63 Der Vormund

Der Wagen brachte Kapitän Surcouf, den Matrosen René und die Schwestern zum Hôtel des Étrangers zurück. Zwei Stunden später klopfte der Hausdiener bei René und fragte, ob er die Demoiselles de Sainte-Hermine zu empfangen wünsche oder sie lieber aufsuchen wolle.

René war der Ansicht, es sei schicklicher, dass er sie aufsuchte und nicht sie zu ihm kamen.

Der Hausdiener ging zurück, von René gefolgt, den er ankündigte. Die beiden Schwestern empfingen ihn in sichtlicher Verlegenheit.

»Ich glaube«, sagte Hélène lächelnd, »es ist meine Aufgabe, als ältere Schwester das Wort zu ergreifen.«

»Mademoiselle, erlauben Sie, dass ich mich über die Feierlichkeit Ihrer Worte wundere.«

»Monsieur, Traurigkeit wäre vielleicht zutreffender als Feierlichkeit: Die Lage, in der sich zwei verwaiste Mädchen befinden, die dreitausend Meilen von ihrer Heimat entfernt mit dem Leichnam ihres Vaters unterwegs sind und noch die Kleinigkeit von tausend oder zwölfhundert Meilen vor sich haben, ist sicherlich alles andere als heiter, wie Sie zugeben werden.«

»Sie sind verwaist, gewiss«, sagte René. »Sie haben noch tausend Meilen zurückzulegen, auch das ist gewiss; doch Sie besitzen einen treuen und ehrerbietigen Bruder, der gelobt hat, über Sie zu wachen, und der sein Wort ohne Abstriche halten wird. Ich dachte sogar, wir wären übereingekommen, dass Sie sich um nichts mehr kümmern müssten und es mir überlassen würden, für Ihre Sicherheit zu sorgen.«

»Das haben Sie bis jetzt getan, Monsieur«, sagte Hélène, »aber wir dürfen die überwältigende Güte, die Sie uns bislang bezeigt haben, nicht länger ausnutzen.«

»Ich dachte, Sie erwiesen mir die Gunst, mich über Sie wachen zu lassen, bis wir Rangun erreichen, das heißt bis Sie Ihren Besitz betreten, und dementsprechend habe ich meine Vorkehrungen getroffen; doch wenn Sie es vorziehen, den Vormund abzulehnen, den Surcouf für Sie gewählt hat, verzichte ich jederzeit auf diesen ehrenvollen Titel. Es wäre mir eine Freude gewesen, wäre die Wahl auf mich gefallen, doch um keinen Preis wollte ich mich aufdrängen.«

»Oh, Monsieur René!«, rief Jane.

»Gewiss wäre es uns ein Vergnügen«, unterbrach ihre Schwester sie, »uns unter dem Schutz eines Mannes zu wissen, der so gütig wie großherzig und tapfer ist, doch es steht uns nicht zu, Ihre Ziele unserer alleinigen Bequemlichkeit zu opfern. Wir bitten Sie als Einziges, uns einem Kapitän anzuvertrauen, der zum Reich der Birmanen fährt und der uns an einem Küstenabschnitt absetzen kann, wo wir eine Eskorte mieten können, die uns zum Fluss Pegu bringt.«

»Wenn Ihnen dies tatsächlich lieber wäre als das, was ich Ihnen vorschlug, Mademoiselle, dann steht es mir nicht zu, Einwendungen zu erheben, sondern ich werde auf der Stelle, wenn auch mit größtem Bedauern, von dem Vorhaben Abstand nehmen, das ich hegte, seit wir uns kennenlernten, und das mir zwei Monate lang selige Tagträume beschert hat. Denken Sie nach; ich harre Ihrer Befehle und werde sie ausführen.«

René erhob sich, nahm seinen Hut und schickte sich an, sich von den Schwestern zu verabschieden.

Doch mit einer instinktiven, unüberlegten Bewegung warf Jane sich zwischen ihn und die Tür.

»Oh, Monsieur«, sagte sie, »Gott behüte, dass Sie uns für undankbar genug halten, alles, was Sie schon für uns getan haben und noch für uns tun wollen, nicht mit tiefstem Dank zu betrachten! Meine Schwester und ich erschrecken nur ein wenig, wenn wir bedenken, welch große Verpflichtung wir einem Fremden gegenüber eingehen.«

»Einem Fremden gegenüber!«, wiederholte René. »Mademoiselle, Sie sind grausamer als Ihre Schwester, denn sie hatte dieses Wort nicht auszusprechen gewagt.«

Jane sagte mit ruhigerer Stimme: »O weh, warum ist es nur so schwierig für ein Mädchen in meinem Alter, dem Vater oder Mutter immer das Denken abgenommen haben, zu sagen, was es denkt! Oh! Mag meine Schwester mich ruhig schelten, ich werde Sie nicht gehen lassen, solange Sie uns für so herzlos halten müssen.«

»Aber Jane«, sagte Hélène, »Monsieur weiß sehr wohl …«

»Nein, Hélène«, versetzte Jane, »nein, Monsieur weiß keineswegs; ich habe es nur zu deutlich an der Miene gesehen, mit der er sich erhoben hat, um sich von uns zu verabschieden, und an der Stimme gehört, mit der er angeboten hat, uns dem Schutz eines anderen zu überantworten.«

»Jane! Jane!«, sagte Hélène mahnend.

