69 Die Wegelagerer

Im ersten Augenblick gab sich jeder seinen Empfindungen hin.

René, der noch immer die zwei Schwestern stützte, setzte sich mit ihnen auf einen kleinen Rasenfleck.

Wachsam aus Vorsicht, ließ er sich von François sein neugeladenes Gewehr geben.

François’ Gewehr und Entersäbel lagen noch auf dem Schlachtfeld.

Zartfühlend wie eine Gouvernante holte René einen goldgefassten Kristallflakon mit Riechsalz aus der Tasche und reichte ihn den jungen Damen.

Sobald sie sich beruhigt hatten, war Hélène als Erste imstande, René zu antworten, der wissen wollte, wie es dazu gekommen war, dass die Schlange so nahe heranschleichen konnte, ohne dass sie zu fliehen versuchten.

Nach der Mittagsmahlzeit und im Vertrauen auf den Schutz ihrer zwei riesigen Wächter waren die Mädchen eingeschlummert.

Nach einiger Zeit hatte Hélène im Schlaf ein sonderbares Unwohlsein verspürt. Ein süßlicher, übelkeiterregender Geruch war ihr aufgefallen, ihr war gewesen, als hörte sie Entsetzensschreie, doch erst als die Elefanten wie ein Erdbeben zu trampeln begonnen hatten, war es ihr gelungen, die Augen zu öffnen. Und da hatte sie keine zwanzig Fuß entfernt den scheußlichen Kopf des Untiers erblickt, das sie mit aufgerissenem Maul anstarrte.

Der ekelerregende Geruch und Gifthauch des Schlangenatems hing noch in der Luft.

Hélène hatte ihre Schwester geweckt und hatte fliehen wollen, doch es war ihr nicht gelungen, sich aufzurichten, und voller Schrecken hatte sie sich daran erinnert, dass Schlangen über die Macht der Hypnose verfügen und die Fähigkeit haben, Vögel vom Baum fallen zu lassen und Tiere anzulocken, die sie zu verspeisen gedenken.

Hélène erinnerte sich, in den vor Kurzem erschienenen Reiseberichten Lillants gelesen zu haben, wie der berühmte Reisende Gefahr gelaufen war, einer solchen Hypnose zu erliegen, die er nur durch das Abfeuern eines Gewehrschusses zu durchbrechen vermocht hatte.

Hélène hatte rufen wollen, um Hilfe rufen, doch wie in einem Albtraum war kein Wort über ihre Lippen gekommen.

Mit dem Blick hatte sie nach René gesucht, und als sie ihn nicht fand, hatte sie ihr Schicksal für besiegelt gehalten.

Von da an hatten sich Wahrnehmung und Einbildung vermischt bis zu dem Augenblick, da sie spürte, dass sie weggezogen wurde, und sich in Renés Armen wiederfand, als sie die Augen öffnete.

Sobald sie aus dem Blickfeld und der magnetischen Anziehung der Schlange entfernt war, war sie ihrer Sinne wieder mächtig, doch das Ende des Kampfes war so schrecklich anzusehen gewesen, dass sie die Augen erneut geschlossen hatte.

Nun, da sie sich unversehrt neben demjenigen wiederfand, der gelobt hatte, sie zu beschützen, fehlten ihr die Worte, auszudrücken, was sie empfand.

Jane lauschte den Worten ihrer Schwester, ohne selbst etwas zu sagen; dass sie bei Bewusstsein war, entnahm René dem Zittern ihres Körpers, dem unwillkürlichen Druck ihrer Hand und den stillen Tränen, die unter ihren Lidern hervorquollen und ihre Wangen hinabrannen.

Als das erste Erstaunen über den herkulischen Kampf nachließ, konnte François die Aufmerksamkeit auf sich und seine zwei Tigerjungen lenken, und er berichtete, wie er das Tigerweibchen mit zwei Gewehrschüssen getötet hatte, während Monsieur René den Tiger mit einem einzigen Schuss erlegt hatte.

Die beiden prachtvollen Tigerfelle sollten nicht verloren sein, und René bot zehn Talks für diejenigen, die es wagten, die Trophäen zu holen, auf Pferden oder auf einer Tragbahre aus Stangen. Die Soldaten der Eskorte entschieden sich für die Tragbahre, und da alle sich meldeten, verdoppelte René das Preisgeld, damit sowohl diejenigen, welche die toten Tiere holten, als auch diejenigen, die zurückblieben, belohnt wurden.

