Kapitel Zehn Besuch beim Mittelsmann

Mein nächster Halt war Shaftesbury Avenue, tief im geschäftigen Herzen Londons. Ich war auf der Suche nach dem legendären Mittelsmann. Shaftesbury Avenue ist eine lange Straße in zwei Teilen. Geht man in die eine Richtung, sieht man lauter Nobelrestaurants, Luxushotels und Theater mit alten und sogar berühmten Namen. (Bedauerlicherweise prahlte eins dieser ehrwürdigen Etablissements gegenwärtig mit einem mächtigen Banner, auf dem die nächste große Show verkündet wurde: Jerry Springer, die Oper - On Ice. Wie sind die Helden gefallen; aber alles ist recht, wenn es die Touristen anlockt.) Geht man in die andere Richtung, sieht man lauter billige Lokale, Wettbüros und Videotheken für Erwachsene mit Puffs für Laufkundschaft im Dachgeschoss. Die Art von Orten, wo einem eine an die Tür geheftete Karte die günstige Verfügbarkeit der schönen Vera anzeigt. Was sie einem nicht anzeigt, ist, dass es eigentlich drei schöne Veras gibt, die in Acht-Stunden-Schichten arbeiten, weshalb das Bett auch immer warm ist. Nicht zu vergessen die Kellerclubs, wo dünn bekleidete und dick geschminkte Animierdamen einen dazu ermuntern, überteuerten ›Champagner‹ für das Privileg ihrer Gesellschaft zu kaufen. Allerdings sind es heutzutage fast nur noch die Touristen aus dem Ausland, die darauf reinfallen.

Ich war dem Mittelsmann zuvor noch nie begegnet, aber jeder wusste, dass man ihn genau in der Mitte der Shaftesbury Avenue finden konnte, wo das Gute auf das Schlechte trifft und sich oft zu etwas herrlich Sündigem vereinigt. Ich war ziemlich sicher, dass der Mittelsmann etwas Brauchbares wissen würde, falls ich ihn dazu bringen konnte, mit mir zu reden. Der Mann war viel herumgekommen, auf und hinter der Bildfläche, von den Sechzigern an, und er kannte jeden, Gute und Böse und besonders die dazwischen. Sein großes Können und seine große Leidenschaft war das Zusammenbringen von Leuten zum gegenseitigen Nutzen. Wenn man einmal eine geheime Verschwörung plante oder einen bewaffneten Raubüberfall, der größer als gewöhnlich ausfallen sollte, oder auch einfach nur eines Tages die Welt übernehmen wollte: Der Mittelsmann konnte einen mit allen Arten von Spezialisten in Berührung bringen, die man dazu brauchte. Er konnte Zusammenkünfte arrangieren, ein Team von gleichgesinnten Profis zusammenstellen oder jeden Schritt eines Mordanschlags organisieren. Gegen eine Provision. Man hatte nie gehört, dass er sich selbst die Hände schmutzig gemacht hätte oder ein Risiko eingegangen wäre, das nicht bis ins Kleinste kalkuliert war. Was immer passierte, man konnte sich darauf verlassen, dass immer für mehr als genug Sicherungen gesorgt war, sodass nichts jemals zurückkam und an seiner Tür haften blieb. Es hieß, der Mittelsmann sei derzeit, nach so vielen arbeitsamen Jahren, so unfassbar reich, dass er es nicht mehr des Geldes wegen tun musste. Er tat es ausschließlich der Herausforderung und des Nervenkitzels wegen.

Man findet den Mittelsmann hinter einem schäbigen, absichtlich heruntergewirtschafteten Thairestaurant. Von außen sieht es auf entschlossene Weise abstoßend schmutzig und unappetitlich aus, die Art von Lokal, mit dem es nur ein wahrhaft verzweifelter oder naiver Tourist versuchen würde. Tatsächlich bedeuten die Thaiworte über der Tür angeblich: Verpiss dich, Ausländer, und nimm deine lächerlich aussehenden Augen mit dir mit! Ich spähte durch das mit Fliegendreck übersäte Fenster ins Innere, vorbei an der nicht zu entziffernden Pappspeisekarte, und war nicht überrascht festzustellen, dass das Restaurant völlig leer war, und das zu einer Zeit des Abends, wo es am vollsten hätte sein sollen. Die wackligen Tische waren mit Resopal überzogen, die Stühle aus billigem Plastik und in keiner Weise sauber und der Linoleumfußboden unbeschreiblich. Irgendwie wusste ich genau, wer so töricht oder tapfer war, dieses Lokal zu betreten, würde nicht das kriegen, was er bestellte, und wenn er trotzdem versuchte es zu essen, würde das Personal sich aus der Küchentür hinauslehnen, kichern und einander mit den Ellbogen anstoßen und sich zuraunen: Guck dir das an! Er isst es tatsächlich!

Das Restaurant ist nicht dafür vorgesehen, dass jemand hier isst. Es ist bloß eine Fassade für den Mittelsmann. Selbst die Angestellten gehen sich ihr Essen woanders holen.

