75 Janes Leiden

Jane lag auf einer Chaiselongue; alle Jalousien ihres Zimmers waren geschlossen, damit die Dunkelheit für Kühle sorgte und ein gelegentlicher Windhauch frische Luft hereinbrachte.

Als Jane René eintreten sah, richtete sie sich auf und streckte ihm die Hand entgegen.

»Sie wollten mich sehen, liebe Schwester«, sagte René, »und hier bin ich.«

Jane wies auf einen Stuhl am Kopfende ihrer Chaiselongue und ließ sich mit einem Seufzer der Erschöpfung zurücksinken.

»Als wir gestern zurückkehrten«, sagte sie, »und als meine Schwester den Wunsch aussprach, die zwei tapferen Tiere zu besitzen, die uns so große Dienste erwiesen haben, baten Sie sie nicht nur, die Tiere als unser Eigentum zu betrachten, sondern Sie sprachen auch von Ihrem Wunsch, uns in wenigen Tagen zu verlassen.«

»So ist es«, sagte René, »denn ich darf meine Abreise nicht länger hinausschieben. Mein Kommandant war so großzügig, mich so lange zu beurlauben, bis ich Sie sicher in Ihr neues Zuhause gebracht haben würde. Dies ist geschehen. Und ich danke Gott, dass Ihnen und Ihrer Schwester auf dieser beschwerlichen Reise kein Haar gekrümmt wurde. Ihre Schwester hat den Beschützer wiedergefunden, dessen Ankunft sie erwartete, und der nächste Priester, der auf seinem Weg nach China oder Tibet vorbeikommt, wird sie trauen.«

»Ebendarum geht es«, sagte Jane, »denn meine Schwester würde sich freuen, wenn Sie bis zu ihrer Trauung bleiben könnten.«

René bedachte Jane mit einem traurigen Blick; dann nahm er eine ihrer Hände in seine Hände und sagte: »Jane, Sie sind ein Engel, und ich muss sehr gewichtige Gründe haben, wenn ich Ihnen diese Bitte nicht erfüllen kann.«

»Sie schlagen sie also ab?«, fragte Jane seufzend.

»Ich muss es«, sagte René.

»Gestehen Sie, dass Sie mir den wahren Grund Ihrer Abreise nicht nennen wollen.«

René sah Jane in die Augen. »Soll ich Ihnen den Grund sagen, was es auch sein mag?«, fragte er.

»Ja, was es auch sein mag«, erwiderte Jane, »sagen Sie ihn; die Wahrheit mag bisweilen das schmerzlichste Heilmittel sein, aber sie ist das zuverlässigste. Ich bitte Sie darum!«

»Jane«, sagte René unter Aufbietung größter Selbstbeherrschung, »zu Ihrem großen Unglück lieben Sie mich.«

Jane stieß einen Schrei aus.

»Und zu meinem großen Unglück«, fuhr René fort, »kann ich nicht der Ihre sein.«

Jane verbarg ihr Gesicht in den Händen und brach in Schluchzen aus.

»Jane, ich hätte gewünscht, Ihnen nicht sagen zu müssen, was ich soeben sagte«, sprach er weiter, »aber als Ehrenmann musste ich so handeln, wie ich es tat.«

»Genug«, sagte Jane, »lassen Sie mich.«

»Nein«, sagte René, »ich werde Sie nicht so zurücklassen, sondern Sie werden die Ursache dafür erfahren, und dann können Sie über mich und über Ihre eigenen Gefühle urteilen.«

»René«, sagte Jane, »Sie sehen meine Schwäche, die zu leugnen ich nicht vermocht habe; Sie sagen, dass uns ein unüberwindliches Hindernis trennt, das unsere Vereinigung unmöglich macht. Beenden Sie, was Sie begonnen haben! Sie haben die Wunde geschlagen, nun müssen Sie sie auch ausbrennen.«

