und hintereinander begannen die Leute aus dem Raum zu marschieren. Das Herz war sicher. Alle gingen wieder an ihre normalen, alltäglichen Aufgaben zurück. Manche standen unter Schock; manchen musste geholfen werden. Manche waren unverhüllt wütend oder verängstigt, weil das Herrenhaus nicht länger der sichere Ort war, der es früher immer gewesen war. Manche jammerten über den Verlust von Freunden oder Geliebten. Man konnte es ihnen nicht verübeln. Die meisten in der Familie bekommen nie praktische Arbeit zu sehen, nie irgendeine Art von Taten, sehen nie das Blut und das Leiden und den Tod, der im Kern dessen liegt, was die Droods tun und sind. Heute Nacht würde es in den vier Flügeln viele Schlaftabletten und schlechte Träume geben.

Der Seneschall hatte sich schon ein paar der hartgesotteneren Gemüter geschnappt und an die Arbeit gesetzt, und das Aufräumen hatte begonnen. Er sah mich nicht einmal an. Ich mochte gerade die Lage und das Herz und möglicherweise die ganze Familie gerettet haben, doch er traute mir nach wie vor nicht. Und keiner der anderen gratulierte mir, als sie gingen. Auch von ihnen sah mich kaum einer an. Keiner wollte gesehen werden, wie er mit mir sprach, wollte nicht einmal dem Mann zu nahe kommen, der der Familientradition und -verantwortung den Rücken gekehrt hatte, für den Fall, dass etwas von meiner Unabhängigkeit auf sie abfärbte. James legte Wert darauf, neben mir zu stehen; seine Hand lag noch auf meiner Schulter.

Den Grauen Fuchs respektierten alle.

* * *

Endlich verließen wir gemeinsam das Sanktum und traten auf den Gang hinaus. Kaum hatten wir den Gestank von Blut und Fleisch und Eingeweiden hinter uns gelassen, entfalteten die altvertrauten Gerüche nach Holz und Politur und frischen Blumen ihre stärkende Wirkung. Ich atmete tief ein und bekam wieder einen klaren Kopf. Die uralten, soliden Mauern, deren lange Geschichte von Dienst und Tradition erzählte, wirkten dieses eine Mal tatsächlich beruhigend.

»Dieser Angriff ist ohne Präzedenz!«, sagte James. Er sprach zwar mit gesenkter Stimme, während wir gingen, aber dennoch lag eine kalte Wut darin, die beunruhigend nah an der Oberfläche war. »Nicht nur hat sich etwas mir nichts, dir nichts den Weg durch die Verteidigungsanlagen des Herrenhauses gebahnt, und durch die des Herzens - es hat auch tatsächlich Droods umgebracht! Direkt hier inmitten der Familie! Das ist noch nie da gewesen! Wir sollten hier eigentlich sicher sein, geschützt vor allen Bedrohungen und Gefahren.«

»Das ist noch nie da gewesen?«, vergewisserte ich mich. »Ich meine, niemals?«

James sah mich einen langen Moment an, als ob er sich entscheiden müsste, wie weit er mir eigentlich vertraute. »Es hat zwei frühere Angriffe auf das Herz gegeben«, sagte er schließlich so leise, dass ich mich anstrengen musste, um ihn zu verstehen. »Niemand wurde verletzt, und keiner der Angriffe kam so nah heran, aber dennoch …«

»Jesus! Kein Wunder, dass die Matriarchin sich damit beschäftigt hat, die Verteidigungsanlagen des Herrenhauses aufzumöbeln …«

James blickte mich merkwürdig an. »Woher weißt du das, Eddie?«

»Ich habe kurz mit dem alten Jacob gesprochen. Ihm entgeht nicht viel.«

»Ah, ja. Natürlich. Du hast diesen widerlichen alten Taugenichts ja schon immer gemocht. Du musst das verstehen, Eddie. Das Herrenhaus war, seit wir hier eingezogen sind, immer ein sicherer Hort. Niemand war je in der Lage, unsere Verteidigungsanlagen zu knacken, geschweige denn tatsächlich das Herz zu bedrohen. Es ist nur eine Antwort möglich - ein Spitzel. Ein Verräter in der Familie, der die Geheimnisse unserer Schutzvorrichtungen preisgibt.«

Ich war so schockiert, dass ich abrupt stehen blieb und ihn mit offenem Mund anglotzte. In der Vergangenheit waren Familienmitglieder weggegangen oder waren als aus der Art geschlagen erklärt und vertrieben worden, aber keiner war jemals zum Verräter geworden und hatte von innen daran gearbeitet, uns an unsere Feinde zu verraten … Es war undenkbar.

»Ist das der Grund, weshalb mir alle so auffällig die kalte Schulter zeigen?«, fragte ich schließlich. »Bin ich deshalb zurückgerufen worden?«

»Ich weiß es nicht, Eddie. Die Matriarchin … hat mich nicht so ins Vertrauen gezogen wie sonst. Also: Halt die Augen auf, solange du hier bist. Paranoia erzeugt Misstrauen. Falls nämlich die Familie ihren Verräter nicht identifizieren kann, werden sie sich womöglich einfach einen ausgucken.«

Wir gingen zusammen weiter, zurück durch die vielen Zimmer und Korridore des Herrenhauses, vorbei an großartigen Kunstwerken, die wir alle einfach als selbstverständlich betrachteten. Rembrandts. Goyas. Schalckens. Das Herrenhaus ist vollgestopft mit unbezahlbaren Gemälden und Skulpturen und wertvollen Dingen, gestiftet über die Jahrhunderte von Prinzen und Mächten und Regierungen. Sie waren immer ausgesprochen dankbar für alles, was die Familie für sie tat. Und dann waren da noch die Zurschaustellungen von Waffen und all der anderen Kriegsbeute, die wir angehäuft haben. Die Familie ist vielleicht nicht besonders sentimental bezüglich ihrer Vergangenheit, aber sie wirft niemals etwas Nützliches weg.

»Jemand testet uns«, sagte James nach einer Weile. »Testet die Informationen seines Verräters, probiert, wie weit er kommen kann, bevor wir ihn aufhalten. Aber wer? Die Umgehenden Leichentücher? Die Abstoßenden Abscheulichen? Das Kalte Eidolon? Die Alraunenwiedervereinigung?« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Es gibt so viele davon - und so wenige von uns.« Und dann lächelte er mich an, mit seinem alten Sollen-sie-doch-alle-zur-Hölle-fahren-Lächeln, und klopfte mir nochmal auf die Schulter. »Lass sie nur kommen! Lass sie alle kommen! Wir sind Droods, und wir sind dazu geboren, in übernatürliche Ärsche zu treten. Richtig?«

»Verdammt richtig!«, sagte ich.

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