Ich nahm den Kopf tief herunter, damit niemand mein Gesicht erkennen konnte, knallte die Tür auf und ging mit forschen Schritten hinein. Ich ignorierte das überraschte Thaipersonal und steuerte geradewegs auf die Küchentür im hinteren Teil des Gastraums zu. Die Kellner waren zu verblüfft, um mich aufzuhalten, und zeigten erst eine Reaktion, als ich die Tür aufstieß. Ich hörte ihre Schreie hinter mir, als ich in die Küche marschierte, als ob ich gekommen sei, um sie für gesundheitsschädlich zu erklären, und dann rüstete ich hoch und setzte die Tarnkappenfunktion außer Funktion. Das Küchenpersonal warf einen Blick auf mich in meiner goldenen Rüstung und wich mit bestürzten Schreien zurück wie ein Haufen aufgescheuchter Vögel. Hinter mir kamen die Kellner, die sich mit Messern und Beilen bewaffnet hatten, in die Küche gestürzt, nur um ruckartig stehen zu bleiben, als ich mich ohne Eile umdrehte und sie anblickte. Der Ruf meiner Familie reicht sehr weit. Der Oberkellner legte ein Fleischermesser weg und bedeutete allen anderen, die Waffen zu senken.

»Ich hab die Schnauze voll!«, sagte er mit unverkennbarem East-End-Akzent. »Marcus zahlt uns nicht genug, um uns mit einem Drood anzulegen. Sie wollen den Mittelsmann sehen, Goldjunge? Folgen Sie mir!«

Er führte mich durch die überraschend saubere und ordentliche Küche, dieweil das Thaipersonal mit Mienen, die nicht im Geringsten unergründlich waren, meinen Abmarsch verfolgte. Es gibt Orte, wo Blicke töten können, aber das hier war zum Glück keiner davon. Der Oberkellner brachte mich hinten aus der Küche heraus und ging mit mir durch einen langen, schmalen Flur mit so gedämpftem Licht, dass er ausgesprochen düster war. Der Teppich war blutrot und die tiefvioletten Wände schienen einen von beiden Seiten zu erdrücken. Die ausgestopften Köpfe verschiedener Tiere, die daran angebracht waren und von überall auf einen herabstarrten, Großkatzen und afrikanische Wildtiere hauptsächlich, stellten die einzige Dekoration dar. Die Augen in den Köpfen bewegten sich langsam und folgten mir, als ich vorüberging. Nun, ich bin bizarre Scheiße gewohnt; schließlich bin ich im Herrenhaus aufgewachsen. Aber etwas an diesen Augen brachte mich echt aus der Fassung.

»Lassen Sie mich raten«, sagte ich lässig zu meinem Führer. »Wenn ich auf die Idee kommen sollte, irgendwelchen Ärger zu machen, dann sagen Sie einfach das Wort, und die Tiere, die an diesen Köpfen hängen, kommen plötzlich durch die Wände gekracht und gehen auf mich los, stimmt's?«

Der junge Thaikellner sah mich merkwürdig an. »Nein«, antwortete er. »Es sind nur Dekostücke. Der Boss hat sie als Ramschware gekauft, um den Ort ein bisschen freundlicher zu gestalten.«

»Tut mit leid«, sagte ich. »Liegt an der Gesellschaft, in der ich mich in letzter Zeit aufhalte.«

* * *

Wir erreichten das Ende des Flurs, und er klopfte kurz an die einzige Tür, ehe er sie öffnete und zurücktrat, um mich hineinzuführen. Ich trat ein, und sofort schloss er die Tür wieder von außen. Ich nahm es nicht persönlich. Der Raum war mehr als ausreichend groß, äußerst luxuriös, beinah dekadent. Dicke Teppichböden, Polstermöbel, überall Draperien und Zierkissen. Noch mehr gedämpftes Licht, aber nicht mehr düster, sondern gemütlich. In der Luft der süße Duft von Rosenöl und eine Andeutung von Opium. Und dort, auf dem großen kreisrunden Bett, gelehnt gegen ein halbes Dutzend Kissen, lag der Mittelsmann persönlich, Marcus Middleton. Er lächelte mich auf eine resignierte Weise an, machte jedoch keine Anstalten, sich zu erheben.

Er trug einen modisch geschnittenen grünen Seidenpyjama und nippte an einer schlanken Champagnerflöte; dazu rauchte er ein schlankes, schwarzes Zigarillo, das in einer langen Elfenbeinspitze steckte. Tiefschwarzer Nagellack brachte seine langen, schlanken Finger besser zur Geltung. Er war hinlänglich gut aussehend, auf eine reife und verdorbene Art und Weise, mit glatt anliegendem schwarzem Haar, überraschend subtilem Make-up und sanften braunen Augen, die wirklich alles schon gesehen hatten. Er musterte mich einen Moment lang und winkte mich dann mit einem vagen Lächeln und einer matten Geste heran. Ich trat zum Fuß des Bettes hin und sah ihn an.

Das Bett war von Dutzenden von Telefonen umgeben, alle bequem in Reichweite, in einer Vielzahl von Stilen von viktorianischer Gotik bis hin zum unverblümt Futuristischen. Dazwischen befand sich eine nette Sammlung von Kristallkugeln, Zauberspiegeln und sogar eine Wahrsagelache in einem Nachttopf. Wenigstens hoffte ich, dass es eine Wahrsagelache war. Der Mittelsmann schickte sich an, etwas zu sagen, wurde aber vom plötzlichen Klingeln eines seiner Telefone gestört.

