62 Die Runner of New York

Am nächsten Tag sprach René bei Surcouf vor, sobald es hell war; Surcouf lag noch im Bett, war aber schon wach.

»Mein lieber René«, sagte Surcouf, als René eintrat, »Sie laden uns zu einem Frühstück im Grünen ein und verwöhnen uns mit einem wahrhaft königlichen Festschmaus. Das Frühstück im Grünen hätte ich angenommen, aber ich muss Sie warnen, dass Bléas und ich übereingekommen sind, uns die Kosten für diesen Ausflug mit Ihnen zu teilen.«

»Verehrter Kommandant«, sagte René, »ich will Sie um einen Gefallen bitten, der mich verpflichten wird, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um Sie zufriedenzustellen.«

»Sprechen Sie, mein Lieber, und sofern die Sache nicht völlig unmöglich ist, sei Ihre Bitte Ihnen im Voraus gewährt.«

»Ich möchte Sie bitten, mich unter einem beliebigen Vorwand an die Küste von Pegu zu schicken. Sie sind auf der Île de France monatelang festgehalten, und ich bitte Sie um sechs Wochen Urlaub; danach werde ich mich Ihnen anschließen, wo immer Sie sich befinden mögen.«

»Ich verstehe«, sagte Surcouf und lachte. »Ich habe Sie zum Vormund der zwei hübschen Mädchen ernannt, deren Vater wir unbeabsichtigt getötet haben, und Sie wollen Ihre Vormundschaft mit größter Gründlichkeit erfüllen.«

»Was Sie sagen, ist so unwahr nicht, Monsieur Surcouf; doch als jemand, der in Ihren Gedanken mehr liest, als Ihre Worte sagen, will ich Ihnen verraten, dass mich nicht die Liebe zu dieser Fahrt veranlasst, zu der ich bereits entschlossen war, als ich dem Sklavenhändler sein Schiff abkaufte, vorausgesetzt, ich erhielte Ihre Erlaubnis. Ich weiß nicht, wie mein Geschick beschaffen ist, doch es würde mich verdrießen, der indischen Küste so nahe gewesen zu sein, ohne eine der famosen Tigeroder Elefantenjagden mitgemacht zu haben, die den Teilnehmern ein stärkeres Lebensgefühl vermitteln, weil sie dem Tod ins Auge geblickt haben. Und bei dieser Gelegenheit will ich die zwei Waisen nach Hause geleiten, denen ich eine Anteilnahme entgegenbringe, deren Grund ich niemals verraten werde. Sie denken an Liebe, verehrter Kommandant; ich zähle noch keine sechsundzwanzig Jahre, doch mein Herz ist so tot, als zählte ich ihrer achtzig. Ich bin dazu verurteilt, mir die Zeit zu vertreiben, mein lieber Surcouf. Und ich würde sie mir gern damit vertreiben, dass ich etwas Außergewöhnliches erlebe. Mein Herz, das keine Liebe empfinden kann, will ich mit anderen Empfindungen beleben; erlauben Sie mir, sie zu suchen, und helfen Sie mir, sie zu finden, indem Sie mich für eine Zeit von sechs Wochen bis zu zwei Monaten beurlauben.«

»Und wie wollen Sie fahren?«, fragte Surcouf. »Etwa mit Ihrer Nussschale?«

»Ja, ganz genau«, erwiderte René. »Sie wissen, dass ich das Schiff unter amerikanischer Flagge und mit amerikanischen Papieren gekauft habe. Mein Englisch ist so tadellos, dass kein Engländer oder Amerikaner es wagen würde, meine Herkunft aus London oder New York zu bezweifeln. Die Amerikaner sind mit aller Welt im Frieden. Ich fahre unter amerikanischer Flagge. Man wird mich meiner Wege ziehen lassen, und wenn nicht, dann werde ich mich ausweisen. Was sagen Sie dazu?«

»Und Sie wollen Ihre zwei schönen Begleiterinnen in einem Schiff fahren lassen, das eine Ladung Negersklaven befördert hat?«

