Kapitel Zwölf Vom Berg der Läuterung zur Hölle

Es gibt Momente im Leben jedes Mannes, wo die Frau, mit der er sich eingelassen hat, sich plötzlich das Näschen pudern muss und verschwindet und es ihm überlassen bleibt, höfliche Konversation mit ihren Freunden zu machen. Ich persönlich würde mir lieber Nadeln in die Augen stecken, aber es gehört halt zu den Dingen, um die man einfach nicht herumkommt. Molly Metcalf holte ein Einmalhandy heraus und begab sich zur Damentoilette, sodass sie ihre Kontaktperson beim Manifesten Schicksal erreichen konnte, ohne von allen anderen im Club wütend angestarrt zu werden. Ich hieß ihren Sinn für Vorsicht gut. Einmaltelefone sind Telefone, die man nur einmal benutzen kann und anschließend sofort aufgibt und zerstört. Ein Anruf, der nicht abgehört, und ein Telefon, dass nicht aufgespürt werden kann. Es war gut zu wissen, dass das Manifeste Schicksal professionell zu Werke ging. Aber es bedeutete auch, dass ich mit Mollys Freunden allein gelassen wurde, von denen ich die meisten vor ein paar Tagen noch beim ersten Anblick zu töten versucht hätte. Und umgekehrt genauso, sehr wahrscheinlich. So standen wir da und lächelten einander verlegen an, während das Einzige, was wir miteinander gemein hatten, in ›Damen‹ verschwand.

»Sie sagen also«, wandte ich mich schließlich an den Ghul, Buddler Browne, als den am wenigsten Beunruhigenden des Haufens, »dass Sie gelegentlich für meine Familie gearbeitet haben?«

Er zuckte ungezwungen mit der Schulter. »Ich helfe aus, wenn ich dazu aufgefordert werde. Der Preis des Lebens in diesen schweren Zeiten. Der Status meiner Sippe ist nicht mehr das, was er einst war, als wir noch einen angesehenen Platz in der Gesellschaft hatten, weil wir das Durcheinander aufräumten, das die zahlreichen Schlachten der Menschen zurückließen … Heutzutage zieht uns Ihre Familie nur noch hinzu, wenn es darum geht, die Leichen zu verschlingen, deren anderweitige Beseitigung sie als zu kostspielig oder zu gefährlich erachtet. Sie wissen schon - die Sorte, die wiederauferstehen oder sich neu bilden oder zu Sondermüll zerfließen könnte. Es gibt nicht viel, was ein Ghul nicht verdauen kann. Allerdings müssen unsere Toiletten zugegebenermaßen gründlicher als die meisten -«

Ich hob die Hand. »Ich glaube, wir nähern uns rapide dem Punkt von zu viel Information. Was meinen Sie zu den Droods? Oder zu dieser neuen Widerstandsgruppe, dem Manifesten Schicksal?«

Erneut zuckte Buddler die Schulter. »Die Namen ändern sich, Gesichter kommen und gehen, aber irgendjemand hat immer das Sagen. Einen stichhaltigen Beweis dafür, dass das Manifeste Schicksal netter als die Droods oder gerechter wäre, hat mir bisher noch niemand vorgelegt … Aber es interessiert mich auch nicht wirklich. Wer den Laden auch schmeißt, es wird immer Arbeit für mich und meine Art geben.«

Ich wandte mich, ein bisschen widerwillig, an Mr. Stich. Er trank mit abgewinkeltem kleinem Finger einen Perrier, jeder Zoll der gelassene und kultivierte Gentleman. Ich hatte einmal geholfen, eins seiner Opfer aus der Themse zu fischen, unten bei Wapping. Sie war ausgeweidet worden, aufgeschnitten vom Hals bis zum Schritt, und alle inneren Organe waren entfernt worden. Er hatte auch noch andere Sachen mit ihr gemacht, bevor er sie endlich getötet hatte. Der einzige Grund, weshalb ich ihn nicht auf der Stelle in Stücke riss, war, dass Molly sich darüber aufregen könnte, und ich brauchte sie auf meiner Seite. Im Augenblick.

»Ich habe gehört, man hat Sie mit einem Pfeil angeschossen«, sagte er ruhig. »Direkt durch Ihre viel gepriesene Rüstung.«

»Neuigkeiten verbreiten sich schnell, nicht wahr?«, antwortete ich, sorgsam darauf bedacht, weder zu leugnen noch zu bestätigen. »Aber ich bezweifle, dass Sie etwas haben, was mir etwas anhaben könnte.«

»Sie wären vielleicht überrascht«, sagte Mr. Stich. »Aber Sie sollten wirklich versuchen, sich zu entspannen, Edwin. Von mir droht Ihnen keine Gefahr, solange Sie mit Molly zusammen sind. Ein liebes Mädchen und eine alte Freundin; ich würde sie nur äußerst ungern verärgern.«

»Sie erwähnten, dass auch Sie einige Arbeiten für meine Familie verrichtet haben«, fuhr ich fort. »Was haben Sie für die Droods gemacht?«

»Manchmal können Leute nicht einfach umgebracht werden«, erklärte Mr. Stich mit sanfter Stimme. »Manchmal ist es nötig, dass sie völlig verschwinden. Keine Spur, was ihnen angetan wurde oder warum. Keine Leiche, keine Hinweise, nur eine Lücke in der Welt, wo einmal jemand Wichtiges war. Jemand, der dachte, niemand könne ihm etwas anhaben. Ich war schon immer in der Lage, Leute verschwinden zu lassen. Die Welt bekommt nur einen kleinen Bruchteil meiner vielen Opfer zu sehen. Diejenigen, von denen ich will, dass sie gesehen werden, damit mein Mythos weiterlebt … mein Ruf erhalten bleibt. Eitel, eitel, alles ist eitel, aber meine Legende ist das Einzige, was mir geblieben ist, und ich werde nicht zulassen, dass sie von meinen zahlreichen zweitklassigen Nachahmern besudelt oder herabgewürdigt wird.«

»Wie haben Sie Molly kennengelernt?«, erkundigte ich mich.

»Sie hat sich große Mühe gegeben, mich umzubringen«, sagte Mr. Stich und lächelte liebevoll bei der Erinnerung daran. »In jener Zeit war sie Teil eines Hexensabbats und noch dabei, ihr Handwerk zu erlernen, als ich es für notwendig befand, eine ihrer Hexenfreundinnen zu töten. Nachdem Molly und ich bis zur Erschöpfung versucht hatten, uns gegenseitig umzubringen, fingen wir an zu reden und entdeckten, dass wir mehr miteinander gemein hatten, als wir gedacht hatten. Beide hassten wir gewisse Personen, und das aus gutem Grund. Personen mit Macht und Einfluss, an die jeder auf sich allein gestellt nicht heranzukommen hoffen durfte, jedoch gemeinsam … Ah, das waren glückliche Tage, als ich sie die Methoden des Niedermetzelns lehrte!«

»Aber hat sie Ihnen jemals verziehen, dass Sie ihre Freundin ermordet haben?«, hakte ich nach.

»Nein; aber sie ist ein praktischer Geist. Sie weiß, dass man bisweilen ein Auge zudrücken muss, um voranzukommen. Mir gefällt die Vorstellung, dass wir inzwischen Freunde sind. Man kann nicht die Dinge tun, die wir getan haben, ohne einander … näherzukommen. Und in ganz London ist sie vielleicht die einzige Frau, bei der ich nicht das Verlangen verspüre, sie zu töten. Ich erinnere mich noch an ihre Freundin, die uns zusammengebracht hat. Ihr Name war Dorothy. Ein zartes kleines Wesen, und sie kreischte so hübsch unter meiner Klinge … Nicht, Edwin! Denken Sie nicht einmal daran, Ihre Rüstung hochzurufen! Sie können mich nicht töten. Niemand kann das. Das ist ein Teil dessen, was ich kaufte mit dem, was ich in Whitechapel tat, vor all den Jahren.«

»Ich werde einen Weg finden!«, erwiderte ich. »Wenn ich muss.«

Das Blumenmädchen griff schnell ein, indem sie eine sanfte Hand auf meinen Ärmel legte. »Jungs, Jungs … Entspannt euch, Herzchen! Wir sind doch alle Freunde hier, und für Herrn Miesepeter sind wir ganz bestimmt nicht zu sprechen!« Sie rieb ihre Schulter an Mr. Stich wie eine anschmiegsame Katze, und er nickte ihr knapp zu, bevor er seine ganze Aufmerksamkeit seiner Perrierflasche widmete. Das Blumenmädchen zwinkerte mir mit ihren überlangen Wimpern zu und warf ihre üppigen dunklen Lippen schmollend auf. »Warum müssen Männer immer über solche schrecklichen Dinge reden? Im Leben gibt es viel, was gut ist, und viel, was schlecht ist, und nichts, was wir tun können, um das zu ändern. Warum entscheiden wir uns also nicht einfach dafür, all die wundervollen Dinge im Leben zu feiern? Wie mich zum Beispiel! Ich bin das reizende Blumenmädchen, erschaffen, damit Männer das Vergnügen haben können, mich anzubeten! Falls sie wissen, was gut für sie ist … Ehrlich, meine Herzchen, wenn alle viel öfter Sex hätten, dann wäre die Welt ein viel glücklicherer Ort.« Sie strahlte mich an. »Möchten Sie mir die Bluse aufknöpfen und mit meinen Titten spielen, Edwin?«

»Du weißt, dass du nicht trinken solltest, Blume«, meinte U-Bahn-Ute freundlich. »Es fährt dir immer direkt in die Blätter.« Sie betrachtete mich nachdenklich. »Ich muss sagen, Edwin, dass Sie ein interessanterer Typ sind als die meisten Exemplare, die Molly hierherschleppt. Für so eine intelligente Frau hat sie einen bemerkenswert schlechten Männergeschmack. Ich werde den Gedanken nicht los, dass da wahrscheinlich ein Zusammenhang besteht. Männer sollte man mit dem Herzen auswählen, nicht mit dem Kopf. Nicht dass ich mit einer von beiden Herangehensweisen viel Glück gehabt hätte. Männer! Wenn es eine Alternative gäbe, die nicht darauf hinausliefe, zu guter Letzt allein mit zu viel Katzen zu leben, würde ich mich morgen dazu verpflichten.«

Darauf schien es keine offensichtliche Antwort zu geben, also wechselte ich das Thema. »Gehe ich recht in der Annahme, dass auch Sie schon für meine Familie gearbeitet haben?«

»Ganz bestimmt nicht!« U-Bahn-Ute richtete sich stolz auf; schon der bloße Gedanke schien sie wütend zu machen. »Ich habe nämlich meine Prinzipien!«

Vielleicht zum Glück wählte Molly diesen Moment, um zurückzukommen und uns wieder Gesellschaft zu leisten, und ich wandte mich mit einiger Erleichterung an sie. Ich war noch nie besonders gut darin gewesen, mich mit den Freunden einer Frau zu unterhalten. »Sind Sie durchgekommen? Werden sie sich mit mir treffen?«

Molly nickte knapp. »Ich hatte ganz schön Schwierigkeiten, bis ich endlich jemand von den oberen Chargen an der Strippe hatte, aber nachdem ich ihnen klargemacht hatte, dass ich den neuen vogelfreien Drood liefern kann, konnten sie es kaum noch abwarten, dass ich Sie zu ihnen bringe. Wir können sofort aufbrechen, wenn Sie wollen. Der Anführer persönlich wartet darauf, Sie mit offenen Armen zu empfangen. Im Austausch gegen Ihre Insiderinformationen über die Drood-Familie und die Gelegenheit, Ihre Rüstung in ihren Laboratorien zu untersuchen, werden sie Ihnen alles anbieten, was Sie wollen.«

»Ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin, mich ihrer Sache zu verschreiben«, sagte ich zurückhaltend.

