58 Wie der amerikanische Kapitän anstelle der fünftausend Francs, die ihm zustanden, fünfundvierzigtausend Francs erhielt

Die Ohnmacht des amerikanischen Kapitäns währte nicht lange. Keine Sekunde lang hatte Surcouf ernsthaft in Betracht gezogen, das Todesurteil vollstrecken zu lassen. Nachdem er mit dem erfahrenen Blick des Kriegers erkannt hatte, aus welch vortrefflichem Holz dieser Mann geschnitzt war, war es ihm darum zu tun gewesen, in dessen Geist einen dauerhaften Eindruck zu hinterlassen, und das war ihm gelungen. Sein Entschluss hatte festgestanden: dem vormaligen Sklavenhändler nicht nur das Leben zu retten, sondern ihn obendrein nicht gänzlich zu ruinieren.

Surcouf ordnete daher an, Kurs auf Rio de Janeiro zu nehmen, das achtzig bis neunzig Meilen in südwestlicher Entfernung lag.

Rio de Janeiro war einer der profitabelsten Sklavenmärkte ganz Südamerikas, und es stand außer Frage, dass Kapitän Harding dort so manchen Sklavenhändler kannte. Sobald Surcouf in der Bucht Anker geworfen hatte, ließ er ihn an Bord der Revenant holen.

»Monsieur«, sagte er zu ihm, »als Sie im Begriff standen, Ihr Leben zu verlieren, hatten Sie nur eine Bitte: die, dass man Ihrer Witwe die fünftausend Francs aushändigen möge, die sich in Ihrer Schublade befinden; heute will ich Ihnen einen einträglicheren Handel vorschlagen. Sie befinden sich in einem Hafen, in dem Sie die achtzig Negersklaven, die Ihnen geblieben sind, mit größtem Vorteil veräußern können; ich ermächtige Sie, dies zu tun und den Erlös zu behalten.«

Harding machte eine überraschte Geste.

»Warten Sie, Monsieur«, fuhr Surcouf fort. »Ich habe auch eine Bitte an Sie. Einer meiner Männer, mein Sekretär – eigentlich eher mein Freund als mein Bediensteter -, hat Interesse an Ihrer kleinen Slup.«

»Sie können sie ihm geben, Sir«, sagte Harding. »Wie alles, was ich besaß, gehört sie Ihnen.«

»Gewiss, doch René ist so stolz, dass er sie weder von mir noch von Ihnen als Geschenk annehmen würde; er wird darauf bestehen, Ihr Schiff zu kaufen; es liegt ganz in Ihrer Hand, in Anbetracht dessen, was Sie soeben sagten – dass diese Brigg Ihnen nicht mehr gehöre -, dem Mann, der Ihnen das Schiff abkaufen will, das er beanspruchen könnte, ohne etwas dafür zu bezahlen, einen günstigen Kaufpreis anzubieten.«

»Sir«, erwiderte Harding, »Ihr Betragen in dieser Sache ist mir Richtschnur für das meine: Setzen Sie den Preis für meine Slup fest, und ich werde sie ihm für die Hälfte des Schätzpreises abtreten.«

»Ihre Slup, Monsieur, ist zwischen achtundzwanzigtausend und dreißigtausend Francs wert. René wird Ihnen fünfzehntausend Francs zahlen, und Sie werden ihm dafür die Schiffspapiere übereignen und das Recht, unter amerikanischer Flagge zu segeln.«

»Wird es nicht zu Schwierigkeiten kommen«, fragte Harding, »wenn man merkt, dass der Schiffseigner Franzose ist?«

»Wem soll es auffallen?«, fragte René, der in seiner Funktion als Dolmetscher an dem Gespräch teilgenommen hatte.

»Es ist nicht so einfach«, sagte Harding, »die englische Sprache so gut zu sprechen, dass niemand merkt, dass man kein Engländer ist, insbesondere für einen Franzosen. Dieser Herr ist der erste Franzose«, fuhr er fort und deutete auf René, »dem ich begegnet bin, der sich ohne Weiteres als Engländer ausgeben könnte.«

»Nun, Monsieur, da ich es bin, der Ihr Schiff zu erwerben wünscht«, sagte René, »sind keine Schwierigkeiten dieser Art zu gewärtigen. Lassen Sie den Konsul Ihres Landes den Kaufvertrag vorbereiten, und bringen Sie Ihr Geld und Ihre übrige Habe an Land. Hier haben Sie einen Wechsel auf fünfzehntausend Francs, einzulösen bei dem Bankhaus David &Söhne in New York. Geben Sie mir eine Quittung.«

»Aber den Wechsel«, sagte Harding, »können Sie mir geben, wenn ich den Vertrag bringe.«

»Sie müssen sich vorher vergewissern können, dass er auch gedeckt ist, denn Monsieur Surcouf und ich wollen heute Abend oder spätestens morgen früh in See stechen.«

»Wie lautet der Name des Käufers?«, fragte Harding.

»Ganz wie Sie wollen«, erwiderte René lachend. »Fielding aus Kentucky, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Harding erhob sich und fragte, wann es René recht sei, den Vertrag zu unterzeichnen.