François wollte sein Gewehr und seinen Säbel von der Kampfstätte holen, doch er sah, dass die zwei Elefanten sie herbrachten und René zu Füßen legten.

François ergriff seine Waffen und ging an der Spitze des Zuges in den Dschungel.

Nun musste René den Kampf mit den zwei Tigern schildern. Er tat es einfacher und bescheidener, als ein Jäger aus dem Faubourg Saint-Denis sich vor staunendem Publikum der Jagd auf ein Kaninchen im Wald von Vésinet rühmt.

Die Tiger wurden dort vorgefunden, wo sie das Leben ausgehaucht hatten, und in einem wahren Triumphzug auf die Lichtung gebracht.

Unterdessen hatten sich die Zurückgebliebenen die Zeit damit vertrieben, die tote Schlange zu messen; sie hatte einen Meter Durchmesser und war sechsundvierzig Fuß lang.

Die Elefanten waren interessant zu beobachten. Sie wussten, dass René ihnen ganz offenkundig das Leben gerettet hatte. Mit unvorstellbar zarten Gesten streichelten sie ihn mit ihren Rüsseln, und Hélène stand mit ihnen auf so vertrautem Fuß, dass sie sich von ihnen die Handschuhe ausziehen ließ, was sie mit staunenswerter Geschicklichkeit ausführten.

Die Stunde des Aufbruchs war gekommen. Man verließ die bezaubernde Landschaft, in der sich Szenen von einer Gewalttätigkeit abgespielt hatten, wie sie nur Gottes Auge in tiefster Wüsteneinsamkeit je zu sehen bekommen haben mochte.

Die jungen Mädchen nahmen in ihrem Palankin Platz, und René und François bestiegen den zweiten Elefanten, der sich von dieser Gunst überaus geschmeichelt zeigte.

Die Begleiter führten die Pferde am Zügel.

Nach wenigen Stunden näherte man sich wieder dem Wald, den man gegen elf Uhr vormittags verlassen hatte. Er barg das gleiche Halbdunkel und die gleichen Schrecknisse unheimlicher Natur wie der Wald zuvor, doch vermehrt durch das Wissen der Reisenden, die erlebt hatten, dass die Gefahren, die sie erwarteten, keine Ammenmärchen, sondern handfeste Wirklichkeit waren.

Auf der Stelle traf man alle Vorkehrungen, um ein sicheres Lager für die Nacht einzurichten. Kleine Bäume wurden gefällt, aus denen man Pfosten schnitt, die zu einer Umfriedung von fünfzehn Fuß Durchmesser in den Boden gerammt wurden. Die Palankins wurden wie gewohnt abgestellt, und die jungen Mädchen richteten sich darauf ein, die Nacht darin zu verbringen. Das Abendessen bestand aus zwei Gazellen, die François unterwegs erlegt hatte und deren Blut er auffing und seinen zwei Tigerjungen anstelle von Muttermilch zu trinken gab, was sie sich gerne gefallen ließen. Um wilde Tiere fernzuhalten, entfachte man außerhalb der Umfriedung Feuer, die man von innen unterhalten konnte. Zu diesem Zweck schichtete man trockenes Holz auf, denn bekanntlich ist eine Brustwehr von sechs bis sieben Fuß Höhe nur ein unzulänglicher Schutz gegen Tiger oder Panther, ein Feuer hingegen hält sie auf Abstand.

Verglichen mit dem vorausgegangenen Tag, verlief die Nacht ruhig; durch die Zwischenräume der Brustwehr sah man zwar Augen wie glühende Kohlen funkeln, und ganz in der Nähe hörte man Gebrüll, das die Herzen der Reisenden heftig klopfen machte, doch angesichts der Erlebnisse der vorausgegangenen Stunden war dies so unbedeutend, dass die Wächter nicht einmal ein Feuer entzündeten. Zudem hatten François und René sich die Nachtwache geteilt, während die Elefanten tapfer nacheinander Wache standen.

Um sechs Uhr morgens waren alle auf den Beinen; noch am selben Tag wollte man den Wohnort der zwei Schwestern erreichen. Es galt nur mehr, den Teil des Dschungels zu durchqueren, der weniger seiner wilden Tiere als der dort lauernden Banditen wegen gefürchtet war.