Molly prustete laut. »Ich würde sagen nein, in Ihrer Lage! Es handelt sich nur um ein informelles Treffen, bei dem Sie und der Anführer einander auf den Zahn fühlen und herausfinden können, ob eine Zusammenarbeit infrage kommt. Aber erweisen Sie sich selbst einen Gefallen, Drood: Verhandeln Sie hart! Holen Sie alles aus ihnen heraus, was sie haben … Denn wenn Sie Ihre Geheimnisse erst einmal preisgegeben haben, können Sie sie nicht noch einmal verkaufen.«

»In mir steckt mehr als bloß Geheimnisse«, sagte ich.

»Gute Verhandlungsposition«, entgegnete Molly.

»Falls Sie tatsächlich dem Anführer des Manifesten Schicksals einen Besuch abstatten, denke ich, dass ich mitkommen werde«, meldete sich plötzlich Mr. Stich zu Wort. »Obwohl ich in der Vergangenheit einige kleinere Dienste für sie verrichtet habe und dafür eine sehr großzügige Entschädigung erhalten habe, muss ich doch sagen, dass ich ein wenig irritiert darüber bin, dass sie nie versucht haben, mich anzuwerben. Ich möchte sie gern nach dem Grund dafür fragen.«

»Wenn er mitkommt, komme ich auch mit!«, rief das Blumenmädchen und klatschte entzückt in ihre weichen kleinen Hände. »Ich komme nie irgendwohin!«

Ich schickte mich an zu protestieren, aber Molly schnitt mir schnell das Wort ab. »Ach, lassen Sie sie doch, sonst sind sie nachher wieder beide am Schmollen! Außerdem ist das Verhandeln immer leichter, wenn man ernst zu nehmende Unterstützung hat.«

Da war was dran. Ich schaute Buddler Browne fragend an, aber er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich habe schon eine frühere Verpflichtung. Meine Familie und ich haben einen alten Bekannten zum Abendessen.«

»Und mich würden Sie auch dann keinen Zentimeter näher an das Manifeste Schicksal heranbringen, wenn Sie einen Stuhl und eine Peitsche benutzen würden!«, erklärte U-Bahn-Ute sehr bestimmt. »Ich traue keiner dieser großen Organisationen. Für den Privatunternehmer gibt es darin nie einen Platz. Und überhaupt, ich habe Sachen über das Manifeste Schicksal gehört … Ja, ja, ich weiß, Molly; du kannst es nicht haben, wenn man etwas gegen sie sagt. Aber ich hab schon einige Jahre mehr auf dem Buckel als du, und es gibt Leute, die mit mir reden und mit dir nicht. Ich werde das Gefühl nicht los, dass es dem Manifesten Schicksal noch um etwas ganz anderes geht, als nur die Droods zu stürzen.« Sie blickte mich mit kalten, durchdringenden Augen an. »Stellen Sie ihnen alle peinlichen Fragen, Drood! Bringen Sie sie dazu, Ihnen alles zu erzählen, bevor Sie ihnen Ihr Vertrauen schenken!«

Sie kehrte uns den Rücken zu und stolzierte aus dem Wolfskopf. Buddler Browne schüttelte uns allen höflich die Hand und folgte ihr hinaus. Und Molly Metcalf, das Blumenmädchen, Mr. Stich und ich brachen auf, um dem Manifesten Schicksal einen Besuch abzustatten. Eine Hexe der wilden Wälder, ein Elementargeist aus Rosenblättern und Eulenkrallen, ein legendärer Serienkiller und ein sehr verwirrter Ex-Agent für die Guten.

Es gibt Tage, da sollte man morgens nicht aufstehen.

* * *

Wir verließen den Wolfskopf durch eine Hintertür, die ich nicht kannte, und landeten in einer schwach erleuchteten Seitengasse der Denmark Street, tief im dunklen Herzen Sohos. Es war jetzt später Abend und sämtliche Nachteulen ergossen sich auf die Straßen und rieben sich den Schlaf des Tages aus den Augen. Gürteten ihre müden Lenden, um Jagd auf die Schafe zu machen, wieder einmal. Niemand beachtete uns; ganz offensichtlich waren wir keine Schafe. Molly trat auf die Mitte der leeren Straße und schaute sich mit finsteren Blicken um.

»Wonach suchen Sie?«, fragte ich geduldig. »Ein Taxi werden Sie in dieser Gegend nicht finden, nicht zu dieser nächtlichen Stunde.«

Sie sah zu mir zurück und seufzte schwer. »Na schön; Vortragsmodus. Geben Sie Acht, Drood, und Sie könnten vielleicht noch etwas Nützliches lernen. Vor langer Zeit, während der paranoidesten Tage des Kalten Krieges, trug es sich zu, dass das Establishment jener Zeit für den Bau eines riesigen Tunnel- und Bunkernetzes tief unter den Straßen Londons sorgte. Ein letztes verzweifeltes Schlupfloch, zu dem die wichtigen Persönlichkeiten jener Zeit im Falle eines Atomschlags Zuflucht nehmen konnten. Vermutlich damit sie die radioaktiven Ruinen darüber weiterhin beherrschen könnten. Ich liebe eine Regierung, die vorausdenkt, Sie nicht? Wie dem auch sei, dieses mächtig große Schlupfloch war komplett ausgestattet und versorgt mit allem und darüber hinaus sehr sicher. Aber der Kalte Krieg ging offiziell zu Ende, und das Netz der Tunnels und Bunker wurde für überflüssig erklärt. Wurde aufgegeben und dem Verfall überlassen, bewacht nur von ein paar alten Kalten Kriegern, die selbst auch ziemlich überflüssig waren.

Das Manifeste Schicksal hat jetzt von diesem Netz Besitz ergriffen, mit, so wird gesagt, der augenzwinkernden Anerkennung der derzeitigen maßgeblichen Regierungsstellen. Bedauerlicherweise - und das ist der Teil, den Sie wirklich verabscheuen werden, Edwin - führt der einzige Zugang zu diesem Netz durch die städtischen Abwasserkanäle. Meiner Kontaktperson zufolge gibt es hier herum irgendwo einen Einsteigeschacht, durch den wir in das System gelangen können, also hören Sie auf, völlig nutzlos hier rumzustehen, und helfen Sie mir, ihn zu suchen!«

Wie sich herausstellte, befand sich der Kanalschacht direkt hinter ihr. Keiner von uns sagte etwas. Sie blickte den schweren Stahldeckel finster an und schnalzte mit den Fingern, und der Deckel schoss in die Luft, als ob ihm jemand in den Hintern gekniffen hätte. Er blieb in der Luft über uns schweben, während wir uns alle um das Loch versammelten und unschlüssig hinunterschauten. Molly erzeugte ein Hexenfeuer, ein schimmerndes silbernes Leuchten um ihre linke Hand, aber auch dieses magische Licht konnte uns nur eine Reihe von metallenen Sprossen zeigen, die hinab in die Dunkelheit führten. Der Geruch, der aus dem Loch stieg, war allerdings ziemlich deftig. Wir sahen uns gegenseitig an, und schließlich seufzte Molly tief und stieg als Erste hinab in die Kanalisation.

Sobald wir alle drin waren, fiel der Kanaldeckel wieder an seinen Platz zurück und schloss uns von der Außenwelt ab.

* * *

Unter der Erde traf der Gestank mich wie ein Faustschlag ins Gesicht. Tränen des Entsetzens liefen mir über die Backen, während ich mir Mühe gab, nur durch den Mund zu atmen. Es half nichts. Die Leiter entließ uns in einen langen, dunklen Tunnel mit runden Wänden und unbequem niedriger Decke. Molly verstärkte ihr Hexenlicht, wodurch die Dunkelheit zurückgeschoben und uns eine bessere Sicht geboten wurde. Die Backsteinmauern waren rutschig vor Feuchtigkeit, Schleim und Dreck, und dunkles, aufgewühltes Wasser brandete durch eine tiefe Rinne in der Bodenmitte, voller Müll und unerfreulich vertrauter Sachen, die darin schwammen. Der Laufgang war gerade so breit, dass er zwei von uns nebeneinander Platz bot, und den alten Stein unter unseren Füßen überzog eine Kruste stinkender Substanz. Es reichte, um einen geloben zu lassen, nie wieder eine Toilette zu benutzen. Das Blumenmädchen und Mr. Stich wirkten völlig ungerührt, aber Molly schien kurz davor, sich zu übergeben. Zwei Ratten trieben an uns vorbei, zusammengekauert auf einem besonders großen … Objekt. Das war genug! Ich fing an hochzurüsten, um mich vor Seuchen zu schützen, aber Molly fuhr mich wütend an.

»Nicht!«, zischte sie. »Wir wollen keine Aufmerksamkeit auf uns lenken!«

»Aufmerksamkeit von wem?«, fragte ich, nicht unvernünftig. »Wer sonst sollte so blöd sein, zu dieser Nachtzeit in die Kanalisation hinunterzusteigen?«

»Es ist was dran an dem, was sie sagt«, pflichtete das Blumenmädchen Molly bei und blickte nervös um sich. »Man hört Geschichten … Von Wesen, die sich entschieden haben, hier unten zu leben, fernab vom Licht und der Überwachung der Menschen. Unerfreuliche, schreckliche Wesen, Schätzchen. Ganz und gar nicht die Art von Personen, denen man begegnen möchte.«

»Das stimmt«, sagte Molly. »Ich habe mit Leuten gesprochen, die hier unten arbeiten, und sie alle haben Dinge zu berichten, von denen die zivilisierte Welt nichts wissen will. Nicht alles, was heruntergespült wird, ist für immer fort. Es gibt Geschöpfe hier unten, die gelernt haben, unter Bedingungen wie diesen zu gedeihen, und sie sind immer hungrig. Seltsame Früchte, die an verfaulten Zweigen sprießen, Monster, die aus aufgegebenen Experimenten wachsen, und einige verderbte Gestalten, die vielleicht vor langer, langer Zeit einmal menschlich waren. Ich werde ein schwaches Feld erzeugen, um uns vor der … Kontaminierung zu schützen, aber jede stärkere Magie könnte sie herbeirufen.«

»Vielleicht sollten Sie dann auch auf das Hexenlicht verzichten«, sagte Mr. Stich. »Ich bin fast sicher, dass ich irgendwo ein Feuerzeug habe.«

»Nein!«, entgegnete Molly rasch. »Keine Flammen oder irgendwas, was einen Funken erzeugen könnte! Methangas neigt dazu, sich in Taschen zu bilden, und durch diese widerwärtige Umgebung kann man es nicht wahrnehmen - bis es viel zu spät ist.«

»In alten Zeiten«, erzählte Mr. Stich im Plauderton, »brachten die Arbeiter Kanarienvögel in Käfigen mit herunter. Und wenn die Kanarienvögel anfingen zu schwelen, wussten sie, dass sie in Schwierigkeiten steckten.«

Es gab eine Pause, und dann meinte Molly: »Sie sind nicht wirklich eine Hilfe, wissen Sie das?«

»Arme kleine Vöglein!«, sagte das Blumenmädchen.