»Entschuldigen Sie, guter Junge«, sagte er gelassen. »Aber ich muss das entgegennehmen. Machen Sie es sich doch bequem!«

Er winkte mich zu einem Sessel hin, aber ich lehnte ab und blieb gegenüber von ihm stehen, meine goldenen Arme vor meiner goldenen Brust verschränkt. Es ist schwer, im Sitzen grimmig und imposant auszusehen, und ich brauchte jeden psychologischen Vorteil, den ich kriegen konnte. Der Mittelsmann seufzte theatralisch, schnippte etwas Asche von seinem Zigarillo über die Bettkante und hob ein Siebzigerjahre-Trimphone in kotzgelbem Plastik ab.

»Oh, hallo, Tarquin; was kann ich für dich tun? Zwerge … Also wirklich, Herzchen, ich habe dir erst letzte Woche gesagt, dass es eine Verknappung geben würde … Sie arbeiten alle bei diesem geschmacklosen neuen Fantasyfilm mit, den sie in den Elstree-Studios drehen. Und machen gutes Geld damit, wie ich gehört habe. Bist du sicher, dass du dich nicht mit Kobolden abfinden könntest? Bei einer Gruppenbuchung könnte ich dir einen richtig guten Preis machen … Müssen Zwerge sein. Ich verstehe. Na schön, überlass es mir, Schätzchen, und ich will sehen, was ich für dich tun kann.«

Er legte das Trimphone in anmutigem Bogen und einem Wirbel seines grünen Seidenärmels auf und blickte mich dann einen langen Moment lang an, während er noch einen Schluck Champagner nahm und einen tiefen Zug an seinem Zigarillo tat. Falls ihn meine Rüstung beeindruckte, so brachte er es wirklich gut fertig, sich nichts anmerken zu lassen.

»Nun, hallo!«, sagte er schließlich und beehrte mich mit einem verschmitzten und entschieden selbstzufriedenen Lächeln. »Und welchen kleinen Drood haben wir hier?«

»Ich bin Edwin«, sagte ich schroff, »der neue Vogelfreie.«

»Wirklich? Wie aufregend … Es ist schon so lange her, dass jemand einen von euch auf die schiefe Bahn führen konnte. Kann ich Sie auch zu etwas verführen? Ich hätte ausgezeichneten Belugakaviar, oder vielleicht ein wenig marsianisches Rotgras? Raucht sich wie Samt … Nein? Es muss doch etwas geben, was ich Ihnen anbieten kann, damit Sie sich ein bisschen entspannen und mehr wie zu Hause fühlen. Wie wäre es, wenn ich ein hübsches Thaimädel oder einen Thaijungen hereinriefe?«

»Ganz bestimmt nicht!«, sagte ich. »Ich bin geschäftlich hier.«

»Wie überaus langweilig!« Der Mittelsmann zog vernehmlich die Luft ein. »Typisch Drood; ihr Leute wisst einfach nicht, wie man sich amüsiert. Es war wohl zu verwegen zu hoffen, Sie könnten aus Ihrer ekelerregend selbstgerechten Familie hinausgeworfen worden sein, um doch noch ein paar kultivierte Laster zu entwickeln. Also dann, was kann ich für Sie tun, guter Junge?«

»Sie haben über Jahre hinweg gelegentlich für die Drood-Familie gearbeitet«, begann ich vorsichtig. »Indem Sie uns halfen, genau den richtigen Spezialisten ausfindig zu machen, wenn wir einen für gewisse ungewöhnliche Operationen brauchten.«

»Ja, als ob ich das nicht wüsste, Süßer; Ihre Familie benutzt mich skrupellos und zahlt nie auch nur einen Penny. Ich tue, was man mir sagt, oder sie schließen meinen Laden. Und sie sind immer so fürchterlich grob zu mir. Ich weiß nicht, warum; ich stelle bloß eine Dienstleistung zur Verfügung. Ich bringe Leute gleicher Gesinnung zusammen für wechselseitigen Spaß und Profit. Was sie anschließend machen, geht mich nichts an.«

»Nein«, stimmte ich ihm zu. »Es ist Ihnen egal, wie viel Ärger und Leiden Sie verursachen; nichts von dem Blut, das am Ende vergossen wird, befleckt je Ihre zierlichen Finger. Sie ermöglichen schreckliche Dinge, übernehmen aber nie die Verantwortung für Ihre Handlungen.«

»Ach, wie überaus langweilig! Ein Drood-Philosoph! Aber trotzdem so etwas wie ein Mann der Tat, wie ich höre. Was Sie den Liebenden Chelseas, den Ärmsten, angetan haben, ist Stadtgespräch. Die werden Jahre brauchen, um den Boden wieder wettzumachen, den Sie sie gekostet haben. Nicht dass es mir etwas ausmachen würde, bewahre! Es macht mir nie etwas aus; ist schlecht für den Teint. Und ich kann mich auch des Gefühls nicht erwehren, dass den Liebenden meine kleinen Sünden viel zu fad für ihren extremen Geschmack finden würden. Ich hatte sowieso nie viel Zeit für Revolutionen, gleich welcher Art. Mir gefällt die Welt, so wie sie ist.« Er langte über seine Kopfkissen und nahm sich eine belgische Praline aus einer großen offenen Schachtel. Er steckte sie in den Mund, kaute einen Moment lang und gestikulierte dann vage mit einer schwarznagligen Hand in meine Richtung. »Wofür genau sind Sie hierhergekommen, guter Junge? Kommen Sie doch zur Sache! Ich bin mit wichtiger Lümmelei befasst und müsste damit weitermachen.«