Die Banditen hausten in den Bergen, denen der Fluss Pegu entspringt, und wenn sie verfolgt wurden, war ihre Zuflucht das Dorf Taungu. Die Plantage der Schwestern Sainte-Hermine befand sich nahe diesen Bergen am Ufer des Sittang, und dieser Umstand machte einen Teil ihres Werts aus, da ihre Erzeugnisse auf dem Fluss bis zum Meer transportiert werden konnten.

Nach einem leichten Frühstück machten sich die Reisenden auf den Weg. Diesmal bestiegen René und François ihren Elefanten, dessen Palankin sie in ein wahres Munitionsdepot verwandelt hatten. Die Befürchtung, Wegelagerern zu begegnen, vor denen es die jungen Mädchen zu beschützen galt, hatte René einen Plan eingegeben, in dem die Elefanten eine Rolle spielten, denn er vertraute darauf, dass seine dickhäutigen Freunde ihn nicht im Stich lassen würden.

Gegen elf Uhr erreichte man eine Stelle, die sich zum Ausruhen anbot: die Ruinen eines Dorfs, das die Wegelagerer verwüstet hatten, welche die Umgebung besetzt hielten und sich in kleinen Kontingenten von zwölf bis fünfzehn Mann schnell von einem Ort zum anderen bewegten.

Während sich die Reisenden den Dorfruinen näherten, darauf gefasst, mit Banditen zusammenzutreffen, hatte René seine Vorkehrungen wie ein General getroffen und die Befehle für den Fall eines Angriffs gegeben. Es sollte jedoch ein Zwischenfall eintreten, der all seine Vorsichtsmaßnahmen überflüssig machte.

Als man sich zum Mittagessen niedergelassen hatte, hörte man Schüsse aus vielleicht einem halben Kilometer Entfernung, die offenbar vom Ufer des Sittang-Flusses ertönten. Allem Anschein nach lieferte sich eine andere Reisegruppe ein Gefecht mit den Banditen. René ließ sogleich sechs Mann auf einem Elefanten Platz nehmen, sprang selbst auf ein Pferd, befahl François, das andere zu besteigen, und eilte in Richtung der Schüsse. Sie gelangten an das Flussufer und sahen eine Barke, die von drei anderen Barken aus angegriffen wurde.

In der angegriffenen Barke befanden sich zwei Engländer, gut erkennbar an ihren roten Uniformen mit goldenen Epauletten; sie waren von einer zehnköpfigen Eskorte begleitet, die wie Renés Eskorte nur mit Piken bewaffnet war.

Die Wegelagerer hingegen hatten mehrere schlechte Gewehre, und jede ihrer drei Barken war mit einem Dutzend Männer bemannt.

Zwei der Barken versuchten, die Barke der Reisenden zu entern; aus der dritten warf man Gefallene in den Fluss.

Augenscheinlich waren die Feuerwaffen der Engländer denen der Räuber weit überlegen, doch ebenso unübersehbar war, dass sie ohne die unerwartete Hilfe den zahlreichen Angreifern unterliegen mussten.

»Nur Mut, Kapitän«, rief René in tadellosem Englisch, »manövrieren Sie Ihr Boot an unser Ufer. Wer auf Sie anlegt, ist ein toter Mann.«

Tatsächlich knallten zwei Schüsse, und zwei Banditen fielen. René tauschte mit François das Gewehr, und wieder fielen zwei Banditen.

»Lade«, ordnete René an und zog eine Pistole aus dem Gürtel.

Eine der Räuberbarken hatte an der des englischen Offiziers angelegt, und ein Bandit schickte sich an, von dem einen Boot in das andere zu springen, doch ein Pistolenschuss sandte ihn in den Fluss.

Die zwei Engländer feuerten mit ihren doppelläufigen Gewehren, als sie sahen, wie tatkräftig man ihnen zu Hilfe kam, und drei weitere Räuber sanken nieder.

Unterdessen hatte der Elefant begriffen, was man von ihm erwartete. Er war zum Fluss hinuntergestiegen, ohne sich an seinem Elefantenführer und den sechs Männern auf seinem Rücken zu stören. Und da der Fluss nicht tief war, hatte er den Vorderfuß auf eine der Barken gestellt und sie versenkt. Die Männer der Besatzung, die auftauchten, erschlug er einen nach dem anderen mit seinem Rüssel, und die Männer der Eskorte halfen mit ihren Piken nach.

Mit neuem Mut kämpften die Engländer so unverdrossen, dass sie mit jedem Schuss einen Wegelagerer trafen. Nach wenigen Minuten hatten die Banditen die Hälfte ihrer Leute eingebüßt und mussten den Rückzug antreten.