»Verehrter Kommandant, in zwei Wochen werden Sie die Runner of New York nicht wiedererkennen; äußerlich wird sie sich nicht verändert haben bis auf einen neuen Anstrich; doch im Inneren wird sie sich dank der erlesenen Hölzer und der prachtvollen Stoffe, die ich gestern erstand, in ein wahres Kleinod verwandelt haben, vorausgesetzt, Sie gewähren mir den erbetenen Urlaub.«

»Ihr Urlaub«, erwiderte Surcouf, »war Ihnen gewährt, sobald Sie darum baten.«

»Dann bleibt mir nur noch, Sie um die Adresse des besten Schiffsausstatters zu bitten, den Sie in Port Louis kennen.«

»Ich werde mich für Sie verbürgen, junger Freund«, sagte Surcouf, »und sollten die Kosten höher ausfallen als von Ihnen kalkuliert, werde ich für die Differenz aufkommen, egal in welcher Höhe.«

»Für diesen neuen Freundschaftsdienst wäre ich Ihnen gerne zu Dank verpflichtet, verehrter Kommandant, doch allein mit der Adresse wäre ich schon zufrieden.«

»Ha, dann müssen Sie Millionär sein!«, rief Surcouf, der seine Neugier nicht länger zügeln konnte.

»Ein wenig mehr als das«, erwiderte René nonchalant, »und wenn Sie jetzt so freundlich wären, mir zu sagen, wann es Ihnen recht wäre, und falls Sie im Übrigen jemals meine Dienste in finanzieller Hinsicht benötigen sollten...«

»Darauf können Sie sich verlassen, und wäre es nur, um die Tiefe Ihrer Tasche auszuloten!«

»Nun gut«, sagte René, »wann wäre es Ihnen recht, verehrter Kommandant?«

»Sogleich, wenn Sie wollen«, erwiderte Surcouf und sprang aus dem Bett.

Zehn Minuten später gingen die zwei Gefährten die Hauptstraße hinunter, den Quai du Chien-de-Plomb entlang und betraten die Werkstatt des besten Schiffsbauers von Port Louis.

In Port Louis war Surcouf fast so bekannt wie in Saint-Malo.

»Oh!«, rief der Schiffsbauer. »Unser geschätzter Monsieur Surcouf!«

»Ja, Monsier Raimbaut, und ich bringe Ihnen einen guten Auftrag, wie mir scheint.«

Surcouf zeigte dem Schiffsbauer Renés Slup, die gegenüber von Trou-Fanfaron in den Wellen schaukelte.

»Monsieur«, sagte er, »das ist die Slup eines meiner Freunde, die es außen zu überholen und innen zu einem Schmuckstück umzubauen gilt; für diesen Auftrag dachte ich an Sie, und deshalb sind wir hier.«

Der Schiffsbauer dankte Surcouf, ging hinaus, sah zu dem Schiff hinüber, indem er sich die Augen mit der Hand schirmte, und sagte: »Das muss ich mir näher ansehen.«

»Nichts leichter als das«, erwiderte René. Und er rief einem Matrosen an Deck der Slup zu: »He da, auf der Slup! Schickt uns ein Boot herüber.«

Das Boot wurde zu Wasser gelassen, zwei Matrosen sprangen hinein und ruderten zu Surcouf; wenige Augenblicke später wurden die drei Männer zur Slup übergesetzt. Surcouf stieg als Erster aus, als befände er sich auf seinem eigenen Schiff, und René und der Schiffsbauer Monsieur Raimbaut folgten ihm.

Monsieur Raimbaut holte seinen Maßstab hervor, maß alles aus und fragte René, welche Veränderungen er wünsche. Zu verändern gab es nichts, nur zu verschönern: Die Aufteilung seiner Räume ergab zwei kleine Kammern vorschiffs nahe der Luke, ein Esszimmer und ein großes Schlafzimmer mit zwei Betten, welches das ganze Heck einnahm und sich ohne Weiteres in zwei Zimmer teilen ließ.