»Lassen Sie sich von mir mit den sanften Händen eines Bruders berühren, Jane, und nicht mit den harten Händen eines Chirurgen. Vergessen Sie, dass ein Schleier zerrissen wurde und dass ich durch diesen Riss sah, was Sie vor mir zu verbergen suchten. Geben Sie Ihre Hände in meine Hände, legen Sie Ihren Kopf an meine Schulter. Um nichts in der Welt wünschte ich, dass Sie mich nicht mehr liebten, Jane! Ich wünschte nur, Sie liebten mich mit einer anderen Art von Liebe. Sie sind 1788 geboren, teure Freundin; Sie waren zwei Jahre alt, als Ihre Familie einen jungen Verwandten namens Hector de Sainte-Hermine aufnahm, der sich mit Ihrem Vater einschiffen und unter ihm das Seemannsgewerbe erlernen sollte; dieser Hector war der dritte und jüngste Sohn des Grafen von Sainte-Hermine, des älteren Bruders Ihres Vaters. Wenn Sie sich daran nicht erinnern können, erinnert Ihre Schwester Hélène sich gewiss noch.«

»Auch ich kann mich daran erinnern«, sagte Jane, »aber was hat dieser junge Mann mit dem unüberwindlichen Hindernis zu schaffen, das uns voneinander trennt?«

»Lassen Sie mich alles sagen, liebe Jane, denn wenn ich es getan habe, darf nicht der leiseste Zweifel an meiner Ehrlichkeit bestehen.

Der Knabe fuhr mit Ihrem Vater zur See, unternahm drei Reisen mit ihm und begann am Seemannsstand Geschmack zu finden, als die Revolution ausbrach und sein Vater ihn gegen Ende des Jahres 1792 nach Hause zurückbeorderte. Sie erinnern sich vielleicht an den Abschied von ihm, Jane, denn es war ein schmerzlicher und tränenreicher Abschied; es schnitt ihm ins Herz, sich von der Cousine zu trennen, die er seine kleine Frau nannte.«

Ein Blitz zuckte durch Janes Gehirn.

»Unmöglich!«, rief sie und starrte René fassungslos an.

»Hector«, fuhr René unbeirrt fort, ohne Janes Verblüffung zu beachten, »kehrte in das Haus seiner Eltern zurück, um mitzuerleben, wie sein Vater enthauptet, sein ältester Bruder füsiliert und sein zweitältester Bruder guillotiniert wurde. Treu dem Gelöbnis, das er abgelegt hatte, folgte er ihnen im Verfechten der royalistischen Sache. Dann kam der Frieden; alles schien beendet, und Hector konnte die Augen öffnen, sich umsehen, lieben und hoffen.«

»Und er verliebte sich in Mademoiselle de Sourdis«, sagte Jane mit tonloser Stimme.

»Und er verliebte sich in Mademoiselle de Sourdis«, wiederholte René.

»Aber was geschah dann?«, fragte Jane. »Wie kam es, dass er verschwand, als er den Ehevertrag unterschreiben sollte, und dass man nie in Erfahrung bringen konnte, warum und wohin? Was wurde aus ihm? Wo ist er?«

»Als er im Begriff war, den Ehevertrag zu unterzeichnen, kam ein Freund, der ihn aufforderte, sich an sein Gelöbnis zu erinnern; er hatte sein Wort gegeben, und lieber wollte er sein Glück verlieren und sein Leben aufs Spiel setzen, als zu zaudern, wenn es darum ging, sein Wort zu halten. Er warf die Feder hin, mit der er unterschreiben wollte, verließ den Raum, ohne gesehen zu werden, und folgte dem Ruf der Stimmen seines toten Vaters und seiner toten Brüder. Er wurde festgenommen und dank der Protektion eines Mächtigen nicht erschossen, wie er es erbeten hatte, sondern drei Jahre im Temple-Gefängnis festgehalten. Nach drei Jahren erfuhr der Kaiser, der ihn für tot gehalten hatte, dass er noch lebte, doch da er der Ansicht war, drei Jahre Gefängnis seien keine ausreichende Bestrafung für jemanden, der gewagt hatte, sich gegen ihn aufzulehnen, verurteilte er ihn dazu, als einfacher Soldat oder als einfacher Matrose zu dienen, ohne jede Hoffnung auf Beförderung.

