57 Das Sklavenschiff

Als Surcouf und René wieder an Deck kamen, waren die Spuren des Gefechts fast ganz beseitigt. Die Verwundeten hatte man in das Lazarett hinuntergebracht, die Toten waren ins Meer geworfen, das Blut war aufgewischt worden. René berichtete Surcouf den Wunsch der zwei jungen Mädchen, dass man ihren Vater nicht dem Meer überantworten, sondern bei der ersten Landung an Land bringen möge.

Es widersprach allen Gesetzen der Marine, doch in vergleichbaren Fällen war solchen Wünschen stattgegeben worden. Madame Leclerc, anders gesagt: Pauline Bonaparte, hatte auf diese Weise den Leichnam ihres Ehemannes von Santo Domingo zurückgebracht.

»Einverstanden«, sagte Surcouf. »Da der Kapitän der Standard gefallen ist, wird Monsieur Bléas das Kommando des Prisenschiffs übernehmen und erhält seine Kajüte. Sollte eine weitere Offizierskajüte frei sein, wird man die Damen Sainte-Hermine darin unterbringen und den Leichnam ihres Vaters in einem Eichensarg in ihrer früheren Kabine.«

René überbrachte diese Nachricht den jungen Mädchen, die auf der Stelle Surcouf danken wollten.

Die ältere der beiden hieß Hélène, die jüngere Jane. Hélène war neunzehn Jahre alt, Jane sechzehn.

Beide waren Schönheiten, doch verschiedener Art.

Hélène war blond, und die Weiße ihrer Haut war nur mit der einer Blüte vergleichbar, die der Jesuit Camelli drei Jahre zuvor aus Japan nach Frankreich mitgebracht hatte und die in den großen Gewächshäusern unter dem Namen Kamelie Verbreitung zu finden begann. Ihr Haar war von einem Goldton, der im Sonnenlicht einen ganz eigenen Zauber erhielt, und bildete eine Aureole um ihre Stirn, wie der Duft eine Blüte umwölkt; ihre weißen, rundlichen, zierlichen Hände waren unter den fast durchsichtigen Nägeln von rosiger Färbung; ihre Figur war die einer Nymphe, ihr Fuß der eines Kindes.

Jane war von vielleicht weniger ebenmäßiger Schönheit als ihre Schwester, aber anziehender; ihr kleiner, eigensinniger Mund hatte die Frische einer Rose, die man mit den Fingern presst; ihre Nase mit den nervösen Nasenflügeln war weder von griechischem noch von römischem Schnitt, sondern ganz und gar französisch; ihre Augen strahlten in dem dunklen Feuer des Saphirs, und ihre Haut hatte, ohne braun zu sein, die Färbung parischen Marmors, der lange der attischen Sonne ausgesetzt war.

Den zwei jungen Mädchen war das Interesse, das Surcouf ihnen entgegenbrachte, so wenig entgangen wie die Bewegung, die René beim Anblick ihres toten Vaters gezeigt hatte; die Tränen, die aus den Augen des jungen Mannes quollen, als er die Stirn des Verstorbenen küsste, waren nicht unbemerkt geblieben; deshalb erklärten sie, keine Wünsche zu haben, sondern Surcouf in allen Belangen freie Hand geben zu wollen.

Surcouf hatte bereits an Bord der Standard die Kajüte des ersten Offiziers putzen lassen; nun bat er die jungen Mädchen, von ihrem toten Vater Abschied zu nehmen. In diesen Breiten ist es geboten, einen Leichnam so schnell wie möglich im Sarg einzuschließen; der Sarg würde in der ehemaligen Kabine der Familie bleiben, die Töchter des Toten würden die Kajüte des ersten Offiziers bewohnen. René wurde von Surcouf gebeten, sich darum zu kümmern, dass die Habseligkeiten der Kinder in ihr neues Domizil gebracht wurden, und alles für sie zu tun, was in seiner Macht stand.

Hélène und Jane betraten ihre neue Kajüte; René wartete vor der Tür, damit sie sich ungestört ihrem Schmerz hingeben konnten.