»Monsieur Raimbaut«, sagte René, »Sie werden mir diese Räume mit Teakholz vertäfeln; für die vorderen Räume mag Mahagoniholz genügen; das Esszimmer wünsche ich aus Ebenholz mit goldenen Intarsien und alle Verzierungen aus unvergoldetem Kupfer, damit sie jederzeit geputzt werden können. Veranschlagen Sie Ihre Kosten, Monsieur Surcouf wird den Preis mit Ihnen aushandeln; in zwei Wochen will ich mit dem Schiff in See stechen. Ich zahle Ihnen die Hälfte auf der Stelle und die zweite Hälfte beim Stapellauf.«

»Gevatter Raimbaut, schlagen Sie ein!«, sagte Surcouf.

»Wie soll ich das können? Die Arbeiten würden einen Monat in Anspruch nehmen.«

»Das interessiert mich nicht«, sagte René. »Ich brauche meine Slup in vierzehn Tagen, und was die Kosten betrifft, verlasse ich mich auf Ihre Rechnung und darauf, dass Sie mit Monsieur Surcouf das Schiff begutachten werden.«

Kaum hatten sie sich an Deck der Slup begeben, sahen sie auf Höhe der Standard eine Kutsche anhalten, der zwei junge Damen entstiegen; sie riefen ein Boot herbei und ließen sich zu Surcoufs Prisenschiff übersetzen.

»Nanu«, sagte Surcouf. »Wer sind die Damen, die uns zu so früher Stunde einen Besuch machen?«

»Erkennen Sie sie denn nicht?«, fragte René.

»Nein«, sagte Surcouf.

»Das sind die Damen Sainte-Hermine, die am Sarg ihres Vaters beten wollen; stören wir sie nicht in diesem frommen Tun; wenn sie wieder an Deck kommen, können wir sie begrüßen.«

Sie warteten einige Minuten; da die Schaluppe den Kai berührte, sprangen sie vom Schiff auf die Kaimauer, gingen zur Standard, bedeuteten dem Bootsführer, der die jungen Damen gefahren hatte, er solle sie später zurückbringen, und kletterten steuerbords das Fallreep hinauf.

Als sie an Deck ankamen, hörten sie den Hilferuf eines badenden Matrosen: »Hilfe, Kameraden, Hilfe! Ein Hai!«

Alle Blicke richteten sich auf den Badenden, der auf das Schiff zuschwamm und in dessen Kielwasser die Rückenflosse eines Hais zu sehen war, die immer näher kam.

»Nur Mut! Wir kommen!«, erscholl es von Deck, doch mit gebieterischer Geste unterbrach René das Stimmengewirr und rief: »Niemand rührt sich von der Stelle! Ich übernehme die volle Verantwortung!«

In diesem Moment kamen die Schwestern Sainte-Hermine wieder an Deck, durch das Geschrei neugierig gemacht; sie sahen, wie René die Hand zur Brust führte, um sich seines Dolchs zu vergewissern, den er an einer Silberkette umhängen hatte, wie er sich seiner Jacke und seiner Weste entledigte, sich auf die Reling schwang und mit dem Ruf: »Nur Mut, Kamerad, schwimm weiter!« ins Wasser sprang.

Jane erbleichte und stieß einen Schrei aus; Hélène musste sie fast tragen, bis sie die Poop erreichte, wo Surcouf ihr die Schwester abnahm.

Sie kamen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie René an die Wasseroberfläche zurückkehrte, den Dolch zwischen den Zähnen; dann tauchte er wieder und kam diesmal zwischen Seemann und Hai zum Vorschein, keine drei Meter von dem Ungeheuer entfernt. Ein drittes Mal verschwand er im Wasser, in Richtung des Raubfischs, und plötzlich bäumte dieser sich auf und peitschte das Wasser mit seinem Schwanz wie unter schrecklichen Schmerzen; um ihn herum färbte sich alles blutig. Ein Freudenschrei stieg vom Schiffsdeck auf. René tauchte einen Meter hinter dem Hai wieder auf, doch nur um Luft zu holen; kaum war er untergetaucht, peitschte der Hai das Wasser nochmals mit seinem Schwanz, drehte sich in seinen Zuckungen auf den Rücken und enthüllte seinen weißen Bauch mit einem einen Meter langen klaffenden Schnitt.