»Oh! Monsieur mag denken, was er will«, rief Jane, »solange er uns nicht für undankbar und kaltherzig hält!« Dann wandte sie sich an René und sagte flehend: »Nein, Monsieur, aus dem Mund meiner Schwester sprach die Schicklichkeit, doch aus meinem Mund werden Sie die Wahrheit vernehmen. Die Wahrheit sieht so aus: Meine Schwester fürchtet – und darüber haben wir uns schon des Öfteren den Kopf zerbrochen -, meine Schwester fürchtet, eine Abwesenheit von zwei Monaten oder länger könnte Ihnen zum Nachteil bei Monsieur Surcouf gereichen; sie fürchtet, Sie könnten durch Ihre Freundlichkeit Ihren eigenen Interessen schaden, und es wäre ihr lieber, dass wir unser ganzes Vermögen verlören, als dass Sie auf eine Beförderung verzichten müssten, die Sie so unstreitig verdient haben.«

»Lassen Sie mich zuerst diese Befürchtungen Mademoiselle Hélènes zerstreuen. Monsieur Surcouf hat mich selbst als Ihren Vormund vorgeschlagen, als mein Herz mich zu Ihrem Bruder erklärte; mit seiner Zustimmung habe ich die kleine Slup gekauft, die Sie nach Rangun bringen soll und auf der Sie keine der Gefahren zu gewärtigen hätten, die Ihnen auf der Standard drohen könnten, da die Slup unter neutraler Flagge fährt. Sie haben mit eigenen Augen gesehen, dass Monsieur Surcouf heute Morgen den Preis der Verschönerungen festgesetzt hat, die ich daran vornehmen lassen will. Auf keinem anderen Schiff, welcher Größe auch immer, wären Sie so behaglich untergebracht wie auf der Runner of New York.«

»Aber Monsieur«, wagte Hélène schüchtern einzuwenden, »dürfen wir zulassen, dass Sie acht- oder zehntausend Francs ausgeben, was Sie andernfalls niemals getan hätten, nur damit es uns an keiner Bequemlichkeit mangelt?«

»Sie täuschen sich, meine Damen«, widersprach René. »Nicht Sie reisen nach Indien, sondern ich. Die Île de France oder die Insel Réunion zu besuchen, ist nicht Indien besuchen. Ich bin leidenschaftlicher Jäger; ich habe gelobt, auf Pantherjagd zu gehen, auf Tigerjagd und auf Elefantenjagd, und ich will mein Wort halten, weiter nichts. Mein Angebot, Sie zu Ihren Besitzungen zu bringen, können Sie annehmen oder ablehnen, doch das ändert nichts daran, dass ich nach Indien fahren werde. Man hat mir glaubhaft versichert, dass die Ufer des Flusses Pegu von einem Wildreichtum ohnegleichen im ganzen Königreich Birma sind. Und nicht zuletzt harrt Ihrer, teure Schwestern, nach der Ankunft eine letzte und schmerzliche Pflicht. Bisher hatten Sie mir diese fromme Pflicht anvertraut; wollen Sie mir nicht den traurigen Liebesdienst erweisen, mich zu Ende bringen zu lassen, was ich begonnen habe, statt uns unversehens so schroff zu trennen und mir für den Rest meines Lebens eine Erinnerung vorzuenthalten, die mir besonders teuer sein würde?«

Unterdessen sprachen Janes gefaltete Hände und tränenvolle Augen eine noch beredtere Sprache, bis Hélène zu guter Letzt nachgab und René die Hand reichte, woraufhin Jane sich Hélènes Hand bemächtigte und sie mit Küssen bedeckte.

»Jane! Jane!«, sagte Hélène leise.

Jane senkte den Blick und sank auf ihren Stuhl.

»So aufrichtige Freundschaftsangebote länger abzuweisen, wäre schändlich«, sagte Hélène, »und deshalb nehmen wir sie dankbar an und versprechen, uns ein Leben lang Ihres brüderlichen Schutzes zu entsinnen.«

Hélène erhob sich und neigte den Kopf vor René, womit sie andeutete, dass sein Besuch lange genug gedauert habe.

René verbeugte sich, salutierte und ging.

Von diesem Augenblick an hatte René nur noch eines im Sinn: die Runner of New York so schnell wie möglich segelfertig zu sehen. Im Tausch gegen ihre alten gusseisernen Kanonen bot Surcouf René fünf Kupferkanonen von der Standard an.