»Sie haben Kontakte innerhalb meiner Familie«, sagte ich bedächtig. »Ihnen müssen Dinge … zu Ohren kommen. Wissen Sie, warum ich ausgestoßen worden, für vogelfrei erklärt worden bin?«

»Leider nein. Habe rein gar nichts gehört, ehrlich! Die Neuigkeit kam aus dem Nichts, ohne jede Vorwarnung. Man hätte mich mit einer Feder k. o. schlagen können, Schätzchen. Nun überzieh mich doch einer mit Schokolade und wirf mich den Transen vor!, hab ich gedacht. Doch nicht der liebe, anständige Eddie! Sie haben sich in den vergangenen zehn Jahren einen ziemlichen Namen hier in der City gemacht. Rechtschaffen, aufrecht und deprimierend unbestechlich, hätte ich gesagt. Kein Wunder, dass Ihre Familie eine solche Armee zusammengezogen hat, um Sie auf der Autobahn anzugreifen …«

»Sie waren das!«, sagte ich unvermittelt. »Gerade ist der Groschen gefallen! Sie haben die Angriffe auf der M4 organisiert!«

»Nun, selbstverständlich, guter Junge. Wer denn sonst? Und glauben Sie nicht, es sei einfach gewesen, so viele grundverschiedene kriminelle Elemente zu kontaktieren und zu kombinieren und sie dazu zu bringen, für die Dauer des Angriffs schön miteinander zu spielen! Ich hätte nicht die Hälfte davon ausgesucht, aber meine Anweisungen waren sehr präzise; alle Grundlagen sollten abgedeckt sein, wissenschaftliche wie magische. Ehrlich, die Zankerei, die ich wegen der Frage der Reihenfolge über mich ergehen lassen musste! Die Hälfte von ihnen wollte nicht einmal miteinander sprechen, außer über mich. Ich hätte sie ja alle gleichzeitig angreifen lassen, dann hätte es auch geklappt, und die Sache wäre erledigt gewesen … aber nein, sie mussten sich unbedingt abwechseln, um zu zeigen, was sie können … Warum können die Leute nicht professionell sein?«

Ich nahm die Arme herunter und machte einen Schritt nach vorn, und er schreckte tatsächlich gegen seine Kissen zurück. »Da ist doch noch etwas, was Sie nicht vorhatten mir zu erzählen, nicht wahr?«, sagte ich. »Was ist es, Marcus?«

»Schon gut, schon gut! Es ist nur, dass … dieser spezielle Auftrag kam nicht von Ihrer Familie. Als solcher. Es war ein privater Auftrag, von der Drood-Matriarchin persönlich. Die gute alte Martha, gesegnet sei ihr schwarzes, rachsüchtiges kleines Herz! Ich habe einmal mit ihr getanzt, wissen Sie, eines denkwürdigen Abends damals in den Sechzigern, als Soho noch Soho war … Natürlich waren wir beide viel jünger und hübscher in jenen Tagen. So ein glamouröser Auftritt … Erst nachdem der Angriff auf Sie fehlgeschlagen war, erfuhr ich, dass Sie offiziell für vogelfrei erklärt worden waren. Was haben Sie nur angestellt, um sie so zu verärgern?«

»Hat sie es Ihnen nicht gesagt?«, fragte ich.

»Sie hat mir nicht einen Ton mehr gesagt, als sie unbedingt musste, Schätzchen. Bloß der bezahlte Handlanger, mehr war ich nicht. Und sie wollte das ganze Paket unglaublich schnell zusammengeschnürt haben, sowie auch extrem heimlich. Sie gab mir weniger als zwölf Stunden, um den Job zu erledigen, und war dann sehr unhöflich zu mir, als ich versuchte, ihr zu erklären, wie schwierig das sein würde. Die Worte Fleischwolf und Hackfleisch wurden geäußert, und das nicht auf appetitanregende Art.«

Er machte noch weiter und erging sich darüber, wie überarbeitet und wenig verstanden er doch sei, aber ich hatte aufgehört zuzuhören. Großmutter wollte meinen Tod und hatte die Maßnahme, mich für vogelfrei zu erklären, erst dann ergriffen, als ihr Mordanschlag gescheitert war. Und zwölf Stunden … das musste von Bedeutung sein. Was konnte in diesem kurzen zeitlichen Rahmen passiert sein, was die Matriarchin so heftig gegen mich aufgebracht hatte? In St. Baphomet hatte ich gute Arbeit geleistet; hatte alles getan, was mir aufgetragen worden war, und war sauber wieder rausgekommen.

»Sie wissen also nichts Brauchbares«, unterbrach ich ihn schließlich in seinem gut einstudierten Selbstmitleid.