Nach einer Stunde kamen sie heraus, mit schmerzgeschwellter Brust, die Augen voller Tränen; Jane hatte kaum Kraft zu gehen und ergriff Renés Arm; ihre Schwester, mit mehr Seelenstärke versehen, trug ihre Schmuckschatulle und die Brieftasche ihre Vaters; beiden war bewusst, welches Zartgefühl der junge Mann bewiesen hatte, indem er sie sich ungestört ihrem Schmerz hingeben ließ, doch nur Hélène konnte ihn ihres Dankes versichern, denn Jane hinderte das Schluchzen am Sprechen.

René brachte die zwei Mädchen in das Zimmer, das für sie vorbereitet worden war, und ließ sie allein, um die letzten Dienste zu überwachen, die man ihrem Vater erwies.

Zwei Stunden darauf hatte der Schiffszimmermann einen Sarg aus Eichenholz gezimmert, in den man den Leichnam des Vicomte von Sainte-Hermine bettete, dann wurde der Sarg zugenagelt.

Als die Mädchen den ersten Hammerschlag hörten, errieten sie seinen Grund und wollten zu ihrer früheren Kabine eilen, um ihren Vater ein letztes Mal zu sehen, doch vor ihrer Schwelle trafen sie auf René; er hatte die letzte Regung ihres Pflichtbewusstseins erahnt und wollte sie daran hindern, sich weiterem Kummer auszusetzen. Er nahm sie in die Arme, brachte sie in ihr neues Zimmer zurück und führte sie zueinander; sie fielen einander schluchzend in die Arme und sanken auf ein Kanapee. Dann legte René Janes Hand in die von Hélène, küsste respektvoll beide Hände und verließ den Raum.

All sein Handeln war von so großer Keuschheit und die Bekanntschaft der jungen Leute hatte unter so entsetzlichen Umständen begonnen, dass weder Hélène noch Jane, noch René sich einen Begriff davon machten, wie schnell die Ereignisse eine Vertraulichkeit unter ihnen bewirkt hatten, die ganz und gar geschwisterlich war.

Am nächsten Tag fuhren beide Schiffe nebeneinander der Île de France entgegen. Vierzig Korsaren waren von Bord der Revenant auf die Standard übergewechselt. Bléas hatte das Kommando über das Prisenschiff erhalten, und Surcouf, der ahnte, wie wichtig den beiden jungen Mädchen die Anwesenheit eines Freundes oder wenigstens eines mitfühlenden Herzens war, hatte René gestattet, sich Bléas anzuschließen.

Am übernächsten Tag nach dem Seegefecht zwischen der Revenant und der Standard wurde der Revenant eine Slup gemeldet, deren Verfolgung sie aufnahm. Die Slup versuchte zuerst zu entkommen, doch als ein Kanonenschuss die Aufforderung, sie solle beidrehen, unterstrich, drehte sie bei.

Die Slup legte backbords an, und nun wurden René und die zwei Schwestern von der Poop aus Zeugen eines abscheulichen Schauspiels: Zwei bedauernswerte Kreaturen lagen im Sterben trotz der Bemühungen eines jungen Negers, der ihnen ein Gebräu einflößte, das Zauberer mit ebenholzschwarzer Haut bereitet hatten; etwas weiter entfernt wärmten sich fünf junge und fast nackte Negerinnen in der Hitzeglut einer Sonne, die europäische Frauen getötet hätte und die sie wollüstig genossen. Eine von ihnen wollte den Hunger eines Kindes stillen, das sie in den Armen hielt, doch es saugte vergebens an der leeren Mutterbrust.

Beim Anblick der Matrosen der Revenant, die das Schiff enterten, sprangen vier der Frauen auf und flohen; die fünfte wollte ihnen folgen, fiel jedoch entkräftet nieder und ließ ihr Kind los. Der Offizier hob es auf und legte es neben seine Mutter; er war auf der Suche nach dem Kapitän dieses Schiffs, in dem er auf den ersten Blick vor allem an der Höhe der Masten ein Sklavenschiff erkannt hatte.

In der Tat entdeckte man im untersten Schiffsraum vierundzwanzig bedauernswerte Schwarze, die in einer unerträglichen Lage zusammengepfercht und angekettet waren.