Molly beschwor ihr Schutzfeld herauf, das einen simplen Richtungszauber enthielt, welcher sich als leuchtender Pfeil manifestierte, der in der Luft vor uns schwebte. Wir setzten uns in Bewegung und gingen ihm nach, was zu einem Rutschen und Schlittern über die tückische Oberfläche des Laufgangs geriet. Unsere Schatten hüpften im Hexenlicht um uns herum, riesig und bedrohlich. Die Echos plötzlicher Geräusche hallten in den langen, dunklen Tunnels wider und klangen noch nach, als sie schon längst hätten verstummt sein müssen. Ich hielt ein wachsames Auge auf jeden schattenhaften Tunnel, an dem wir vorbeikamen, und manchmal glaubte ich, entstellte, verzerrte Gestalten zu sehen, die in der undeutlichen Düsterkeit davontorkelten, doch nichts wagte sich hinaus ins Hexenlicht, um sich uns in den Weg zu stellen.

Der Gestank wurde nicht leichter zu ertragen.

Überall waren Ratten, die hin und her huschten und trippelten und ab und zu innehielten, um uns mit ihren gelben Zähnen anzublecken. Viele waren um Vieles größer, als irgendeine Ratte von Rechts wegen sein durfte, und sie schienen sich nicht annähernd so sehr vor uns zu ängstigen, wie es mir recht gewesen wäre. Mit Ratten ist es bei mir so eine Sache. Die meisten beobachteten von ihren Löchern und Höhlen aus, wie wir vorbeigingen, und ihre dunklen, runden, glänzenden Augen funkelten boshaft. Molly vertrieb sich die Zeit damit, mit dem Finger auf die zu zeigen, die uns zu nahe kamen, woraufhin sie augenblicklich nass in alle Richtungen auf einmal explodierten. Jedes Mal, wenn das passierte, kreischte das Blumenmädchen laut, und irgendwann blieb sie stehen, um den größten Teil einer toten Ratte aufzuheben und an ihren Busen zu drücken.

»Armes kleines Rattilein!«

»Äh, wie eklig!«, kommentierte Molly.

»Ich bestehe aus Blumen, Herzchen«, entgegnete das Blumenmädchen unbeirrt. »Und alle tote Geschöpfe sind Kompost für meine hübschen Blütenblätter.«

Sie ließ den Rattenkadaver ins Vorderteil ihres Kleids gleiten, und augenblicklich verschwand er. »Daran sollten Sie denken, wenn sie Sie das nächste Mal auffordert, ihr die Bluse aufzuknöpfen!«, empfahl mir Mr. Stich heiter.

Ich schaute entschlossen in eine andere Richtung. »Wenn sie anfängt, Eulengewölle auszuhusten, geht sie zurück!«

Wir gingen weiter, hinein in die Dunkelheit. Tunnel führte zu Tunnel, ein verschlungenes Labyrinth tief unter den Straßen Londons. Andere waren vor uns hier gewesen und hatten ihre Spuren auf den Backsteinmauern hinterlassen. Manche waren hoffnungsvoll; manche waren verzweifelte Botschaften an geliebte Personen, die jemals wiederzusehen keine Hoffnung mehr bestand. Es gab Pfeile, die in verschiedene Richtungen zeigten, und hier und da war sogar eine primitive Karte in den Stein geritzt. Freimaurersymbole, sonderbare Ausdrücke in alten, vergessenen Sprachen … Fast rechnete ich damit, Arne Saknussemms Initialen zu entdecken. Oder die Cave Carsons. Wir eilten weiter, folgten Mollys leuchtendem Pfeil. Ihr Schutzfeld dämmte den Dreck ein, sogar wenn wir ab und zu durch die widerlichen Fluten waten mussten, um zu einem anderen Tunnel zu kommen. Schade nur, dass sie nichts gegen den Gestank unternehmen konnte.

Wir blieben unvermittelt stehen, als Mr. Stich sich von der Gruppe trennte, um eine spezielles Teilstück der Backsteinmauer von Nahem zu untersuchen. Ich ging zu ihm, um ebenfalls einen Blick darauf zu werfen, aber die Mauer schien sich in nichts von den anderen, an denen wir vorbeigekommen waren, zu unterscheiden. Die runde Oberfläche troff vor Feuchtigkeit, als ob sie in der unangenehmen Hitze schwitzte, und die ursprüngliche Farbe des Backsteins verlor sich unter Schichten von angesammeltem Dreck und Massen von wulstigen Pilzen. Mr. Stich ließ seine Finger zärtlich über die Oberfläche streichen, ohne den dicken Rückstand, der an seinen teuren, maßgefertigten Handschuhen hängen blieb, zu beachten. Mein erster Gedanke war, dass es anscheinend klar umrissene Grenzen für Mollys Schutzfeld gab, der zweite, wirklich gar nichts selbst mit den Händen zu berühren, aber schnell wurde ich von Mr. Stichs Gesichtsausdruck abgelenkt. Er lächelte, und es war kein sehr nettes Lächeln.

»Ich erinnere mich an diesen Ort«, sagte er, und etwas in seiner sanften Stimme bewirkte, dass sich mir die Nackenhaare stellten. »Es ist lange her, seit ich hier unten war. Ich glaube, damals war dieser Abschnitt noch im Bau begriffen … Ich pflegte ständig hierherzukommen, um dem Lärm der Menschheit zu entrinnen … Ja, ich erinnere mich an diesen Ort.«

Er drückte auf einen bestimmten Stein, und dieser versank mit einem vernehmlichen Klicken in der Wand. Mr. Stich stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Mauer, und ein großer Abschnitt schwang langsam an verborgenen Gelenken nach innen. Dahinter lagen nur Finsternis und Stille. Mr. Stich winkte Molly ungeduldig zu sich, und sie streckte ihre beleuchtete Hand in die neue Öffnung. Wir drängten uns alle um sie herum, um zu sehen, was es zu sehen gab, aber Mr. Stich konnte es nicht abwarten; er fasste Molly an der Schulter und drängte sie hinein. Sie gingen vor in die Düsterkeit, und das Blumenmädchen und ich folgten ihnen auf dem Fuß.

Hinter der Backsteinmauer lag ein Raum, ein sehr geheimer Raum. Ich blieb reglos stehen, genau im Eingang, festgehalten von dem, was ich sah. Ich war angeekelt und entsetzt, und schrecklich wütend. Mein erster Gedanke war, dass es wie in einem gespenstischen Puppenhaus aussah. Der Raum war wie ein altes viktorianisches Wohnzimmer eingerichtet worden: wuchtige Möbel, dicke Teppiche, Stühle mit steifen Rückenlehnen zu beiden Seiten eines langen Esstischs mitsamt schwerem Tischtuch, Silbergedecken und Kerzenleuchtern. Sogar gerahmte Porträts an den Wänden.

Auf den Stühlen zu beiden Seiten des langen Tischs saßen tote Frauen, gekleidet nach der jeweiligen Mode ganz verschiedener Epochen, die Leichen alle in unterschiedlichen Stadien der Verwesung. Die abgeschlossene Umgebung hatte sie zu einem gewissen Grad konserviert, aber das trug nur zu dem Grauen bei. Die toten Frauen starren einander über den Tisch hinweg an. Manche hatten Augen; manche nicht. Manche hatten Gesichter; manche nicht. Sie alle trugen ihre Todeswunden offen zur Schau, und es gab so viele davon … Manchen war die Vorderseite ihres Kleids aufgeschnitten worden, um Körper zu enthüllen, die ausgehöhlt worden waren. Ein paar hielten Teetassen in ihren Krallenhänden, als ob sie alle an irgendeiner grässlichen Teegesellschaft teilnähmen.

»Hallo, Liebling!«, sagte Mr. Stich. »Ich bin wieder daheim.«

Molly sah zu mir zurück. »Davon hab ich nichts gewusst, Eddie, das schwöre ich!«

Ich trat vor und stellte mich zwischen sie und Mr. Stich. »Das ist krank! Nennen Sie mir einen guten Grund, weshalb ich Sie nicht auf der Stelle töten sollte!«

»Wie viele haben Sie über die Jahre hinweg umgebracht, junger Drood?«, entgegnete Mr. Stich, ohne mich auch nur anzusehen. Bedächtig schritt er die Reihe der Leichen ab, lächelte still vor sich hin, ließ seine Finger die Konturen der gebeugten Köpfe nachzeichnen, ohne sie dabei jedoch zu berühren. »Könnte ein Zimmer dieser Größe überhaupt alle aufnehmen, die Sie erschlagen haben? Ich weiß - Sie haben nur Befehle befolgt! Was Sie taten, taten Sie in nüchterner Pflichterfüllung; ich bin wenigstens ehrlich genug, Gefallen an dem zu finden, was ich mache.« Er beugte sich über eine graue Schulter, um in ein vertrocknetes Gesicht zu starren. »Ich unterhalte geheime Lager meiner Opfer in ganz London. In meinen verborgenen Verstecken, wo niemand sie je finden wird. Ich mag es, sie zu besuchen und … mit ihnen zu spielen. Ich genieße das Ambiente, und den Geruch … Als ob man nach Hause käme.«

Ich schaute Molly an. Ihre Miene war gezwungen und angespannt, aber die beleuchtete Hand, die sie in die Höhe hielt, war noch ruhig. »Was haben Sie noch gleich gesagt?«, murmelte ich. »Über Monster, die nicht immer Monster sind?«

»Ich habe es nicht gewusst!«, wiederholte sie. »Nicht einmal den Verdacht gehabt …«

»Sie wissen nichts über mich«, sagte Mr. Stich.

Er stand am anderen Ende des Tischs, groß und stolz wie ein typischer viktorianischer Patriarch, das Kinn hochgereckt, in den Augen ein schreckliches Leuchten. »Sie wissen nichts darüber, was mich antreibt, die Dinge zu tun, die ich tue. Einst faszinierten mich Frauen, und dann erfüllten sie mich mit Abscheu. Sie versprechen alles und halten nichts, sie lügen und betrügen. Ich nahm stolze Rache an ihnen, tat ihnen weh, wie sie mir wehgetan hatten, und gewann dafür viel … Doch nun ist die einzige Intimität, die ich je wieder erfahren kann, die mit meinen Opfern. Dieser Moment, wenn unsere Blicke sich begegnen, dieser kleine Seufzer, wenn die Klinge eindringt … das ist alles, was ich jetzt noch habe. Als ich gerade am Anfang stand, als alle mich Jack nannten, konnte ich nicht wissen, dass die Unsterblichkeit, die ich mir kaufte, die einer unsterblichen Tötungsmaschine sein würde. Getrieben zu töten und töten und niemals Ruhe oder Frieden zu finden. Ich mache immer weiter, in einer Welt, die immer weniger Sinn für mich macht, und alles, was mir geblieben ist, ist so viel wie möglich Freude aus meinem nie enden wollenden Schaffen zu ziehen …«

»Sie können ihn nicht töten, Eddie«, sagte Molly ruhig. »Sie können nicht. Nicht einmal ihre Rüstung könnte das rückgängig machen, was er sich selbst angetan hat.«

»Was ist mit Ihrer Hexerei?«, fragte ich.