»Ich könnte mich umhören«, bot er mit einer unbestimmten und sehr trägen Geste an. »Aber alles, was man in diesem Stadium erfährt, ist Klatsch. Selbstverständlich, jetzt, wo Sie vogelfrei sind … Falls Sie sich nach einer neuen Rolle in der Welt umschauen sollten - ich bin sicher, ich könnte eine Verwendung für Sie in meiner Organisation finden. Und wenn es nur deshalb wäre, weil es absolut hinreißend für mich wäre, bei einer meiner kleinen Soireen so ganz nebenbei fallen lassen zu können, dass ich meinen ganz persönlichen Drood auf der Gehaltsliste habe! Ich kenne Leute, die sich bei dem bloßen Gedanken vor Angst in die Hosen machen würden! Ich könnte Ihnen gegenüber sehr großzügig sein, Eddie. Und welchen besseren Weg gäbe es, es Ihrer gemeinen Familie heimzuzahlen?«

»Ich denke nicht«, lehnte ich sein Angebot ab. »Ich bin … anderweitig beschäftigt. Da draußen gibt es Antworten, und ich werde sie finden. Nichts wird mich davon abhalten!«

»Sicher, sicher!«, sagte der Mittelsmann. Er rutschte unruhig hin und her, aufgeschreckt von etwas, was er in meiner Stimme gehört hatte. »Aber ich fürchte, da gibt es nichts, was ich in dieser Sache für Sie tun könnte. Überhaupt nichts. Ich handele mit Menschen, verstehen Sie, nicht mit Informationen. Ich könnte Sie mit gewissen Spezialisten zusammenbringen, die Ihnen möglicherweise bei Ihrer Suche behilflich sein könnten. Gegen Entgelt, versteht sich.«

»Wie wäre es damit: Sie helfen mir dafür, dass ich Sie nicht auf erfinderische und scheußliche Arten töte?«

Er schniefte und paffte schmollend an seinem Zigarillo. »Typisch Drood! Nur zu, drohen Sie mir, schüchtern Sie mich ein, schauen Sie, ob es mir etwas ausmacht! Warum sollten auch ausgerechnet Sie anders sein als der Rest Ihrer fürchterlichen Familie? Keiner weiß zu schätzen, was ich für sie durchmache! Ich schwöre Ihnen, ich bin dieser Tage so empfindlich, dass ich dieser Welt nicht mehr lange angehören werde …«

Ich hob in Selbstverteidigung die Hand. »Schon gut! Wie wäre es dann, wenn Sie mir helfen würden für die Genugtuung, der Drood-Familie eins auszuwischen, die Sie jahrelang ausgenutzt hat, ohne Sie zu bezahlen? Würde Ihnen das nicht gefallen?«

Er sah mich nachdenklich an. »Wieso sollte ich riskieren, Ihre äußerst mächtige, nicht zu vergessen rachsüchtige Familie gegen mich aufzubringen … wo ich mir richtig lieb Kind bei ihnen machen könnte, indem ich Sie ausliefere? Sie wären vielleicht sogar schrecklich dankbar, dass sie mich endlich vom Haken lassen würden!«

»Sie glauben wirklich, dass sie das tun würden?«, fragte ich. »Die Droods geben niemals etwas auf, was ihnen gehört. Und glauben Sie etwa, Sie haben eine Möglichkeit, mich hierzubehalten, bis sie kommen, um mich einzusammeln?«

»Nein … und nein«, pflichtete der Mittelsmann mir traurig bei. »Also … gehen Sie, guter Junge. Lassen Sie sich nicht aufhalten; es steht Ihnen frei zu gehen. Ich gebe mich nie mit Drohungen ab, die ich nicht untermauern kann.«

»Wenn doch nur jeder so kultiviert wäre!«, entgegnete ich würdevoll.

Ich wandte mich zum Gehen, als der Mittelsmann sich auf einmal vorlehnte. »Es gibt da jemanden, mit dem Sie reden könnten. Sie weiß viele Sachen, von denen sie die meisten eigentlich nicht wissen sollte. Und sie hat mehr Grund als die meisten, Ihre Familie zu hassen: Die wilde Hexe Molly Metcalf.«

»Ah«, sagte ich, »Molly. Ja.«

»Spüre ich da ein Problem? Sie klingen nicht allzu begeistert.«

»Molly und ich haben eine Vorgeschichte«, antwortete ich.

Der Mittelsmann lachte und breitete die Arme aus, als ob er das Universum umarmen wolle. »Wer hat das nicht, guter Junge? Das ist das Salz der Erde!«

* * *

Ich rüstete ab, während ich aus dem Thailokal ging, und die lebende Rüstung floss wieder in meinen Torques zurück. Trage niemals das Gold in der Öffentlichkeit! Ich lächelte leise. Ich mochte von meiner Familie verstoßen worden sein und mich auf der Flucht befinden, aber noch immer befolgte ich ihre Regeln. Hinter mir beeilte sich das Thaipersonal, die Tür zuzusperren und die Rollos herunterzulassen. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Ich stand eine Weile draußen und dachte nach, dann blickte ich plötzlich auf, weil ich zum ersten Mal merkte, wie ruhig die Straße war. Ich schaute um mich, und straßauf, straßab, nirgends war jemand zu sehen. Kein Verkehr, keine Fußgänger. Die Geräusche der geschäftigen Stadt drangen von fern zu mir, aber mein kleiner Teil der City war wie ausgestorben. Was zu dieser Zeit des Abends einfach nicht vorkam, sofern nicht die ganze Gegend still und effizient abgeriegelt worden war. Und die einzigen Menschen, die genug Einfluss hatten, um das mitten im Herzen Londons durchzusetzen, waren die Mitglieder meiner Familie. Niemand sagt nein zu den Droods. Sie hatten mich also gefunden. Ich blickte mich jäh um, als ein Mann lässig aus einer Seitenstraße geschlendert kam. Ein sehr eleganter, sehr glatter Mann mit einem bekannten Gesicht, der übermäßig zufrieden mit sich selbst aussah: Matthew Drood.