Aus der Tür, der einzigen Öffnung, durch die ein Luftaustausch möglich war, strömte ein mephitischer Geruch, der Übelkeit erregte.

Als das Beiboot das Schiff verließ, dessen Flagge es als amerikanisches Schiff auswies, beorderte Surcouf René und Bléas mit einem doppelten Signal an Bord der Revenant.

Die jungen Mädchen fragten sich bange, was dieses Manöver bezweckte und warum das Signal erfolgte. René erklärte ihnen, dass der Kapitän des gekaperten Schiffs offenbar mit Sklaven handele, der Sklavenhandel ohne besondere Genehmigung jedoch verboten sei und dass man an Bord der Revenant einen Kriegsrat einberufen werde, um über dieses Vergehen zu richten.

»Und wenn er für schuldig befunden wird«, fragte Jane mit bebender Stimme, »welche Strafe wird ihm dann auferlegt?«

»Nun«, sagte René, »dann läuft er Gefahr, gehängt zu werden.«

Jane stieß einen Schrei des Entsetzens aus.

Da sich das Beiboot am Fuß der Leiter befand, die Matrosen mit erhobenen Riemen warteten und Bléas bereits eingestiegen war, blieb René nur mehr Zeit, sich in das Boot hinunterzuhangeln.

Die anderen Offiziere hatten sich bereits versammelt, als Bléas und René erschienen. Man brachte den amerikanischen Kapitän in den Raum, der als Gerichtssaal diente; er war ein groß gewachsener Mann, dessen kräftige Statur von übermenschlicher Kraft kündete; er sprach nur Englisch, und deshalb hatte Surcouf René als Dolmetscher herbeibeordert. Als er René rufen gehört hatte, der Kapitän sei tot und man solle die Flagge senken, und als er gesehen hatte, dass die Engländer ohne Widerrede gehorchten, war ihm klar geworden, dass René das Englische wie seine Muttersprache sprach.

Der amerikanische Kapitän hatte Papiere mitgebracht, aus denen hervorging, dass er Amerikaner und in der Handelsschifffahrt tätig war; doch vergebens verlangte man von ihm jene Papiere, die bewiesen hätten, dass sein Schiff zu den acht Schiffen seiner Nation zählte, die von den europäischen Seemächten dazu ermächtigt waren, dem Sklavenhandel nachzugehen. Als er zugab, dieses Papier nicht zu besitzen, erklärte man ihm, welches Verbrechen er begangen hatte, als er die Unseligen ihrer Heimat und ihrer Familie entriss, mit Gewalt oder mittels Täuschung.

Man befand den amerikanischen Kapitän für schuldig und verurteilte ihn zum Tode.

Der Tod von Sklavenhändlern ist so grausam wie schändlich; sie werden an der Rah ihres Schiffs erhängt oder an der Rah des Schiffs, das das ihre überwältigt hat.

Als das Urteil verkündet war, gab man dem amerikanischen Kapitän eine Stunde Zeit, damit er sich auf den Tod vorbereiten konnte. Er vernahm sein Todesurteil, ohne die geringste Regung zu zeigen; man ließ ihn in dem Raum mit einer Wache an jeder Tür, denn man fürchtete, er könne sich ins Meer stürzen, um dem schändlichen Tod am Galgen zu entgehen.

Er verlangte Papier, Feder und Tinte, um seiner Frau und seinen Kindern eine Nachricht zu senden; dieser Bitte wurde stattgegeben. Er begann zu schreiben.

Während der ersten zehn oder zwölf Zeilen blieb seine Miene reglos, doch allmählich verdüsterte Besorgnis seine Züge, bis er nicht mehr sehen und schreiben konnte, weil die unterdrückten Tränen hervorquollen und das Papier netzten, auf das er seinen Abschiedsbrief schrieb.

Daraufhin verlangte er, Surcouf zu sprechen.

Surcouf kam sogleich zu ihm, begleitet von René, der ihm noch immer als Dolmetscher diente.