»Fragen Sie mich das nicht! Er ist mein Freund gewesen. Er hat … gute Dinge getan, weil ich ihn darum gebeten habe.«

»Genug, um das hier gutzumachen? Und all die anderen geheimen Lager, von denen wir nichts wissen?«

»Fragen Sie mich das nicht! Nicht hier!«

Das Blumenmädchen schwebte anmutig im Raum herum, beugte sich über verdorrte Schultern, um in verfallene Gesichter zu schauen, und summte unterdessen ein fröhliches Lied vor sich hin. »Sie sollten sich das nicht so zu Herzen nehmen, Schätzchen. Alle lebenden Dinge haben ihre Wurzeln in toten Dingen. Das ist der Lauf der Welt.« Sie schob die Hand unter ihr Kleid und runzelte einen Moment lang bezaubernd die Stirn. Als sie die Hand wieder herauszog, lag ein Haufen Samen darin. Sie ging an beiden Seiten des langen Tischs auf und ab und ließ ein paar Samen in die offenen Münder und leeren Augenhöhlen jedes Leichnams fallen. »Lasst neues Leben sprießen!«, sagte sie. »Das ist der Lauf der Natur.«

Mr. Stich schaute sie an, und das Blumenmädchen begegnete seinem Blick mit einem glücklichen Lächeln, in dem keinerlei Angst lag. Und der Mann, der einst von einer ganzen entsetzten Stadt Jack genannt worden war, nickte langsam.

»Vielleicht werde ich wiederkommen, irgendwann in der Zukunft«, sagte er. »Um zu sehen, welches seltsame Leben hier erblüht ist.«

Ich tötete ihn nicht. Als Agent an der Front lernt man, dass man sich manchmal mit kleinen Siegen zufriedengeben muss.

* * *

Mr. Stich verschloss seine private Stätte, und wir gingen weiter durch die Abwasserkanäle, bis wir schließlich endlich das verborgene Reich der Gruppe des Manifesten Schicksals erreichten, ihr unterirdisches Königreich. Ich hatte einen weiten Weg zurückgelegt auf der Suche nach einem glaubwürdigen Widerstand gegen die jüngst aufgedeckte Tyrannei meiner Familie, und sie wären gut beraten, mich nicht zu enttäuschen. Ich brauchte jemand, auf den ich mich in dieser sich auf hinterhältige Weise verändernden Welt verlassen konnte, und diese Rolle sollten sie übernehmen. Sie sollten eine Waffe sein, die ich der Familie, die mich verraten hatte, entgegenschleudern konnte. Die Zugangsstelle war ein gewaltiges, kreisrundes Portal aus massivem Stahl, das bündig mit der alten Backsteinmauer abschloss. Vor dem Portal standen vier sehr große und muskulöse Männer, die öde, gänzlich schwarze Uniformen mit dezenten silbernen Paspeln trugen und mit schweren Automatikwaffen auf uns zielten.

»Kalteisen«, erklärte Molly und zeigte auf das Portal. »Hält Zauberei draußen. Sie sind sehr sicherheitsbewusst.«

Mr. Stich schnaubte verächtlich. »Es bräuchte mehr als das, um mich draußen zu halten, wenn ich rein wollte!«

»Ach, vergessen Sie doch mal Ihr schlimmes Ich!«, sagte das Blumenmädchen, und Mr. Stich überraschte uns alle mit einem kurzen, bellenden Lachen.

Ich rüstete hoch, als wir uns den bewaffneten Wachen näherten. Ich war noch nicht bereit, dem Manifesten Schicksal das Geheimnis meiner Shaman-Bond-Identität anzuvertrauen. Die Wachen waren beim Anblick meiner Rüstung, die golden in der Düsternis schimmerte, sichtlich beeindruckt, und nahmen schnell ihre Funkgeräte zur Hand, um von jemand Höhergestelltem Instruktionen einzuholen. Was sie durch ihre Ohrhörer hörten, beeindruckte sie offensichtlich noch mehr, und dann konnten sie das Portal nicht schnell genug für mich öffnen. Ich ging mit forschen Schritten auf sie zu, als ob ich eine solche Behandlung als mein Anrecht erwartete, und sie wichen zurück und hoben zur Ehrenbezeigung ihre Waffen. Alle bis auf einen, der immer noch den Weg versperrte, darüber aber nicht besonders glücklich wirkte.

Er lächelte nervös meine nichts sagende goldene Maske an, und seine Blicke huschten hin und her. Das Fehlen von Augen auf der Maske bringt die Leute echt ganz schön aus dem Konzept. Der Wachposten schluckte schwer. »Verzeihen Sie bitte, Sir, Herr Drood, aber … Wir haben Anweisung, Sie und die Hexe Molly Metcalf einzulassen, aber niemand hat etwas von Ihren … Begleitern gesagt. Vielleicht könnten sie hier warten, während Sie -«

»Nein!«, sagte ich. »Das glaube ich nicht. Dies sind das Blumenmädchen und Mr. Stich. Verärgern Sie sie auf eigene Gefahr!«

»Gehen Sie mir aus dem Weg, oder ich werde Sie filetieren!«, sagte Mr. Stich in seiner kältesten Grabesstimme. Die beobachtenden Wachen zogen sich noch weiter zurück, wobei einer leise Piepsgeräusche machte. Der Wachtposten vor uns sah aus, als ob er selbst gern ein paar Geräusche von sich gegeben hätte. Ich bedeutete ihm mit einer Handbewegung, uns hineinzuführen, und er nickte ruckartig. Molly löschte ihr Hexenfeuer, und wir vier betraten das supergeheime Hauptquartier des Manifesten Schicksals, als ob wir darüber nachdächten, den Ort zu kaufen. Das Blumenmädchen musste natürlich den Moment versauen, indem sie kicherte.

Ein kurzer Tunnel führte zu einem riesigen Raum, dessen Wände und hohe Decke vollständig mit glänzendem Stahl bedeckt waren. Ursprünglich vermutlich hinzugefügt, um Schutz vor den Auswirkungen einer atomaren Explosion zu bieten, jetzt aber nützlich, um Zauberei unter Kontrolle zu halten. Kein Wunder, dass meine Familie nie etwas von ihrer Existenz geahnt hatte! Man konnte nicht hoffen, durch so viel Kalteisen wahrsagen oder fernwahrnehmen zu können. Die Wache führte uns weiter durch noch mehr glänzende Stahlkorridore und -räume, und alles strotzte vor eindringlicher Effizienz. Da waren Reihen von Computern und Monitoren, Karten und Uhren und Einsatztischen und Massen von hochmodernen Kommunikationsanlagen. Es erinnerte mich an den droodschen Lageraum in etwas kleinerem Maßstab. Und überall waren große und prächtige Frauen und Männer in ihren schwarzen Uniformen, die an Bildschirmarbeitsplätzen saßen oder sich um Tische scharten oder mit wichtigen Nachrichten und ausgreifenden Schritten hin- und hergingen. Die Männer waren alle perfekte Exemplare ihres Geschlechts, die vor Gesundheit und Lebenskraft und Zielstrebigkeit strotzten. Perfekte Soldaten. Die Frauen waren hochgewachsen und geschmeidig und ebenso schwer bewaffnet wie die Männer. Walküren, Kriegerfrauen. Alle nickten mir respektvoll zu, als ich an ihnen vorbeikam. Ein paar nickten Molly vertraut zu. Niemand schaute Mr. Stich oder das Blumenmädchen direkt an. Ich warf einen Blick auf Molly: Sie wirkte nicht sehr glücklich.

»Sind Sie schon einmal hier gewesen?«, fragte ich sie leise.

»Nein. Ich war nie wichtig genug, um hierher eingeladen zu werden. Und ich muss sagen … es ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe. Die Atmosphäre dieses Orts gefällt mir nicht.«

Unser Führer brachte uns immer weiter, durch endlose, sich verzweigende Gänge, geleitete uns immer tiefer in dieses unvermutete Labyrinth tief unter den Straßen Londons. Ein stählerner Irrgarten, mit dem Oberhaupt des Manifesten Schicksals als seinem unbekannten Herzen.

»Was wissen Sie über diesen Mann, mit dem wir uns treffen wollen?«, fragte ich Molly flüsternd.

»Nicht viel«, antwortete sie genauso leise. »Sein Name ist Truman. Bin ihm nie begegnet und kenne auch keinen, der das wäre. Sie sollten sich geehrt fühlen, Eddie.«

»Oh, das tu ich!«, entgegnete ich. »Ehrlich! Das können Sie sich gar nicht vorstellen! Wie sind Sie überhaupt an diese Leute geraten?«

»Ich wurde vor vier Jahren rekrutiert«, berichtete Molly. »Von Solomon Kriegk.«

»Nun, von dem habe ich gehört«, sagte ich. »Der Golem mit dem Atomgehirn, stimmt's? Im Kalten Krieg ein Versuch, Zauberei und Wissenschaft zu kombinieren, um einen Kalter-Krieg-Supersoldaten hervorzubringen. Tödlich zu seiner Zeit und eine Legende in jenen geheimen Kriegen, von denen die Öffentlichkeit nie etwas erfährt; aber nach dem, was ich zuletzt gehört habe, ist er vom Frontdienst abgezogen worden.«

»Das ist er auch«, bestätigte Molly, »vor über zehn Jahren. Seine alten Herren brauchten ihn nicht mehr, aber man konnte ihn nicht einfach frei rumlaufen lassen, also haben sie ihn hier runtergeschickt, um die Bunker zu bewachen. Es heißt, sie haben ihn hier eingesperrt und dann sämtliche Kombinationen geändert, für alle Fälle. Das Manifeste Schicksal hat ihn gefunden, als sie hier eingezogen sind, wie er immer noch Wache stand, und Truman nahm ihn und gab ihm einen neuen Zweck. Der Golem mit dem Atomgehirn dient einer neuen Sache und einem neuen Glauben, und er würde für Truman sterben. Eine Loyalität wie diese kann man nicht kaufen.

Also durchstreift Solomon Kriegk die verborgenen Orte dieser Welt, ihre geheimen Schlupfwinkel und Clubs, und wirbt Leute wie mich als Verbündete für seine neue Sache an. Mich hat er im Wolfskopf gefunden. Er kann … sehr überzeugend sein. Und da ist er auch schon, direkt vor uns, und bewacht das Versteck seines Meisters.«

Mit sichtbarer Erleichterung und nicht geringer Eile übergab uns unser soldatischer Führer Solomon Kriegks Obhut und brachte gerade noch einen flüchtigen Gruß hin, bevor er auf seinen Posten am Eingangsportal zurückhastete. Ich musterte Kriegk unverhohlen. Eine Legende für sich genommen, die schrecklichste Geheimwaffe, die der britische Geheimdienst je hervorgebracht hatte. Der englische Assassine, der amerikanische Butzemann: Solomon Kriegk hatte viele solcher Namen über die Jahre hinweg. Aber an dem Golem mit dem Atomgehirn war nichts Romantisches. Auf seine Art war er fast so beunruhigend wie Mr. Stich. Ein Killer ohne Gewissen, ohne Mitgefühl und, wie viele sagten, ohne Seele. Der größte Geheimagent von allen, denn er würde absolut alles machen und niemals seine Befehle infrage stellen. Er war eine Schreckenswaffe aus der kältesten Zeit des Kalten Krieges, entworfen, um denjenigen, gegen die er vorging, dermaßen Angst einzujagen, dass sie sich die Hosen vollmachten.

Es war ein sehr kalter Kalter Krieg gewesen. Alle machten damals schreckliche Dinge.