Sein Auftreten war selbstbewusst, sogar großspurig, aber ich bemerkte, dass er trotzdem in respektvoller Entfernung von mir stehen blieb. Er lächelte und nickte, und ich erwiderte sein Nicken. Soweit ich es beurteilen konnte, war er allein gekommen, was mir Sorgen machte. Das war nicht Familienpolitik, wenn es darum ging, sich mit einem Vogelfreien zu befassen. Er schien von mir zu erwarten, dass ich etwas sagte, dass ich mich verteidigte oder rechtfertigte, also stand ich einfach da und sah ihn an. Matthew runzelte leicht die Stirn und strich über die glänzend weißen Manschetten seiner teuren Cityklamotten.

»Ich wusste, dass du hierher zuerst kommen würdest, Eddie«, sagte er selbstgefällig. »Simple Deduktion, alter Knabe. Alles, was ich machen musste, war das Haus überwachen zu lassen und zu warten.«

»Genau genommen war dies mein dritter Halt«, klärte ich ihn auf. »Zu spät wie immer, Matthew. Warum haben sie dich hierfür ausgesucht? Hast dich freiwillig gemeldet, richtig, um die Matriarchin zu beeindrucken? Oder vielleicht Alex? Du bist doch nicht etwa noch sauer auf mich wegen ihr, oder? Das ist schon lange her; wir waren nur Teenager.«

»Selbstverständlich habe ich mich freiwillig gemeldet«, entgegnete Matthew wütend. »Du bist eine Schande für die Familie, Eddie. Ich habe ja immer gesagt, dass du nichts taugst, und jetzt hat sich mein Urteil bestätigt.«

»Was haben sie dir angeboten?«, fragte ich. »Ehrlich, ich bin neugierig. Ich meine, du wärst nicht meine erste Wahl gewesen, wenn es darum geht, es mit einem erfahrenen und gefährlichen Vogelfreien aufzunehmen. Was die körperliche Seite dessen betrifft, was wir tun, warst du noch nie zu gebrauchen. Die alte extreme Gewalttätigkeit … Eingebildete Fatzken in der City unter Druck zu setzen ist eher dein Niveau; Börsenmaklern Angst einjagen, die beim Griff in die Kasse ertappt wurden.«

Matthew funkelte mich an, und auf seinen Wangen brannten leuchtend rote Flecke. »Wenn ich mich erst einmal bewiesen habe, indem ich dich herbeischaffe, dann werden sie mir dein ganzes Gebiet und deinen ganzen Aufgabenbereich geben, alter Knabe, zu meinem eigenen noch dazu. Ich werde der größte und beste Agent in einer der bedeutendsten Städte auf der Welt sein. Die Matriarchin höchstpersönlich hat mir ihr Wort gegeben.«

»Sie benutzt dich, Matthew, genau wie sie mich benutzt hat.« Ich fühlte mich plötzlich müde, ausgebrannt. »Sie legt uns beide rein. Kannst du das denn nicht erkennen? Sie ist dazu bereit, dich über Bord zu werfen, nur um mich langsamer zu machen, bis erfahrenere Agenten hierherkommen können. Wir können der Matriarchin nicht mehr trauen, Matthew; sie hat jetzt ihre eigenen Absichten.«

Matthew sah mich an, als redete ich plötzlich in Zungen. »Sie ist … die Matriarchin! Ihr Wort ist Gesetz! Wir leben und sterben nach ihrem Ermessen. So ist es immer gewesen. Und du bist nur ein dreckiger kleiner Verräter!«

Ich blickte um mich. Es war immer noch nichts von irgendwelcher Unterstützung für Matthew zu sehen. Möglicherweise war er wirklich der Einzige gewesen, der nahe genug gewesen war …

»Ich brauche keine Hilfe, um einem Verräter wie dir einen Dämpfer zu versetzen!«, giftete Matthew.

»Ich bin kein Verräter«, sagte ich und machte einen Schritt auf ihn zu. Er wich nicht von der Stelle.

»Du bist schon immer ein Verräter gewesen«, sagte er, und sein Lächeln war jetzt kalt und unfreundlich. »Ein Verräter am Geist dessen, was wir tun. An der Aufgabe und den Traditionen der Familie. Man hätte dir nie so viel Freiheit einräumen dürfen; schau dich doch an, was das aus dir gemacht hat! Einen tollwütigen Hund, der frei herumläuft, der zum Wohle aller eingeschläfert werden muss!«

Ich sah ihn einen Moment lang prüfend an. Da lag eindeutig etwas in seiner Stimme und in seinem Lächeln … »Das hier ist nichts Offizielles, nicht wahr?«, sagte ich schließlich. »Das ist der Grund, weshalb du ohne Rückendeckung hier bist: Die Familie weiß nichts hiervon. Du repräsentierst die Matriarchin, und sonst niemanden. Du bist nicht hier, um mich lebend zurückzubringen, stimmt's, Matthew?«

Sein Lächeln wurde breiter. »Wozu sollte das auch gut sein?«

»Ich habe dich noch nie leiden können«, sagte ich. »Du warst immer der Liebling des Lehrers.«