Hector, der seine ersten Schritte unter Ihrem Vater in der Marine gemacht hatte, bat, in die Marine eintreten zu dürfen, und es wurde ihm gestattet.

Hector entschied sich gegen die Kriegsmarine und für einen Kaperfahrer, auf dem es größere Freiheiten gab; er machte sich auf nach Saint-Malo und heuerte bei Surcouf auf dessen Brigg Le Revenant an.

Sie wissen, wie der Zufall es fügte, dass die Standard, auf der Sie mit Ihrer Schwester und Ihrem Vater als Passagiere reisten, der Revenant begegnete. Sie sahen das Gefecht mit an, in dessen Verlauf Ihr Vater den Tod fand.

Wie gesagt war Hector Mitglied der Mannschaft Surcoufs. Er hörte den Namen des Vicomte de Sainte-Hermine. Er sah den toten Vicomte, er hörte Ihren Wunsch, dass der Leichnam Ihres Vaters nicht ins Meer geworfen werde; er sprach mit Surcouf und erreichte, dass man den Toten an Bord behielt; Surcouf ermächtigte ihn sogar, Sie auf Ihrem weiteren Weg zu begleiten und Sie erst zu verlassen, wenn er sich vergewissert haben würde, dass Sie und Ihre Schwester sicher in Ihrem Zuhause angekommen waren.

Und nun wissen Sie alles, liebe Jane. Das Übrige muss ich Ihnen nicht erzählen; ich muss aber darauf zählen können, dass Sie selbst Ihrer Schwester gegenüber striktestes Stillschweigen wahren.

Dieser Knabe, der unter Ihrem Vater die Grundlagen der Ausbildung zum Seemann erlernt hat, den es so sehr schmerzte, Sie zu verlassen, als er im Jahr 92 zu seiner Familie zurückgerufen wurde, der erleben musste, dass sein Vater enthauptet, sein ältester Bruder erschossen und sein zweitältester Bruder guillotiniert wurde – dieser junge Mann, der trotz des schrecklichen Schicksals seiner Brüder den gleichen Weg beschritt wie sie, der, als er den Krieg beendet wähnte, Madamoiselle de Sourdis seine Liebe gestand, der nach seiner unter so viel Aufsehen gescheiterten Eheschließung in seinem Herzen gelobt hat, niemals einer anderen Frau anzugehören als ihr, der mit der Waffe in der Hand gefangen, doch nicht füsiliert wurde, sondern drei Jahre lang im Temple-Gefängnis eingekerkert war, den der Kaiser zu guter Letzt begnadigte, wenn auch unter der Bedingung, dass er als gemeiner Soldat in das Heer oder als gemeiner Matrose in die Marine eintrat: Dieser junge Mann, meine liebe Jane, ist der Graf von Sainte-Hermine, er ist Ihr Cousin, und ich bin es!«

Und er glitt neben Janes Chaiselongue auf die Knie, ergriff ihre Hände und bedeckte sie mit Küssen und Tränen.

»Entscheiden Sie selbst«, sagte René, »kann ich der Ehemann einer anderen als Mademoiselle de Sourdis’ werden, ohne mich an allem zu versündigen, was ehrenhaft im Herzen eines Menschen ist?«

Jane stieß ein ersticktes Schluchzen aus, legte ihre kraftlosen Arme um den Hals ihres Cousins, drückte mit eiskalten Lippen einen Kuss auf seine Stirn und fiel in Ohnmacht.


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