Ihr Anführer gab den Befehl zum Rückzug, doch kaum hatte er ihn ausgesprochen, fiel er tot nieder. Sein Befehl hatte seine Position verraten, und René hatte ihn mit einem letzten Pistolenschuss gerichtet.

Nun verwandelte sich die Flucht der verbliebenen Räuber in ein heilloses Durcheinander: Gewehrschüsse rissen neue Lücken in die Reihen der Fliehenden. Die Barke der Engländer legte am Ufer an, der Offizier trat an Land, von René mit den Worten begrüßt: »Sir, ich bedaure zutiefst, dass niemand da ist, der uns miteinander bekannt machen kann.«

»Sie haben sich so eindrucksvoll eingeführt«, sagte der Engländer und drückte René die Hand, »dass Sie auf einen Zeremonienmeister getrost verzichten können. Darf ich Sie fragen, wo wir uns befinden und wie weit es bis zu Rangoon House ist, dem Ziel unserer Reise?«

»Sie befinden sich zwei bis drei Meilen von den Ländereien des Vicomte de Sainte-Hermine entfernt und höchstens eine Viertelmeile von unserer Karawane, die ich verließ, als ich Ihre ersten Gewehrschüsse hörte. Sollten Sie wünschen, sich uns anzuschließen und Ihre Reise auf dem Landweg zu beenden, könnte ich Ihnen je nach Wahl ein Pferd oder einen Elefanten als Reittier anbieten, denn auch wir sind auf dem Weg zur Plantage des Vicomte.«

»Ich nehme das Pferd«, sagte der englische Offizier, »das ist weniger prahlerisch; und gern füge ich hinzu, wie sehr ich mich freue, am anderen Ende der Welt einem Landsmann zu begegnen, der so tapfer und ein so hervorragender Schütze ist.«

René konnte ein Lächeln über den Irrtum des Offiziers nicht verbergen; er übergab ihm die Zügel seines eigenen Pferdes und rief François zu: »François, geben Sie auf meine Waffen Acht und folgen Sie uns mit dem Elefanten.«

Dann sprang er auf das zweite Pferd, deutete in die Richtung des Lagers und sprengte im Galopp voraus. Nach nicht einmal fünf Minuten war der Lagerplatz erreicht, wo die übrigen Reisenden wohlbehalten angetroffen wurden.

Jane aber machte sich so große Sorgen, dass sie nicht in ihrem Palankin hatte warten wollen. Sie und ihre Schwester hatten ihn verlassen und waren den Reitern entgegengewandert, als sie das Hufgetrappel hörten.

René und der Engländer stiegen formvollendet vom Pferd; René ergriff die Hand des Engländers, verbeugte sich vor Mademoiselle de Sainte-Hermine und sagte: »Miss Hélène, ich habe die Ehre, Ihnen Sir James Asplay vorzustellen«, und an den Engländer gewendet: »Sir James Asplay, ich habe die Ehre, Ihnen Miss Hélène de Sainte-Hermine und ihre Schwester Miss Jane vorzustellen.«

Dann verließ er die jungen Leute, um sie ungestört der Wiedersehensfreude zu überlassen.

Jane schenkte René einen Blick, in dem sich ein Rest Besorgnis mit dem Ausdruck zärtlichster Liebe mischte, bevor sie ihrer Schwester folgte. Ihre Worte hatte sie noch im Zaum, doch weder ihr Herz noch ihren Blick.

Zehn Minuten später trat Sir James zu René, der gerade die Kammern und Läufe seiner Gewehre mit einem Taschentuch putzte, und sagte mit einer Verbeugung: »Monsieur, das volle Ausmaß meiner Dankesschuld ist mir jetzt erst bekannt; Mademoiselle Hélène hat es mir berichtet, und sie bittet mich, Ihnen zu sagen, wie ungern sie sich Ihrer Gesellschaft beraubt sieht.«

René gesellte sich wieder zu den anderen, und zwei Stunden darauf, als die Dunkelheit hereinbrach, begrüßte das Gebell einer Hundemeute die Ankunft der Karawane auf den Ländereien des Vicomte de Sainte-Hermine.

In dem Wissen, wie traurig es für die jungen Mädchen gewesen wäre, drei Tage lang mit einem Sarg zu reisen, dem Sarg des eigenen Vaters, hatte René Sorge getragen, dass die sterblichen Überreste des Vicomte von einer gesonderten Eskorte drei Tage später in das Land des Betels gebracht wurden.


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