Wir rüsteten beide hoch, und das lebende Metall sprang um uns herum an seinen Platz. Es war unheimlich, Matthew in seiner Rüstung anzusehen, wie ein Spiegelbild. Ich wusste nicht, welche Waffen er haben mochte, aber ich glaubte nicht, dass er sie benutzen würde, aus Angst, dass ich sonst meine benutzen würde. Waffen würden die Situation zu unvorhersagbar gestalten. Und außerdem waren wir beide neugierig. Wir wollten das hier auf die harte Tour erledigen, Auge in Auge und Mann gegen Mann, einfach weil es schon Jahrhunderte her war, dass jemand das versucht hatte. Es kam sehr selten vor, dass zwei Droods im Gold kämpften. Außerhalb der Trainingseinheiten war es uns streng verboten, denn es war undenkbar, dass Drood gegen Drood kämpfen sollte. Es existierten zwar Aufzeichnungen solcher feindlicher Zusammenstöße in der Bibliothek, sehr alte Aufzeichnungen, aber sie bestanden aus vielen blumigen Worten und so gut wie keinen Einzelheiten.

Ich wollte das hier machen, und bei ihm war es nicht anders.

Und falls wir beide es aus den falschen Gründen machten, so war doch niemand hier, um uns aufzuhalten.

Die goldenen Hände ausgestreckt, sprangen wir vor. Gleich motiviert, gleich grimmig, gleich entschlossen. Wir krachten zusammen, und der Anprall von Rüstung gegen Rüstung klang wie eine große Glocke, die in den Tiefen der Hölle läutete. Wir schlugen hart aufeinander ein, ließen Hieb um Hieb mit all unserer verstärkten Kraft aufeinander niederprasseln und machten uns dabei nicht einmal die Mühe, uns selbst zu verteidigen. Die schrecklichen Klänge hallten in der leeren Straße wider, doch keiner von uns nahm irgendwelchen Schaden. Unsere Rüstung schützte uns. Ich spürte das Auftreffen seiner Fäuste kaum, und ich bin sicher, dass es ihm nicht anders ging. Alles, was wir machten, war, einander zu ermüden. Eine Zeit lang rangen wir unbeholfen miteinander, Brust an Brust, keiner von uns in der Lage, einen Vorteil zu erlangen.

Endlich brachte ich ihn zu Fall, und als er am Boden lag, trat ich ihm so fest in die Rippen, dass er mehrere Meter über die Straße schlitterte. Ich lief ihm hinterher, und während er sich noch aufrappelte, packte ich ihn mit beiden Händen, hob ihn hoch und schleuderte ihn gegen das nächste Gebäude. Die Wucht des Aufpralls trieb ihn halb durch die Mauer und er steckte einen Moment lang fest, während Backsteine, die sich gelöst hatten, auf seine Rüstung herabregneten. Ohne nennenswerte Anstrengung zog er sich heraus, und die Mauer stürzte hinter ihm ein. Er warf sich auf mich, gänzlich unbeirrt, und wir krachten wieder zusammen.

Wir konnten uns gegenseitig nicht verletzen. Matthew stieß mich weg, streckte die Hand aus und ergriff den Stahlpfosten einer Straßenlaterne. Er riss ihn aus seinem Betonsockel, dass das gezackte Ende Drähte und Funken hinter sich herzog. Er holte aus und schwang den Pfosten wie einen Baseballschläger, und ich konnte mich nicht schnell genug bewegen, um ihm auszuweichen. Der schwere Stahl krachte in meine Rippen, riss mich von den Füßen und ließ mich durch die Luft fliegen. In einigen Metern Entfernung kam ich unsanft wieder auf, überschlug mich ein paarmal und war sofort wieder auf den Füßen, unverletzt, nicht einmal schwer atmend.

Wir legten wieder los, wüteten die Straße auf und ab, zerschmetterten alles, womit wir in Berührung kamen, außer uns selbst. Wir schlugen mit allem um uns, was uns in die Finger kam, hämmerten einander durch Mauern, demolierten die Straße von einem Ende zum anderen. Glas zerbrach, Feuer brachen aus und Gebäude stürzten ein, und wir merkten es nicht einmal. Wir kämpften wie Götter, die achtlos durch die Pappmascheewelt bloßer Sterblicher trampelten.

Zum Schluss ging uns der Platz aus, und wir gelangten an die Barrikade, die am Straßenende errichtet worden war. Hinter einer Reihe von Stahlstangen, zwischen die Stacheldraht gespannt war, stand ein halbes Dutzend Polizisten, die das Ganze aus der Deckung ihrer geparkten Wagen heraus beobachteten. Hinter ihnen hatte sich eine Menge neugieriger Zuschauer zusammengefunden, angezogen von dem Krach. Sie alle beobachteten in sprachlosem Entsetzen, wie Matthew und ich uns direkt vor ihnen prügelten, dass die Fetzen flogen, so gefangen in unserem gerechten Zorn, dass es uns völlig schnuppe war, ob die Rüstung in der Öffentlichkeit zu sehen war oder nicht.