»Sagen Sie mir, wann Sie sich bei Ihrem Konsul einfinden wollen, und ich werde dort sein.«

Surcouf wurde befragt und sagte, er gedenke erst am nächsten Morgen abzulegen. René und Kapitän Harding verabredeten sich daraufhin für vier Uhr nachmittags. Um fünf Uhr war die Runner of New York John Fielding aus Kentucky übereignet. Um sechs Uhr hatte Kapitän Harding seine fünfzehntausend Francs erhalten, und um sieben Uhr waren zweihundert Matrosen beziehungsweise Soldaten der englischen Marine, die in Rio de Janeiro bleiben wollten, dem britischen Konsul anvertraut worden, um gegen eine gleich große Anzahl französischer Gefangener ausgetauscht zu werden. Und am nächsten Tag waren alle drei Schiffe bei Tagesanbruch bereit, in See zu stechen, und segelten gemeinsam dem Kap der Guten Hoffnung entgegen.

Wie von Surcouf beschlossen, verließen die jungen Mädchen die Revenant und kamen auf die Standard, wo René über sie wachen konnte. Beide hatten ihn voller Freude begrüßt, denn allein und hilflos hätten sie nie und nimmer die Reise nach Rangun bewältigen können. Keine der beiden war je zuvor in Indien gewesen; Hélène, die ältere der Schwestern, hatte in London einen Offizier der indischen Armee kennengelernt, der in Kalkutta stationiert war, und die Familien hatten vor der Abreise der jungen Mädchen und ihres Vaters vereinbart, dass Hélène de Sainte-Hermine und Sir James Asplay in Indien das Band der Ehe knüpfen sollten. Jane, die jüngere, sollte mit ihrem Vater den Besitz weiterführen, bis auch sie verheiratet wäre; je nachdem, ob das junge Ehepaar mit dem Vater zusammenwohnen oder ob dieser abwechselnd bei der einen und der anderen Tochter wohnen wollte, würde man Rangoon House behalten oder verkaufen.

All diese Pläne hatte der Tod des Vicomte de Sainte-Hermine zunichtegemacht. Ein neuer Plan war vonnöten; und in ihrer Trübsal über die Heimsuchung, die sie ereilt hatte, waren seine Töchter außerstande, ihre Zukunft zu planen. Nichts Besseres konnte ihnen also geschehen, als zu dem Zeitpunkt, da ein Vater ihnen fehlte, auf einen jungen Mann zu treffen, der ihnen mit brüderlicher Zuneigung begegnete. Und dank des guten Wetters, das Surcouf von Rio de Janeiro bis zum Kap der Guten Hoffnung die Treue hielt, gestalteten sich die Überquerung des Ozeans und das Überwechseln von einer Welt in eine andere wie ein harmloser Spaziergang. Nach und nach stellte sich zwischen den drei jungen Leuten eine behutsame Vertraulichkeit ein, die in Hélène zu ihrer großen Freude die Hoffnung weckte, in dem bezaubernden René den Mann gefunden zu haben, der Jane bald genug nach ihrer eigenen Hochzeit zu seiner Gattin machen würde.

Die beiden Schwestern waren musikalisch, doch seit dem Tod ihres Vaters hatte keine von ihnen das Klavier angerührt. Oft lauschten sie ein wenig wehmütig den Seemannsliedern, während das Schiff auf den Flügeln der Passatwinde wie von allein seinem Ziel entgegenzueilen schien.

Während einer dieser schönen Nächte, die nichts mit Dunkelheit oder Finsternis zu tun haben, sondern nur des Tageslichts ermangeln, wie Chateaubriand bemerkte, erklang von der Schanze eine jugendliche Stimme, die ein kummervolles bretonisches Lied sang. Bei den ersten Tönen legte Hélène René die Hand auf den Arm, um ihn um Schweigen zu bitten; es war die Geschichte eines jungen Mädchens, das unter der Schreckensherrschaft den Edelmann seines Dorfes rettet und an Bord eines englischen Schiffs bringt, von der Gewehrkugel einer Wache tödlich getroffen wird, weil es auf deren »Wer da?« nicht antwortet, und in den Armen des Geliebten stirbt. Als die klagenden Töne verstummten, baten die jungen Mädchen mit Tränen in den Augen René, den Sänger um das Lied zu bitten. René erwiderte, dies sei nicht nötig, er glaube sich der Worte zu entsinnen, und um die Melodie zu rekonstruieren, benötige er nur ein Klavier, liniertes Papier und eine Schreibfeder. Sie begaben sich in Hélènes Kabine. René senkte den Kopf in die Hände, besann sich einen Moment lang und begann dann zu schreiben; ohne innezuhalten schrieb er das Lied von Anfang bis Ende nieder, stellte das Geschriebene an den Notenständer des Klaviers und begann mit sanfter und ausdrucksvoller Stimme das bezaubernde Duett zu singen.

Bei der Reprise des letzten Couplets hatte René die Worte: »Ich liebe ihn! Ich liebe ihn! Ich liebe ihn dennoch!« so inbrünstig gesungen, dass man hätte meinen können, diese naiven Worte drückten seine eigene Geschichte aus und seine gewöhnliche Melancholie sei dem Tod seiner Geliebten oder deren Verlust für immer geschuldet; der schmerzliche Klang seiner Stimme vibrierte in den Herzen der beiden Mädchen, berührte ihre zartesten und wehmütigsten Fibern und verband sie mit seinem Herzen.

Die Uhr an Bord zeigte die zweite Stunde nach Mitternacht, als René in seine Kabine zurückging.


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