Unterdessen hatten die Matrosen, ohne zu fragen oder Befehle abzuwarten, ein Boot zu Wasser gelassen und ruderten René entgegen, der seinen Dolch in die Scheide zurückgesteckt hatte und zum Schiff schwamm, ohne sich weiter um den Hai zu scheren, der sich vor Schmerzen wand und krümmte. Er traf auf das Boot, zwei Matrosen halfen ihm hinein, umarmten ihn herzlich, warfen ihre Mützen in die Luft und riefen: »Hoch lebe René!«

An Bord wiederholten alle den Hochruf, die Seeleute und sogar die zwei Mädchen, die mit ihren Taschentüchern winkten.

Der leichtsinnige Matrose, der sich gegen den Rat seiner Kameraden ins Wasser gewagt hatte, war an einem Tau, das man ihm zugeworfen hatte, an Bord zurückgeklettert.

Renés Ankunft an Deck der Standard kam einem Triumph gleich. Bis dahin hatte es unter seinen Kameraden vereinzelte Eifersüchteleien auf den reichen, schönen, gebildeten jungen Mann gegeben, dessen Überlegenheit sich bei jeder Gelegenheit bemerkbar machte, doch als sie gesehen hatten, wie er für einen armen Teufel sein Leben aufs Spiel setzte, war ihre Begeisterung grenzenlos, und die Eifersucht verwandelte sich in Bewunderung und Dankbarkeit.

René wiederum dämpfte den Freudentaumel nach Kräften und eilte zu der Poop, wo Hélène mit Tränen in den Augen die halb ohnmächtige Jane mit Riechsalz zu beleben versuchte, während Surcouf ihr die fühllosen Hände rieb.

Als René sich näherte, ergriff Jane seine Hand, küsste sie, stieß einen Schrei aus und verbarg ihr Gesicht an der Brust ihrer Schwester.

»Holla!«, sagte Surcouf staunend. »Entweder haben Sie den Teufel im Leib, oder Sie sind des Lebens überdrüssig, dass Sie ein Husarenstück nach dem anderen vollbringen!«

»Mein lieber Kommandant«, erwiderte René, »man hat mir erzählt, wenn ein Neger in Gondar von einem Hai angegriffen werde, tauche er unter das Tier und schlitze ihm mit einem Messer den Bauch auf; ich wollte mich vergewissern, ob das wahr sein kann.«

In diesem Moment stieg Monsieur Raimbaut, der den Auftrag nachgerechnet und als eingefleischter Kaufmann für nichts anderes Augen und Ohren gehabt hatte, zu ihnen hinauf und reichte René ein Blatt Papier.

René warf nur einen Blick auf die Endsumme, die achttausendfünfhundert Francs betrug, und hielt das Blatt Surcouf hin.

Während die zwei Schwestern und vor allem Jane René mit atemlosem Staunen betrachteten, examinierte Surcouf Monsieur Raimbauts Kalkulation mit größter Aufmerksamkeit.

Dann gab er René das Blatt zurück und sagte: »Wenn man fünfhundert Francs abzieht, ist der Betrag korrekt.«

»Aber«, fragte René, »wird die Slup auch in fünfzehn Tagen fertig sein?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort«, sagte Monsieur Raimbaut.

»Geben Sie mir Ihren Bleistift, Monsieur«, sagte René.

Der Schiffsbaumeister reichte ihm seinen Bleistift. René schrieb unter die Kalkulation:


Bei Vorlegen dieses Papiers wird Monsieur Rondeau an Monsieur Raimbaut den Betrag von viertausend Francs auszahlen und bei Fertigstellung der Slup zwei Wochen darauf den Betrag von viertausendfünfhundert Francs.

Surcouf wollte ihn mit einer Geste unterbrechen, doch René schrieb unbeirrt weiter:


Die fünfhundert Francs sind als Belohnung unter den Arbeitern zu verteilen.

RENÉ,

Matrose an Bord der Standard


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