Kriegk war ein wenig über eins achtzig groß, hatte pechschwarze Haare und eine blasse, farblose Haut, die auf schaurige Weise mit seiner schwarzen Uniform kontrastierte. Er war muskulös, aber nicht über die Maßen. Daher kam seine Kraft nicht. Kriegk war aus Lehm geschnitzt, mit uralten Zaubern zu Fleisch gemacht und anschließend mit implantierten Mechanismen überladen worden. Die beste Technologie seiner Zeit. Mitten über seine Stirn verlief eine lange, tiefe Narbe, die auf den alten Fotos, die ich von ihm gesehen hatte, normalerweise von Schminke verdeckt war. Es sah aus, als hätten sie ihm gerade die Schädeldecke abgesägt, ihr erstaunliches Atomgehirn hineingesteckt und dann den Deckel wieder draufgeballert. Es war kein subtiles Zeitalter damals.

Wie er einfach so vor uns stand, ruhig und gesammelt, das bleiche Gesicht bar jeder Emotion, sah Kriegk gefährlich aus. Wie eine zusammengeringelte Schlange oder ein kauernder Tiger, bereit, ohne Warnung jeden Moment zuzuschlagen und zu töten. Ich brauchte ihn nur anzusehen, und schon glaubte ich jede Schreckensgeschichte, die ich über ihn gehört hatte. Als er endlich sprach, war seine Stimme ein raues Wispern, gefühllos und ohne Modulation.

»Edwin Drood«, hob er an, und nur meinen Namen mit solch einer kalten Stimme ausgesprochen zu hören war, wie der Verkündung meines eigenen Todesurteils beizuwohnen. »Es ist richtig, dass Sie zu uns kommen. Nun, da Sie ein Vogelfreier sind. Sie verstehen, wie es ist, von denen verraten zu werden, denen Sie Ihr Leben geweiht haben. Sie müssen Mr. Truman kennenlernen. Er ist ein Mann mit Visionen und Bestimmung. Sie können ihm vertrauen.«

»Nun«, antwortete ich, »das ist gut zu wissen. Können meine Gefährten mitkommen?«

Solomon Kriegk betrachtete sie flüchtig mit seinem kalten, ungerührten Blick. »Sofern sie sich benehmen. Sie verstehen: Wenn sie aus der Reihe tanzen, werde ich ihnen unter Umständen den Hintern versohlen müssen.«

»Nur zu!«, sagte ich. »Ich werde Ihren Mantel halten.«

»Na, na, Solomon!«, sagte Molly. »Sie müssen sich doch an mich erinnern! Schließlich waren Sie es doch, die mich vor vier Jahren zum Manifesten Schicksal gebracht haben. Im Wolfskopf; wissen Sie noch?«

»Nein«, sagte Solomon Kriegk.

Er führte uns durch einen weiteren Stahlkorridor, um eine Ecke und in ein schlichtes, privates Büro. Und dort, hinter einem schlichten Schreibtisch, saß der Kopf des Manifesten Schicksals. Anführer der Widerstandsbewegung gegen die alte und mächtige Herrschaft der Droods. Er saß mit dem Rücken zu uns in seinem Drehstuhl und behielt ein Dutzend Bildschirme im Auge, die ihn mit Informationen bombardierten. Der Art nach zu urteilen, wie er seinen Kopf langsam hin und her bewegte, schien er alles in sich aufzunehmen, obwohl es für mich nur ein Gewirr aus zusammengemischten Geräuschen war. Er ließ uns eine Weile warten, nur um uns daran zu erinnern, wer hier der Boss war, und dann winkte er mit einer Hand in Richtung der Bildschirme, und alle schalteten sich gleichzeitig aus. Bedächtig drehte er sich herum, um uns anzusehen, indes Solomon Kriegk Stellung an seiner Seite bezog. Truman hatte ein breites, freundliches Gesicht, aber das war es nicht, was meine Blicke anzog. Ich hatte in meiner Zeit manchen seltsamen Anblick erlebt, aber was Truman mit sich angestellt hatte, war wahrhaft außergewöhnlich.

Aus seinem rasierten Kopf ragten, strahlenförmig und in regelmäßigen Abständen, lange Stahlstäbe fast vierzig Zentimeter weit heraus, verbunden durch ein breites Stahlband, wie ein großer Nimbus aus Metall. So, wie die Haut um die Eintrittsstellen der Stäbe herum Falten bildete, war davon auszugehen, dass sie sich schon eine Zeit lang dort befanden. Das Gewicht dieser Konstruktion musste entsetzlich sein, doch Truman zeigte keine Anzeichen von Belastung. Mein erster Gedanke war, dass er einen Unfall gehabt hatte und dies eine Art Kopfstütze war, aber der Stolz in seinen Augen und in seiner Körperhaltung legte eine andere Erklärung nahe.

Schauen Sie sich an, was ich mit mir gemacht habe!, sagte sein Gesicht. Ist es nicht großartig?

»Ja«, sagte er mit tiefer, befehlsgewohnter Stimme. »Es ist alles mein eigenes Werk. Ich selbst habe die Löcher in meinen Schädel gebohrt, die Stahlstäbe einen nach dem andern eingeführt und sie eine präzise Strecke in mein Gehirn hineingedrückt, wobei ich meinen eigenen, sehr sorgfältigen Berechnungen folgte. Und dann musste ich sie nur noch am Ende mit einem verstärkenden Ring verbinden, und ich wurde der erste Mensch, der das wahre Potenzial des menschlichen Gehirns erkannte. O ja, meine Freunde, diese Dornenkrone dient einem ganz bestimmten Zweck!«

»Wirklich?«, sagte ich. »Ich bin ja so froh, das zu hören!«

»Es erwuchs alles aus meinem Interesse für Akupunktur und Trepanation«, fuhr er in seiner vorbereiteten Rede fort, als ob er mich nicht einmal gehört hätte, und vielleicht hatte er das auch nicht. »Die Stäbe in meinem Gehirn aktivieren die Energiezentren, erweitern meine Gedanken und vergrößern die Kraft meines Geistes über alle normalen Grenzen hinaus. Mein Gehirn ist jetzt jedem Computer ebenbürtig, dazu in der Lage, unglaubliche Mengen an Informationen zu speichern, Entscheidungen in unerhörter Geschwindigkeit zu treffen und so viele Aufgaben gleichzeitig auszuführen, dass Sie es nicht für möglich halten würden. Mein Kopf enthält die gesamte Organisation des Manifesten Schicksals, bis hinunter zum kleinsten Detail. Nichts entgeht mir.

Ich kann all die wissenschaftlichen und magischen Kräfte in der Welt um mich herum wirken sehen, all die Dinge, die den meisten Sterblichen verborgen sind. Ich kann all die unsichtbaren und nicht greifbaren Bedrohungen für die Werke der Menschheit sehen. Und gleichzeitig bin ich unsichtbar und unverwundbar für all jene Kräfte, die mich zu Fall bringen würden, wenn sie könnten. Keine Wissenschaft und keine Zauberei kann mir jetzt etwas anhaben.«

Ich versuchte, ihn zu unterbrechen, aber er hatte gerade einen Lauf. Er musste das schon viele Male zuvor gesagt haben, zu neuen Rekruten, aber ich konnte erkennen, dass er es nie sattbekommen würde.

»Ich erschuf das Manifeste Schicksal durch die Kraft meines eigenen Willens, indem ich Leute zu mir brachte und sie von der Notwendigkeit einer Organisation wie dieser überzeugte. Gleichgesinnte mit aufrichtigen Herzen, die Körper und Seele der guten und nötigen Arbeit widmeten, die vor uns lag und liegt - die Menschheit endlich vom uralten Joch der Droods zu befreien. Jeden Tag ziehen meine Agenten durch die Welt, sammeln neue Verbündete, sabotieren die Drood-Infrastruktur und entreißen ihnen mit Zähnen und Klauen die Welt, Zentimeter um Zentimeter. Wir sind nicht stark genug, um uns auf einen direkten Kampf mit den Droods einzulassen - noch nicht. Aber schon bald werden wir es sein. Und dann … werden wir eine ganz neue Welt entdecken, in der die Menschheit nicht länger von den Droods am Gängelband geführt wird, in der wir endlich die Freiheit besitzen, unser Schicksal selbst zu bestimmen!«

Er beugte sich über seinen Schreibtisch nach vorn und fixierte mich mit seinem eindringlichen Blick. Er starrte direkt in die goldene Maske der Drood-Rüstung, aber es schien ihn nicht im Mindesten aus der Fassung zu bringen. »Schließen Sie sich uns an, Edwin! Sie wissen jetzt, dass alles, was Ihre Familie Sie gelehrt hat, eine Lüge ist! Glauben Sie mir: Es ist eine weit größere Ehre, eine Welt zu befreien, als sie zu beherrschen. Mit Ihrer Hilfe, mit dem, was Sie wissen, und mit den Geheimnissen Ihrer sagenhaften Rüstung … dem, was wir erreichen könnten, sind keine Grenzen gesetzt! Schließen Sie sich uns an, Edwin! Seien Sie mein Agent! Und ich werde Ihnen eine neue Sache und ein neues Ziel geben! Genau wie Solomon hier.«

Er lächelte dem künstlichen Mann, der neben ihm stand, kurz zu. »Mein treuer Solomon! Er war eine verlorene Seele, als ich ihn fand. Ausrangiert von seinen Schöpfern, verlassen von denen, denen er so loyal und so lange gedient hatte. Ein Krieger ohne einen Krieg. Ich öffnete ihm die Augen, zeigte ihm eine neue Sache, neue Möglichkeiten, und jetzt ist er ein Teil der großartigsten und wichtigsten Armee, die diese Welt je gekannt hat. Eine Organisation, die sich einem einzigen Ziel verschrieben hat: die Menschheit zu befreien.«

»Verraten Sie mir doch mal«, sagte ich, als er endlich innehielt, um Luft zu holen, »haben Sie angefangen, diese Ideen zu bekommen, bevor oder nachdem Sie begonnen hatten, sich Löcher in den Kopf zu bohren?«

Er glotzte mich einen Moment lang verständnislos an, und Solomon Kriegk regte sich ominös. Und dann lachte Truman, ein großes, offenes, fröhliches Geräusch, und Solomon entspannte sich wieder. Truman schüttelte langsam den Kopf, immer noch kichernd.

»Ich weiß; wenn ich erst mal angefangen habe, neige ich dazu, so schnell nicht mehr aufzuhören, nicht wahr? Aber von einem großen Mann erwarten die Leute eine große Rede, deshalb … Verdammt, es tut gut, jemanden hier zu haben, der sich nicht von mir einschüchtern lässt oder vor Ehrfurcht erstarrt! Haben Sie eine Vorstellung davon, wie schwierig es für mich ist, hier eine normale Unterhaltung zu führen? Es ist nicht leicht, einfach nur mit anderen Leuten am Wasserspender zu plaudern, wenn jeder bereitwillig jedem Wort, das ich von mir gebe, zustimmt, als ob es die Heilige Schrift sei … Geben Sie sich einen Ruck und schließen Sie sich uns an, Edwin, und sei es auch nur, damit ich jemanden um mich habe, der keine Angst hat mir zu sagen, wenn ich Scheiß labere!«

Er grinste mich an, und ich musste einfach zurückgrinsen. Ich mochte ihn inzwischen deutlich mehr, auch wenn ich ihm noch nicht völlig traute. Erste Regel eines Agenten: Wenn etwas zu gut aussieht, um wahr zu sein, ist es wahrscheinlich zu gut, um wahr zu sein. Truman richtete sein Lächeln auf Molly.