Die Polizisten und die Schaulustigen stoben auseinander, als Matthew und ich in und durch die Barriere krachten; der Stacheldraht riss augenblicklich und bot unserer gepanzerten Stärke nicht mehr Widerstand als Nebel. Wir waren jetzt außerhalb der Sperrzone, wo jeder uns sehen konnte, und die Schreie ließen mich wieder zu mir kommen. Ich versuchte klein beizugeben, aber Matthew war zu weit gegangen, um jetzt aufzuhören. Er hob eins der Polizeiautos hoch, als ob es nichts wöge, und warf es nach mir. Ich duckte mich, und es segelte an mir vorbei und krachte in eine Ladenfront. Ich ergriff ein in der Nähe geparktes Auto und warf es nach Matthew. Er wich nicht von der Stelle, und die vordere Hälfte des Autos wurde wie eine Ziehharmonika zusammengedrückt, als sie gegen seine reglose Gestalt prallte. Unvermittelt explodierte der Wagen in einem sich ausdehnenden goldgelben Flammenball. Die näher stehenden Gebäude fingen Feuer, und die starke Hitze brachte die Luft zum Flimmern. Und Matthew kam aus dem Herzen des Feuerballs herausspaziert, streifte lodernde Wrackteile von sich ab und war völlig unversehrt. Die Leute rannten jetzt davon, hysterisch schreiend, und die Polizisten hingen an ihren Funkgeräten und schrien mit Fistelstimmen nach bewaffneter Verstärkung.

Ich sah Matthew an in seinem Gold, und die Nackenhaare sträubten sich mir. Hatten die Leute mich so gesehen? Dieses schreckliche, unmenschliche Wesen?

Während ich da stand, starr vor Erkenntnis, hob Matthew noch einen Wagen auf und ließ ihn auf mich herabkrachen, brachte mich aus dem Gleichgewicht und warf mich um. Er stemmte sich mit all seiner Kraft auf das Auto und versuchte, mich auf dem Boden festzunageln, aber ich drückte einfach zurück, und das Metall des Autos zerriss wie ein Papiertaschentuch unter unserer gepanzerten Stärke. Ich erhob mich inmitten von Fahrzeugtrümmern, und wir warfen die demolierten Teile zur Seite, um wieder aufeinander loszugehen. Im Hintergrund waren immer noch Leute am Schreien; sie hörten sich wie Tiere an, verrückt gemacht von etwas, was sie nicht verstehen konnten. Das Feuer breitete sich aus. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass die Familie es verdammt schwer haben würde, das hier zu vertuschen.

Matthew stürmte direkt auf mich zu. Ich wartete bis zum letzten Moment und machte dann einen Schritt zur Seite. Er stolperte an mir vorbei, kurzfristig aus der Balance gebracht, und streckte einen Arm aus, um sich an der Hauswand vor ihm abzustützen. Ich nahm meine tragbare Tür heraus und klatschte sie aufs Mauerwerk, und er fiel durch die neue Öffnung ins Gebäudeinnere. Ich riss die Tür ab und sperrte ihn im Inneren ein. Und dann setzte ich meine gepanzerte Kraft ein, um das ganze verdammte Gebäude auf ihn herunterzuziehen.

Tonne um Tonne von Ziegeln und Steinen und Beton donnerten herunter und häuften sich auf Matthew auf. Die Erde bebte unter der Gewalt des Aufpralls, und die Straße füllte sich mit Rauch. Ich wartete eine Zeit lang, angespannt und bereit, doch nichts geschah, außer dass sich der große Schutthaufen langsam setzte. Ich lachte den guten besiegten Matthew still und leise aus. Die Rüstung würde ihn selbst hiervor geschützt haben, aber dennoch würde er eine ganze Weile brauchen, um sich wieder herauszugraben. Und ich war fest entschlossen, längst weg zu sein, wenn es so weit war.

Ich nahm eins der verlassenen Polizeiautos. Die Beamten hatten sich so schnell zurückgezogen, dass sie sogar die Schlüssel in der Zündung gelassen hatten. Ich fuhr weg, rüstete unterdessen ab, und bog in eine Seitenstraße ein, als ich die herannahenden Sirenen der Löschfahrzeuge und Polizeiwagen hörte. Ich war nicht in der Stimmung für irgendwelche weitere Konfrontationen. Schon bald hatte ich mich wieder in den Hauptverkehrsstrom Londons eingereiht und fuhr ruhig und achtsam dahin, und niemand sah zweimal nach mir. Keiner sieht nach einem Polizeiauto, wenn es nicht unbedingt sein muss. Ich hielt den Wagen so bald es ging an und entfernte mich zu Fuß von ihm. Wieder einmal war Shaman Bond nur ein Gesicht in der Menge, niemand Besonderes, nichts, wonach man sich umdrehte. Meine Tarnidentität war der einzige wirkliche Schutz, der mir noch geblieben war. Niemand in der Familie kennt meinen Rufnamen. Sie haben mich nie danach gefragt. Es hat sie nie interessiert.

Ich steuerte wieder auf die U-Bahn zu. Ungeachtet der möglichen Folgen - jetzt gab es nur noch einen Menschen, zu dem ich gehen konnte, um Hilfe und Antworten zu erhalten. Die eine Person, bei der die Matriarchin sicher sein würde, dass ich mich ihr nie nähern würde: Die wilde Hexe Molly Metcalf. Mein Auftauchen sollte sie eigentlich nicht allzu wütend machen; es war Monate her, seit wir das letzte Mal versucht hatten, uns gegenseitig umzubringen.

Wissen Sie, manchmal könnte ich schwören, das ganze Universum wird nur von Ironie in Gang gehalten.

Загрузка...