Fünfzehn Mann genügten als Besatzung für die Slup, und die Mannschaften der Standard und der Revenant boten – selbstverständlich mit Surcoufs Erlaubnis – von sich aus an, auf Renés Runner of New York Dienst zu tun.

Unglücklicherweise konnte man die Mannschaft eines amerikanischen Schiffs nicht gut aus Franzosen zusammensetzen; René heuerte zehn Amerikaner an und wählte aus Surcoufs zwei Mannschaften fünf Männer aus, die Englisch sprachen. Surcouf gab ihm obendrein als Lotsen seinen Quartiermeister Kernoch mit, der schon zweimal an der Mündung des Ganges gewesen war und sich dort auskannte; die Matrosen, die René zum Zeichen ihres Danks für seine Großzügigkeit bei der Abreise aus Saint-Malo und für seine Tapferkeit als Lebensretter ein Geschenk machen wollten, fanden bei dem besten Waffenschmied von Port Louis ein englisches Gewehr mit gezogenem Lauf; da sie wussten, dass René auf Tiger- und Pantherjagd gehen wollte und nur einen Stutzen und ein gewöhnliches Gewehr besaß, legten sie zusammen und kauften das englische Gewehr, das sie ihm am Tag vor seiner Abreise überbrachten.

Auf den Gewehrlauf hatten sie eingravieren lassen: »Von den Matrosen Surcoufs ihrem tapferen Kameraden René verehrt.«

Kein Geschenk hätte dem jungen Seemann eine größere Freude machen können! Wiederholt hatte er sich darüber geärgert, dass er nicht rechtzeitig daran gedacht hatte, genug Waffen mitzunehmen, und nun, als er im Begriff stand, die Île de France zu verlassen, kam das Jagdgewehr wie ein Geschenk des Himmels sowohl für seinen Waffenschrank als auch zur Befriedigung seiner Eitelkeit.

Am vereinbarten Tag übergab Monsieur Raimbaut René die mit ausgesuchtem Geschmack eingerichtete Slup. Die Hölzer von der Île de France sind so erlesen, dass es neben ihnen keines weiteren Schmucks bedarf. Die Kajüten der zwei jungen Damen, deren Möblierung René persönlich ausgewählt hatte, waren die reinsten Wunderwerke an Geschmack und Eleganz; die Schwestern hatten sich um nichts kümmern müssen; der Sarg ihres Vaters war von der Standard auf die Runner of New York gebracht und in eine kleine, schwarz ausgekleidete Kapelle gestellt worden. Erst danach suchte René Hélène und Jane auf und teilte ihnen mit, dass er nur auf ihre Anweisung warte, um die Segel zu setzen. Die Schwestern waren zum Aufbruch bereit; sie bestellten eine feierliche Totenmesse, nach der man an Bord der Runner of New York zu Mittag speisen wollte, bevor man in See stach. Am nächsten Tag betraten Hélène und Jane in Begleitung Surcoufs um zehn Uhr vormittags die Kirche, und da bekannt war, dass die Seelenmesse für einen französischen Kapitän gelesen wurde, nahmen alle hochrangigen Persönlichkeiten der Île de France, alle Kapitäne, Offiziere und alle Matrosen der in Port Louis ankernden Schiffe an dem Gottesdienst teil, der ein eher militärisches als ziviles Gepräge hatte.

Nach einer Stunde gingen die jungen Mädchen, weiterhin von Surcouf und René begleitet, zu Fuß zum Hafen.

Im Namen der jungen Damen hatte René Surcouf, Bléas und Kernoch zum Mittagessen eingeladen. Alle Schiffe im Hafen waren beflaggt wie an einem Feiertag, und die Runner of New York, das kleinste und eleganteste unter all diesen Schiffen, hatte an ihrem einzigen Mast, an ihren zwei Rahen und an ihrem Bugspriet sämtliche Wimpel gesetzt, die sie an Bord hatte. Es wurde eine traurige Mahlzeit, obwohl jedermann sich bemühte, heiter zu sein, und obwohl auf Befehl des Generals Decaen, des Gouverneurs der Insel, die Garnisonskapelle auf dem Kai alle Nationalhymnen spielte.

Dann ging ein Beben durch die Runner of New York; die Schaluppen der Standard und der Revenant schleppten sie zur Hafeneinfahrt als letzten Dienst, den die Seeleute ihrem Kameraden erwiesen; Schaluppen und Schiff folgten dem gewundenen Verlauf des Hafens, und die Zuschauer folgten ihnen auf dem Kai, so weit er reichte.

Nach etwa tausend Schritt machten die Schaluppen halt. Die Slup war segelfertig. Während die Taue eingeholt wurden, leerten die Matrosen der Schaluppen ein letztes Glas auf die Runner of New York und ihren Kapitän und riefen: »Auf eine glückliche Reise für Kapitän René und die Demoiselles de Sainte-Hermine!«

Das Schiff fuhr an der Baie de la Tombe entlang und verschwand hinter der Pointe aux Canonniers.

Und bald war von seinem Kielwasser keine Spur mehr zu sehen.


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