»Und wie geht es meiner kleinen Weggefährtin? Immer noch fleißig dabei, Chaos unter unseren Feinden zu verbreiten? Schön, schön … Sie haben recht daran getan, Molly, Edwin zu mir zu bringen. Ich kann mir vorstellen, wie sehr Sie ihn töten wollten; ich bin mir eurer gemeinsamen Vergangenheit wohl bewusst. Aber Sie können sich darauf verlassen, dass seine Anwesenheit hier alles ändert. Die Zeit naht, da wir das droodsche Herrenhaus mit Gewalt nehmen werden, und Sie haben mein Wort, dass Sie an diesem Tag bei uns sein werden und knöcheltief in Drood-Blut waten werden!«

»Sie wissen, was ein Mädchen hören will!«, sagte Molly.

Truman lächelte dem Blumenmädchen und Mr. Stich zu, wenn auch ein wenig distanzierter. »Seien Sie willkommen hier, meine Freunde! Hier gibt es gute Arbeit, mit der Sie sich befassen könnten, sollten Sie sich dazu entscheiden, sie anzunehmen. Falls nicht, so mögen Sie ungehindert und aus freien Stücken gehen!« Er sah wieder mich an, und sein Lächeln wurde wieder breiter. »Sagen Sie mir die Wahrheit, Edwin! Nun, da Sie das Manifeste Schicksal gesehen haben, was halten Sie davon?«

»Sie haben eine sehr eindrucksvolle Organisation«, antwortete ich vorsichtig. »Aber kommt Ihnen das alles nicht ein bisschen … arisch vor?«

»Teufel auch, nein!«, erwiderte Truman sofort. »Das war die Vergangenheit - wir interessieren uns nur für die Zukunft. Hier herrscht militärische Disziplin, weil man ohne nichts zuwege bringen kann. Und von allen wird erwartet, ihre volle Leistungsfähigkeit zu erreichen. Aber in erster Linie haben wir uns alle der Sache verschrieben, und erst dann kommen wir selbst.«

»Mir ist die Philosophie hinter Ihrer Sache noch nicht ganz klar«, sagte ich. »Freiheit ist ein wunderbares Konzept, aber in der Praxis ein bisschen nebulös. Meine Familie zu stürzen ist eine Sache; aber womit gedenken Sie sie zu ersetzen? Wofür, genau, tritt das Manifeste Schicksal ein?«

Truman setzte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete mich nachdenklich. Er lächelte jetzt nicht mehr; er wusste, dass einstudierte Reden auf mich keine Wirkung haben würden. Wie flüchtige Gedanken zeigten sich kurz winzige Funken in seinem Heiligenschein aus Stahlstäben. Als er schließlich sprach, wählte er seine Worte sorgfältig und richtete sie ausschließlich an mich und ignorierte alle anderen im Büro.

»Die Menschheit ist weich geworden«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. »Unter der Drood-Herrschaft hat sie ihren Mut und ihren Stolz verloren. Die Droods haben unfaire, nicht menschliche Vorteile eingesetzt, um uns wie Schafe an unserem Platz zu halten. Sie halten einen einschmeichelnden Status Quo aufrecht, der es außerirdischen und magischen Kräften und Kreaturen erlaubt, sich ungehindert in dem zu bewegen, was eigentlich immer unsere Welt sein sollte. Die Welt der Menschen. Die Macht der Droods über uns muss gebrochen werden, egal welche Mittel dafür notwendig sein sollten, sodass diese unmenschlichen Wesen aus unserer Welt vertrieben werden können und die Menschheit frei ist, ihr Schicksal endlich selbst in die Hand zu nehmen.«

»Und doch«, murmelte ich, »sind einige dieser Wesen Ihre Verbündeten. Die Abstoßenden Abscheulichen. Die Lauernden auf der Schwelle. Manche würden diese Wesen … böse nennen. Jedenfalls bringen sie der Menschheit bestimmt keine Liebe entgegen.«

Truman spreizte die Hände. »Ich führe einen Krieg, Edwin, gegen die gewaltigste Verschwörung, die diese Welt je gesehen hat, gegen einen mächtigen und unerbittlichen Feind. Ich muss mir meine Verbündeten suchen, wo ich sie finden kann. Wir arbeiten zusammen für eine gemeinsame Sache: den Sturz der Droods. Danach … werden die Dinge anders sein.«

Ich machte einen Schritt nach vorn, und Solomon Kriegk spannte sich an. Ich beugte mich vor über Trumans Schreibtisch, sodass er das Spiegelbild seines eigenen Gesichts in meiner goldenen Maske sehen konnte.

»Wenn Sie mich auf Ihrer Seite haben wollen, Truman, dann sagen Sie mir die Wahrheit! Die ganze Wahrheit. Und lassen Sie nichts aus! Aus dieser Nähe wird mir meine Rüstung verraten, wenn Sie lügen, auch wenn es dadurch sein sollte, dass Sie etwas verschweigen. Erzählen Sie mir alles, oder ich gehe auf der Stelle hier raus!«

Dass meine Rüstung ein Lügendetektor war, war ein Bluff, aber das konnte er nicht wissen. Wenn meine Rüstung zu so vielen erstaunlichen Sachen in der Lage ist, was war da schon eine mehr? Ich setzte darauf, dass Truman meine Geheimnisse und meine Rüstung so dringend in die Finger kriegen wollte, dass er mir Sachen erzählen würde, die er sonst keinem erzählen würde. Truman lächelte langsam, und in seinen Augen leuchtete die Freude dessen, der etwas weiß, was man selbst nicht weiß, und es nicht erwarten kann, einen damit zu beeindrucken. Erneut richtete er seine Worte nur an mich und ignorierte meine Bundesgenossen.

»Warum nicht?«, meinte er. »Ich wusste, dass Sie jemand sein würden, mit dem ich reden kann. Jemand, dem ich … alles anvertrauen kann. Die Wissenschaft entsprang dem Geist des Menschen. Sie gehört uns. Wir schufen sie, und wir kontrollieren sie. Zauberei … ist ein wildes Ding, unnatürlich und unkontrollierbar, und verfolgt stets ihre eigenen Absichten. Wir machen Gebrauch davon, wenn wir müssen, doch können wir ihr oder denen, die sie benutzen, niemals trauen. Wenn wir an die Macht kommen, dann wird die Wissenschaft die Zauberei ersetzen. Nur auf diese Weise kann die Menschheit wirklich unabhängig sein. Die Droods sind nur unser erster und wichtigster Feind; sobald sie gestürzt worden sind, werden wir auch jede andere Form von Magie und magischen Kreaturen ausmerzen, und die Menschheit wird endlich frei sein!«

Ich warf einen Blick auf Molly: Sie war stumm vor Erschütterung; aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen. Dies war offensichtlich alles neu für sie. Ich legte sanft eine goldene Hand auf ihren Arm, um ihr zu bedeuten, ihren Zorn im Zaum zu halten, bis wir alles gehört hatten. Dass noch mehr kommen würde, konnte ich in Trumans Gesicht lesen.

»Alle Unerwünschten eliminieren?«, fragte ich. »Das klingt nach einem gewaltigen Unterfangen.«

»Oh, das ist es auch!«, bestätigte Truman, immer noch lächelnd. »Aber wir haben einen guten Anfang gemacht. Möchten Sie es sehen?«

»Ja«, sagte ich.

»Ja«, sagte Molly.

Truman kicherte. »Warum nicht? Lassen Sie mich Ihnen die Zukunft zeigen, Molly! Sie werden sie … lehrreich finden. Kommen Sie mit, Sie alle!«, forderte er uns auf, sah dabei jedoch nur mich an. »Ich habe so lange auf jemanden gewartet, mit dem ich das hier teilen kann, Edwin. Jemanden, der verstehen würde. Kommen Sie mit, Edwin Drood, und sehen Sie, worum es sich beim Manifesten Schicksal eigentlich handelt!«

* * *

Solomon Kriegk war ganz und gar nicht glücklich über diese Entwicklung, doch Truman überstimmte ihn, wobei er am Ende recht scharfe Worte wählte. Also führte Kriegk uns zu den Ebenen unter den Bunkern in große Höhlen, die sie selbst aus dem Felsboden gehauen hatten, um das wichtigste Geheimnis des Manifesten Schicksals aufzunehmen. Etwas, das vor dem Fußvolk versteckt werden musste. Kriegk und Truman gingen voran, und ich folgte ihnen mit Molly und den beiden anderen hinter mir. Endlich steuerten wir auf das wahre Herz des Labyrinths zu, wo die letzte Wahrheit ihrer Enthüllung harrte.

Wir stiegen schweigend im Gänsemarsch über nackte Steintreppenschächte nach unten. Was immer vor uns lag, wir alle konnten fühlen, dass es näher kam - und es fühlte sich sehr kalt an. Molly hielt sich dicht hinter mir; ihr Gesicht war eine starre Maske. Truman tänzelte vor uns her und summte leise eine fröhliche Weise, die nur für ihn Sinn ergab.

Schließlich kamen wir in einer mächtigen Steinkaverne heraus, deren größter Teil im Dunkeln lag. Die Luft war kalt und feucht, und der Geruch erinnerte mich an die Abwasserkanäle. Es war ein kranker, fauliger Gestank, voller Schmutz und Schmerz und Tod. Sogar Mr. Stich rümpfte die Nase. Keiner von uns sagte etwas. Wir alle wussten, dass wir an einen bösen Ort gekommen waren, wo böse Dinge geschahen. Wir alle außer Truman, der immer noch seine fröhliche Weise summte. Mit einer großspurigen Geste schaltete er sämtliche Lichter auf einmal ein, und der Inhalt der Kaverne lag beleuchtet vor uns. Wir standen auf einem schmalen Laufgang auf halber Höhe der Höhlenwand und blickten auf eine lange Reihe von Zellen hinab, jede mit ihrem eigenen niedergeknüppelten Bewohner. Es erinnerte mich an Dr. Dees Anstalt in der Harley Street, außer dass es hier keine Käfige gab. Nur lange Reihen und Blöcke von Betonboxen mit nackten Betonböden und Toren aus Kalteisen. Keine Betten oder Stühle, nicht einmal Stroh auf den Betonböden; nur Gitterroste aus Eisen, um einige der Abfälle davonzutragen.

»Davon hab ich nichts gewusst!«, flüsterte Molly mir zu. »Ich schwöre, dass ich nichts davon gewusst habe!«

»Kommen Sie und sehen Sie, kommen Sie und sehen Sie!«, forderte Truman uns aufgeräumt auf und führte uns vom Laufgang herunter. Wir folgten ihm nach unten, und er ging fröhlich vor uns den Mittelgang entlang und präsentierte uns stolz den Inhalt seiner Zellen. Das Erste, was er uns zeigte, war ein Werwolf in voller Wolfsgestalt. Über zwei Meter von Kopf bis Schwanz, mit silbergrauem Fell, lag er mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Rücken auf dem Betonboden, festgehalten von Silbernägeln durch alle vier Gliedmaßen, wie ein auf dem Seziertisch ausgebreitetes Exemplar. Er winselte mitleiderregend, als wir hineinblickten.

»Wir müssen das machen«, erklärte Truman. »Andernfalls nagen sich die Bestien die eigenen Gliedmaßen ab, um zu entkommen. Tiere! Dennoch sind sie nicht lang genug hier, um schon viel gelitten zu haben.«

Alles, was ich sehen konnte, war das elementare hündische Leiden in den gefangenen Augen der Kreatur. Ich hatte nichts für Werwölfe übrig; zu viele ihrer halbgefressenen Opfer hatte ich in Dörfern und kleinen Städten schon gesehen. Aber das hier … auf diese Art behandelte man nicht einmal einen gehassten Feind.