»Sir«, sagte der Amerikaner, »ich hatte meinen Abschiedsbrief an Frau und Kinder zu schreiben begonnen, doch in dem Wissen, wie entsetzlich es für sie wäre, aus meinem Mund zu erfahren, welch schändlichem Gewerbe ich aus Liebe zu ihnen nachgegangen bin, so dass der Bericht meines Todes und seiner Ursache ihr Leid nur gesteigert hätte, möchte ich Ihnen eine Bitte unterbreiten. In dem Schreibtisch meiner Kabine finden Sie einen Geldbetrag von vier- bis fünftausend Francs in Gold. Ich hatte gehofft, mit meinen achtzig Gefangenen und meiner Slup fünfundvierzigtausend oder fünfzigtausend Francs zu erwirtschaften, einen ausreichenden Betrag, um in Übersee einem ehrlichen Gewerbe nachzugehen, was mir erlaubt hätte, die schwarze Spur zu tilgen, mit der ich mein Leben befleckt habe. Gott hat es nicht so gewollt. Meine Slup und meine Gefangenen gehören Ihnen, aber die fünftausend Francs, die Sie in meiner Schublade finden werden, sind mein persönliches Eigentum. Ich bitte Sie inständig mit der letzten Bitte eines Seemanns, diese fünftausend Francs meiner Frau und meinen Kindern auszuhändigen, deren Anschrift Sie auf dem angefangenen Brief finden, und ihnen nur Folgendes mitzuteilen: ›Von Kapitän Harding, der beim Überqueren des Äquators den Tod gefunden hat.‹ Mein Tun, so tadelnswert es ist, kann bei mitfühlenden Herzen die Entschuldigung finden, dass es dem Zweck diente, eine vielköpfige Familie in schwierigen Umständen zu unterstützen. Nun werde ich wenigstens ihr Leid nicht mehr mit ansehen müssen. Ich hätte nie aus freien Stücken den Tod gesucht, doch da er mich nun ereilt, nehme ich ihn hin, nicht als Strafe, sondern als Wohltat.«

»Sind Sie bereit?«

»Ich bin bereit.«

Er erhob sich, schüttelte den Kopf, um die letzten Tränen aus seinen Wimpern zu entfernen, schrieb die Adresse seiner Frau nieder – Mrs. Harding, Charlestown – und überreichte Surcouf den Brief mit den Worten: »Ich bat Sie um Ihr Wort, Sir, wollen Sie es mir geben?«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Monsieur«, erwiderte Surcouf, »was Sie wünschen, wird geschehen.«

Daraufhin machte Surcouf ein Zeichen, und ein Trommelwirbel ertönte. Die Stunde war gekommen; angesichts des nahen Todes gewann der Kapitän seine ganze Kaltblütigkeit zurück. Ohne die geringste Gemütsbewegung zu zeigen, nahm er seine Krawatte ab, öffnete den Hemdkragen und betrat festen Schritts den Teil des Schiffs, wo alles für die Hinrichtung vorbereitet war.

Tiefes Schweigen herrschte an Deck, denn solche Präliminarien des Todes gebieten allen Seeleuten Ehrfurcht, sogar den Korsaren.

Am Fockmast wartete ein Seil, das am einen Ende zu einer Schlinge geknüpft war und am anderen Ende von vier Männern gehalten wurde; nicht nur die Mannschaft der Revenant hatte sich an Deck versammelt, auch die zwei anderen Schiffe hatten beigedreht, und die Zuschauer drängten sich an Deck, auf der Poop und auf den Rahen.

Der amerikanische Kapitän steckte seinen Kopf in die Schlinge und wandte sich dann an Surcouf: »Ziehen Sie es nicht in die Länge, Sir«, sagte er. »Warten heißt leiden.«

Surcouf trat zu ihm und befreite seinen Kopf aus der Schlinge.

»Ihre Reue ist nicht geheuchelt, Monsieur«, sagte er zu ihm. »Nichts anderes wollte ich erreichen; es ist vorbei, Sie haben Ihre Strafe erlitten.«

Der amerikanische Kapitän legte Surcouf eine zitternde Hand auf die Schulter, warf verwirrte Blicke um sich, brach zusammen und fiel in Ohnmacht.

Ihm war widerfahren, was bisweilen den Tapfersten widerfährt: Stark im Angesicht von Schmerz und Leid, wurde er angesichts der Freude von Schwäche überwältigt.


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