Weiter die Reihe hinunter waren Vampire mit hölzernen Pflöcken, die ihnen mit Hämmern durch Arme und Beine getrieben worden waren, an den Betonwänden festgenagelt. Matt fletschten sie die Zähne und schnappten nach uns; das andauernde Leiden hatte alle Intelligenz aus ihrem Geist vertrieben. Dann kamen Elbenlords, ihres üblichen Staats beraubt und nackt bis auf die Haut, festgehalten von schweren Stahlketten. Das Kalteisen brannte sich schrecklich in ihr blasses Fleisch, wo es damit in Berührung kam, und verkohlte es bis auf die Knochen, aber nicht einer der Elben ließ sich zu etwas anderem herab, als uns höhnisch anzugrinsen, als wir hineinschauten: Ihren Stolz hatten sie immer noch. Greifen mit herausgeschnittenen Augen winselten erbärmlich in ihren Zellen. Sie mochten nicht mehr in die Zukunft blicken können, aber sie wussten alle, was auf sie zukam. Da war ein Einhorn, dessen Pracht sehr abgenommen hatte, denn man hatte ihm die Flügel gebrochen und sein Horn rücksichtslos aus der Stirn gerissen. Und ein Wasserelementargeist, der zu einer Eisstatue gefroren war. In seinen festen Augen lag noch entsetzliches Bewusstsein.

Kaltäugige, kühlgraue Eidechsenmänner von den stillen unterirdischen Wegen unter Südlondon; rauchgraue Gargoylen, geraubt aus den wenigen Kirchen und Kathedralen, die sie noch heimsuchten. Ein tonhäutiger Butzemann, dem beide Arme und Beine gebrochen worden waren und der sich über den Betonboden hin und her schleppte. Und etwas mit dem Gestank des Höllenschlunds an sich: ein echtes Halbblut, geboren aus der Wollust eines Dämons. Ein Sukkubus nimmt Samen auf von einem Mann, mit dem er schläft, und wechselt dann zu seiner männlichen Form, einem Inkubus, und legt diesen gestohlenen Samen in einer aufnahmebereiten Frau ab. Das Ergebnis: ein Menschenkörper mit einer Dämonenseele. Halb von dieser Welt und halb von der darunter. Sie kämpfen für die eine Seite oder die andere, beides und keins davon, und sie sind nicht annähernd so selten, wie sie es sein sollten. Dieses Halbblut wurde von einem Pentagramm in Schach gehalten, das tief in den Betonboden eingeritzt worden war.

Es neigte den Kopf spöttisch in Mr. Stichs Richtung, als ob es einem seinesgleichen seinen Gruß entböte. Sprechen konnte es nicht: Jemand hatte ihm die Zunge herausgeschnitten - nur für alle Fälle.

Immer wieder schaute Truman mich an und wartete darauf, dass ich etwas sagte, aber ich zügelte mich, während er mir Schrecken um Schrecken zeigte. So ziemlich alles, was hier zur Schau gestellt wurde, war böse oder hatte zu seiner Zeit Böses getan; aber nichts davon kam dem kaltblütigen Bösen gleich, was ihnen hier angetan worden war. In meiner Zeit als Drood-Agent hatte ich gegen viele Wesen, wie sie hier eingesperrt waren, gekämpft und sie getötet, aber das war immer in der Hitze des Kampfes geschehen. Ich hatte getötet, aber ich hatte nie gefoltert, mich nie an den unerträglichen Schmerzen meiner Feinde ergötzt. Das war nicht der Drood-Weg. Wir kämpften den guten Kampf, um die Welt sicher zu halten, und wir waren stolz darauf, diese Arbeit gut zu machen, doch das hier … das hier war eine Abscheulichkeit.

Die letzte Gefangene, in der letzten Zelle, war U-Bahn-Ute. Ihre schäbigen Kleider waren zerrissen und zerfetzt, und sowohl auf ihnen als auch auf ihrem Gesicht war Blut. Jemand hatte ihr die Scheiße aus dem Leib geprügelt. Man hatte ihr die Augen verbunden und sie an die Wand ihres Betonpferchs gekettet. Molly ging dicht an die Gitterstäbe heran; in ihrer Miene lag eine entsetzliche Kälte und in ihren Augen eine gefährliche Wut. Ich schaute Truman an.

»Das hier«, erklärte er stolz, »ist nur die heutige Ausbeute an Gefangenen. Arrogante magische Kreaturen, die die Menschheit aussaugen, überwältigt durch die Wissenschaft und das lautlose Vorgehen speziell ausgebildeter Soldaten. Meine Leute haben viel zu tun dieser Tage, denn sie machen Jagd auf dieses Ungeziefer und bringen es zur Eliminierung hierher. Wir können sie natürlich nicht in der Öffentlichkeit töten; das würde zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es ist besser, dieser magische Dreck weiß nicht, dass wir da draußen sind, auf ihrer Fährte … Ich wünschte, wir könnten uns die Zeit nehmen, uns ordentlich mit ihnen zu befassen, ihnen die Art von Tod zu geben, den sie verdienen. Sie leiden lassen, wie sie die Menschheit haben leiden lassen. Aber dieses Risiko dürfen wir nicht eingehen. Also bringen wir sie hierher, bis die Zellen voll sind, und dann töten wir sie auf humane Weise und übergeben ihre Körper den reinigenden Flammen. Es ist eine sehr wirkungsvolle Arbeitsweise; die Öfen werden niemals kalt. Darum kümmert sich Solomon. Eine nach der anderen, Kreatur um Kreatur, gewinnen wir unsere Welt von den Monstern zurück, die sie befallen haben.«

»Hier ist nur ein Monster«, sagte Mr. Stich, »und ausnahmsweise bin nicht ich es. Gibt es hier zufällig eine Zelle mit meinem Namen daran?«

»Nicht, solange Sie die Sache unterstützen«, sagte Truman und zwinkerte Mr. Stich tatsächlich schelmisch zu.

»Ich kenne diese Frau«, sagte Molly, die immer noch durch das Gitter aus Kalteisen auf U-Bahn-Ute starrte. »Sie ist meine Freundin.«

»Sie ist eine Blutsaugerin!«, sagte Truman energisch. »Sie stiehlt unschuldigen Männern und Frauen Glück und verkauft es an die, die es nicht verdienen! Sie ist nichts als ein weiterer Parasit der menschlichen Rasse!«

Molly wirbelte herum und funkelte ihn an. »Sie ist meine Freundin!«

Truman drohte ihr mit dem Finger wie einem aufsässigen Kind. »Schauen Sie mich nicht so an, kleine Hexe! Vergessen Sie nicht, wo Ihr Platz ist! Wir gestatten Ihnen, Ihre unnatürlichen Gaben für uns einzusetzen, und dafür dürfen Sie Teil der einzigen Organisation sein, die eine reelle Chance hat, die Droods, die Sie so sehr hassen, zu stürzen. Gehorchen Sie mir, und Sie werden gut belohnt werden in der Welt, die kommt. Es wird einen Platz geben für Sie und Ihresgleichen in der neuen Ordnung, aber nur, solange Sie nicht vergessen, wo Sie hingehören!«

»Das ist das Problem beim Tunnelblick«, sagte Molly. »Alles, was ich sehen konnte, war die Vernichtung der Droods, die Sie versprachen. Und als ich Ihrer Rekrutierungsrede zuhörte, hörte ich deshalb nur, was ich hören wollte. Aber endlich haben Sie mir die Augen geöffnet, Truman.« Sie drehte sich wieder zur Zelle hin. »Ute; ich bin's, Molly. Was meinen Sie, wie die Chancen stehen, dass alle Schlösser an all diesen Zellen aufgehen, alle auf einmal?«

»Nicht gut«, antwortete Ute durch aufgesprungene und geschwollene Lippen, »solange dieses Kalteisengitter meine Magie in Schach hält.«

Molly warf mir einen Blick zu. Ich packte das Stahlgitter mit einer goldenen Hand und riss es geradewegs aus seiner Betonverankerung. Molly gestikulierte einmal, und Utes Ketten fielen von ihr ab. Ute stand auf, streckte sich mühsam und nahm die Augenbinde ab.

»Bingo!«, sagte sie leise. Und jedes Schloss an jeder Zelle ging auf, alle auf einmal.

Truman glotzte mich verdutzt an, als ich das Stahlgitter zu einem Ball zusammenknüllte und ihn ihm dröhnend vor die Füße fallen ließ.

»Sie werden meine Familie niemals ersetzen«, sagte ich. »Sie denken zu klein. Und zu böse.«

Er drehte sich um und rannte und schrie Solomon Kriegk zu, uns aufzuhalten, während er Verstärkung holte. Der Golem mit dem Atomgehirn bewegte sich schnell und versperrte uns den Weg, während sein Meister auf allen vieren die Stufen zum Laufgang erklomm. Rings um uns ergossen sich Kreaturen aus ihren Pferchen, schwankend und taumelnd, endlich frei. In der Ferne plärrten Sirenen. Molly und das Blumenmädchen halfen U-Bahn-Ute, aus ihrer Zelle zu wanken, während Mr. Stich und ich Solomon Kriegk entgegentraten.

Zum ersten Mal lächelte die künstliche Kreatur, und in dem Lächeln lag kein Humor, nur eine schreckliche Befriedigung, dass er endlich dazu kommen würde, das zu tun, wofür er gemacht war. Er hob eine Hand, und eine Gewehrmündung schob sich durch einen Schlitz in seinem Handgelenk. Er bestrich Mr. Stich und mich mit Maschinengewehrfeuer, konnte aber keinen von uns verletzen. Kugeln prallten harmlos von meiner gepanzerten Brust ab und schienen durch Mr. Stich durchzufliegen, als ob er nichts als Rauch sei. Kriegk wechselte sein Ziel und visierte die drei Frauen an, aber ich bewegte mich schnell, um sie abzuschirmen. Kriegk hob die andere Hand, und ein versteckter Flammenwerfer in seinem anderen Arm badete meine Rüstung in flüssigem Feuer. Die Hitze war offenbar so entsetzlich, dass sogar Mr. Stich zurückzuckte, aber ich spürte nichts.

Solomon Kriegk stellte seine Flammen ab und runzelte tief die Stirn, als ob er sich auf ein schwieriges Problem konzentrierte. Dicke Funken statischer Elektrizität erschienen spontan um seinen Kopf herum, wie ein Glorienschein aus elektrischen Fliegen. Sie zischten und knisterten, wurden wilder und kräftiger, und jagten dann auf Mr. Stich zu wie ein Hammerschlag entfesselter Energien. Die Druckwelle riss ihn von den Füßen und schleuderte ihn mehr als fünf Meter durch die Luft, bevor sie ihn mit verheerender Wucht gegen eine Betonwand knallte. Unter der Gewalt des Aufpralls zerbröckelte die ganze Wand und begrub Mr. Stich unter einem Trümmerhaufen. Solomon Kriegk, der Golem mit dem Atomgehirn. Er wandte sich mir zu, und ich nahm meinen Mut zusammen. Früher einmal hätte ich darauf vertraut, dass meine Rüstung mich selbst vor einem Angriff wie diesem schützen würde, aber nach dem Zwischenfall mit dem Elbenlordpfeil war ich nicht mehr so zuversichtlich wie früher einmal. Trotzdem wich ich nicht von der Stelle. Ich war alles, was zwischen den drei Frauen und Kriegks atomarem Angriff stand.

Und das war der Moment, als die entkommenen Gefangenen über Kriegk herfielen wie ein Rudel heulender Wölfe. Menschen und Nichtmenschen, Dämonen und Geschöpfe der Nacht, sie fielen über ihren gemeinsamen Feind her und suchten ihn durch das schiere Gewicht ihrer Anzahl herunterzuziehen. Klauen und Reißzähne rissen an seinem farblosen Fleisch, doch kein Blut floss. Kriegk wankte unter ihrem Ansturm, doch er fiel nicht. Er schlug mit seinen maschinengetriebenen Armen um sich, warf tote und gebrochene Körper mit entsetzlicher Stärke hierhin und dorthin und wich keinen Zentimeter von der Stelle. Noch mehr Gefangene kamen aus allen Richtungen angerannt, versessen auf eine Chance, ihren verhassten Gefängnisaufseher und Scharfrichter zu Boden zu zerren.

Während Kriegk völlig in Anspruch genommen war, eilte ich hinüber zu den Trümmern, um nach Mr. Stich zu suchen, aber er erhob sich bereits, gänzlich unversehrt, und bürstete sich pedantisch den Staub von Rock und Abendmantel. Er bückte sich, um seinen Zylinder wieder an sich zu nehmen, und setzte ihn sich lässig wieder auf. Er mochte der schlimmste Serienmörder der Geschichte sein, aber der Mann hatte Stil. Er blickte um sich auf die Reihe der Betonpferche und schüttelte bestimmt den Kopf.

»Nein. Dafür will ich nicht stehen. Mir sind die Freuden des Leidens und Niedermetzelns nicht unbekannt, Edwin, aber das hier … Es gibt ein paar Sachen, die ein Gentleman einfach nicht macht!«

Und er ging mit mir zwischen den Zellen hindurch und half die zu befreien, die sich nicht selbst befreien konnten. Die Werwölfe und die Vampire und dergleichen. Es ging mir gegen den Strich, solche bösartigen und tödlichen Kreaturen zu befreien, nachdem ich sie jahrelang gejagt und getötet hatte, aber ich konnte sie nicht hier lassen. Für die Öfen. Wie Mr. Stich gesagt hatte: Manche Dinge gehen einfach zu weit.

Das Dämonenhalbblut ließen wir natürlich, wo es war. Wir waren ja nicht blöd.

Wir kamen von den Betonpferchen zurück und stellten fest, dass Solomon Kriegk immer noch stand, umringt von den Körpern der Toten und Gefallenen. Das Blumenmädchen warf sich auf ihn und schrie etwas Obszönes auf Altwalisisch. Atomare Kräfte brachen aus der Narbenstirn des Golems, trafen das Blumenmädchen und sprengten sie in einem Schauer von Rosenblättern in die Luft. Die Blätter wirbelten in schnellen Kreisen in der Luft, und dann verwandelten sie sich, wurden zu einem Rasiermessersturm aus tausend schneidenden Eulenkrallen. Sie trafen Solomon Kriegk wie ein tödlicher Hagelsturm, zerrten und rissen an seinem bleichen Fleisch, aber noch immer hielt er stand und wollte nicht fallen. Ich hätte ihn vielleicht bewundert, wenn ich ihn nicht so sehr gehasst hätte. (Die Öfen werden niemals kalt …) Schließlich brach der Rasiermessersturm zusammen, erschöpft, und ich ging vorwärts, um mich mit dem Golem mit dem Atomgehirn zu schlagen. Ich musste jemanden bestrafen für das, was hier getan worden war, und er kam mir gerade recht. Ich gebe mir ja alle Mühe, aber manchmal bin ich kein sehr netter Mensch.

Die Geschöpfe der Nacht wichen zurück, als ich durch ihre Mitte schritt. Sie erkannten die goldene Rüstung. Solomon sah mich kommen und lächelte wieder. Sein Gesicht hing nach dem Angriff des Blumenmädchens in Fetzen von zerkratzten und eingeschnittenen Knochen herab und ein Auge war nur noch eine leere rote Höhle, aber dennoch lächelte er. Er gab sich erst gar nicht mit seinem eingebauten Maschinengewehr oder dem Flammenwerfer ab. Trat einfach vor und versetzte mir einen Faustschlag, hinter dem seine ganze mechanisierte Stärke steckte. Ich hörte, wie die Knochen in seiner Hand brachen, als seine Faust harmlos von meiner goldenen Maske abglitt. Ich packte seinen Arm mit beiden Händen, bevor er ihn zurückziehen konnte, und zerbrach ihn über meinem Knie wie ein Stück Reisig. Zertrümmerte Technologiesplitter flogen aus der klaffenden Wunde. Solomon Kriegk grunzte einmal, aber das war alles. Ich ließ seinen Arm los und packte seinen Kopf und zog ihn nach vorn und herunter. Er kämpfte mit seiner ganzen sagenhaften Stärke gegen mich an, aber es war nicht genug. Atomare Kräfte schimmerten und zischten in der Luft, als er sich verzweifelt abmühte, einen Angriff zusammenzubringen. Ich riss ihm ohne viel Federlesens entlang der alten vernarbten Naht den oberen Teil des Kopfs ab, griff mit der anderen Hand hinein und zerrte sein Atomgehirn heraus.

Einen Moment lang hielt ich es in meiner goldenen Hand und musterte es, jenen ekelhaften Triumph Kalter-Krieg-Technologie, und dann ließ ich es fallen und stampfte darauf. Das Gehirn zersprang in tausend Stücke, und Solomon Kriegs leerer Körper fiel zuckend auf den Boden. Ich ging weg, und die Geschöpfe der Nacht fielen über den Körper her, rissen ihn in Stücke, rasend vor Wut und Rachgier.

Und das war der Moment, als sich vor uns in der Luft ein Raumportal öffnete und eine Armee schwarz uniformierter Soldaten des Manifesten Schicksals herausgeströmt kam, die, sobald sie uns erblickten, mit Automatikwaffen das Feuer eröffneten. Kugeln prallten von meiner Rüstung ab, aber ich konnte nicht jeden abschirmen. Rings um mich fielen schreiend und sterbend gerade erst befreite Gefangene. Ich ließ goldene Stacheln auf meinen gepanzerten Fäusten wachsen und stürmte mitten unter die ankommenden Soldaten. Ich streckte Männer und Frauen nieder, während sie ihr Bestes gaben, mich zu töten, und sie standen nicht wieder auf. Aber immer mehr Soldaten ergossen sich aus dem Portal, die Gesichter brennend mit der Wildheit der wahren Fanatiker. Ich brach Köpfe und Hälse und schleuderte Männer und Frauen mit tödlicher Gewalt durch die Luft, aber immer noch mehr von ihnen strömten an mir vorbei wie ein Fluss um einen einzelnen Felsen.

Ich kämpfte weiter. Es war ein gutes Gefühl, sie niederzustrecken. Das Manifeste Schicksal hatte mich verraten, indem es nicht die Hoffnung war, die ich so verzweifelt brauchte.

Mr. Stich trat vor und stellte sich an meine Seite; in seiner Hand glänzte durstig ein langes Skalpell. Nichts, was die Soldaten machten, konnte ihm etwas anhaben, und mit eleganter Geringschätzung mähte er alle nieder, die in seine Reichweite kamen. Wie er so inmitten von Blut und Gemetzel stand, war er endlich in seinem Element. Geschöpfe der Nacht, verletzt und geschwächt wie sie waren, kämpften grimmig mit den schwarz gekleideten Soldaten, und überall war Blut und Schreien. Schritt für Schritt hielten wir den Vormarsch der Soldaten auf, und Schritt für Schritt trieben wir sie zurück. Vielleicht weil ihr Fanatismus unserer Wut nicht ebenbürtig war. Wir drängten vorwärts, über ihre Toten und über unsere, bis schließlich die letzten Soldaten kehrtmachten und zurück durch das Raumportal flohen und es von ihrer Seite aus geschlossen wurde.

Ich stand in meiner blutbespritzten Rüstung zwischen den Toten und hob triumphierend eine dornige Faust. Und überall um mich herum heulten die Geschöpfe der Nacht ihren Triumph und meinen Namen.

Molly schrie immer wieder meinen Namen, bis ich endlich die Faust senkte und sie ansah. »Eddie! Wir müssen hier raus! Truman hat mit Sicherheit Notfallpläne für den Fall eines Massenausbruchs, und ich glaube wirklich nicht, dass wir hier sein wollen, wenn er sie in die Tat umsetzt.«

Ich nickte und schritt zu ihr hinüber, wobei ich schwarz uniformierte Leichen aus dem Weg trat. Blut tropfte zäh von meinen Händen, als ich die Dornen verschwinden ließ. Meine Atmung verlangsamte sich und mein Kopf wurde klar. Mr. Stich ging neben mir ohne einen Tropfen Blut auf seiner eleganten Kleidung.

»Ich weiß, dass Sie Truman tot haben wollen«, sagte Molly. »Das will ich auch. Aber wir haben im Augenblick keine Möglichkeit, an ihn heranzukommen.«

»Einverstanden«, stimmte ich ihr zu. »Seine Zeit wird kommen. Irgendwelche Vorschläge, was wir als Nächstes machen?«

»Ich öffne selbst ein Raumportal, und wir alle machen, dass wir hier rauskommen und zerstreuen uns in der Nacht.«

»Klingt nach einem Plan für mich«, sagte ich. »Wo ist das Blumenmädchen?«

»Oh, die wird sich wieder zusammensetzen im Lauf der nächsten paar Tage, irgendwo, wo sie sich sicher fühlt.« Sie blickte Mr. Stich an. »Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie sich um Ute kümmern? Ich muss bei Drood bleiben. Wir haben Rachepläne zu schmieden.«

Er neigte huldvoll den Kopf. »Selbstverständlich, meine Liebe. Sie wird bei mir sicher sein. Sie haben mein Wort darauf.«

Und eigenartigerweise glaubte ich ihm. Ich nahm nicht an, dass er Molly belügen würde. Er bot U-Bahn-Ute seinen Arm an, und sie stützte sich dankbar darauf. Molly öffnete ein Raumportal, und wir schafften die überlebenden Gefangenen so schnell wir konnten hindurch. Ich sah in einem fort um mich, gefasst auf einen neuerlichen Überraschungsangriff, doch der erfolgte nicht. Die große Kaverne blieb so still wie ein Massengrab. Am Ende waren nur noch Molly und ich übrig.

»Jetzt hätten wir also zwei Todfeinde auf unsern Fersen«, sagte ich. »Meine Familie und das Manifeste Schicksal. Dieser Tag wird immer besser! Gibt es überhaupt noch jemand, dem wir trauen können?«

»Vielleicht«, sagte Molly. »Ein paar Namen fallen mir schon ein. Aber auch wenn es nur Sie und ich wären, würde ich nicht klein beigeben oder mir die Augen aus dem Kopf weinen. Ich will Gerechtigkeit, auch wenn ich alle anderen auf der Welt töten muss, um sie zu bekommen!«

»Wissen Sie«, meinte ich, »Sie hätten eine gute Drood abgegeben.«

»Das ist aber jetzt schlichtweg gemein!«, beschwerte sie sich.

Wir gingen durch das Portal, zurück nach oben in die kalte, saubere Luft Londons.

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