12


Amber schwebte allein vor der vorderen Sichtluke der Orbit-Orbit-Fähre. Vor ihr lag die große Antenne des Sierra-Skies-Kraftwerks. Die rechteckige Antenne, eine zerbrechlich wirkende Konstruktion aus Metalldrähten und Strukturelementen von etwa fünf Kilometern Durchmesser, wäre ohne das Spinnwebmuster der Arbeitsleuchten nicht zu sehen gewesen. Die Lampen ließen sie wie ein körperloses Flugzeug erscheinen, das einsam in der unermesslichen Schwärze des Raumes trieb.

Zehn Kilometer darunter lag das eigentliche Kraftwerk. Wie das halbe Dutzend anderer Kraftwerke auch, die in 37.000 Kilometern Höhe über dem Äquator kreisten, bestand das Sierra-Skies-Kraftwerk aus einer Reihe komplizierter Anlagen, die in loser Formation nebeneinander herflogen. Der Habitatzylinder rotierte langsam im ungefilterten Sonnenlicht, die rot-weiß gemusterte Hülle stand blendend hell vor der Schwärze des Raums. Die Station war von sechs großen Fusionsreaktoren umgeben, gigantische Kugeln, aus denen lange, mit paddelförmigen, weißglühenden Kühlelementen besetzte Türme entsprangen. Jeder Generator erzeugte 1200 Gigawatt an elektrischer Energie. Die Hälfte davon wurde mit gebündelten Mikrowellen niedriger Intensität zur Erde gesendet und über das Vereinigte Europa verteilt. Der Rest wurde zur Herstellung von Antimaterie verwendet. Die Antiprotonen wurden in T eilchenbeschleunigern hergestellt, dann gekühlt, in Antiwasserstoff umgewandelt und in supraleitenden Magnetfallen gelagert.

Der Wirkungsgrad des Prozesses betrug weniger als zehn Prozent, doch Antimaterie war bei weitem die beste Energiequelle, die man für Raumfahrzeuge bislang entwickelt hatte. Die Doppelnatur der Tätigkeit des Kraftwerks war seit langem Gegenstand einer Kontroverse. Was ist wichtiger, so lautete die Frage, die Energieversorgung der Erde oder die Herstellung von Antimaterie für Schiffe weit entfernt im Raum? Für diejenigen, die außerhalb der Atmosphäre lebten, hatte das niemals auch nur zur Debatte gestanden. Eine stetige Versorgung mit Antimaterie war für sie ebenso lebenswichtig wie Sauerstoff oder Eis.

Wegen der Meinungsverschiedenheiten darüber, wie viel Antimaterie der Expedition zugeteilt werden sollte, war die endgültige Betankung der Admiral Farragut bis kurz vor dem Start verschoben worden. Alle xpeditionsteilnehmer waren angewiesen worden, vom Sierra-Skies-Kraftwerk aus an Bord zu gehen. Es hatte beinahe eine Woche gedauert, bis sie von der Erde aus eingetrudelt waren. Amber traf als Letzte ein, da sie auf die letzten Beobachtungsergebnisse des Farside-Observatoriums gewartet hatte.

»Der Kapitän sagt, in drei Minuten zündet der Antrieb, Ma’am«, sagte eine Stimme hinter Ambers Rücken. Sie blickte über die Schulter und erkannte Terence Sweeney, den grauhaarigen Bordingenieur der Fähre. Sie hatte ihn nicht heraufkommen gehört.

»Heißt das, ich muss zu meinem Platz zurückkehren, Mr. Sweeney?«

»Keineswegs«, sagte er mit einem leisen Lachen. »Ist nur ein kleiner Seitenschub, damit wir auch wirklich an der Antenne vorbeikommen. Denken Sie daran sich festzuhalten, wenn der Summer ertönt. Sie könnten sich etwas verstauchen, falls Sie frei treiben, wenn der Schub einsetzt.«

»Ist klar«, sagte sie und wandte sich wieder der Aussicht zu. Die Erde lag als gesprenkelter Wasserball unter ihr, mit Irland und Großbritannien als zwei großen Schiffen, die von der Küste Kontinentaleuropas aus in die blaue See stachen. Über der Erde stand der Mond. Sein Anblick machte sie krank vor Heimweh. Es würde drei Jahre dauern, bis sie ihre Heimat wiedersehen würde. Plötzlich erschien ihr der Gedanke an die Expedition weit weniger reizvoll als zu Anfang.

Der Warnsummer ertönte fahrplanmäßig. Ihm folgten fünfzehn Sekunden später ein doppeltes langes Husten der Manövrierdüsen der Orbitalfähre. Simultan mit dem Geräusch schoss eine Dampfwolke an der Luke vorbei und sandte eine Million funkelnder Partikel in die Dunkelheit hinaus.

Nach der Kurskorrektur geschah zwanzig Minuten lang nichts, während die winzige Ansammlung von Gebilden in der Sichtluke weiter wuchs. Als das Kraftwerk die halbe Luke ausfüllte, kam der Bordingenieur in den kleinen Raum zurück.

»Der Kapitän sagt, da Sie unser einziger Passagier sind, hat er die Erlaubnis, zu Ihrem Schiff umzuschwenken und Sie gleich dort abzuliefern. Sie müssten dadurch etwa eine Stunde sparen.«

»Sagen Sie dem Kapitän meinen Dank, Mr. Sweeny. Wie lange ist es noch bis dahin?«

»Eine Viertelstunde. Die Leute vom Kraftwerk haben’s nicht gern, wenn wir mit mehr als Schneckentempo ankommen.«

»Wann können wir die Admiral Farragut sehen?«

»Sie können Sie jetzt schon sehen.«

»Wo?«

Der Ingenieur deutete auf eines von zwei großen, unregelmäßig geformten Gebilden, die durch eine Reihe von Kabeln mit einem der beiden Fusionsreaktoren verbunden waren. »Da liegt sie, gleich neben dem Beschleunigermodul Eins. Sehen Sie?«

Sie folgte seinem Finger. »Das kleine Ding?«

»So klein ist es gar nicht«, erwiderte er. »Es sieht nur so aus, weil der Beschleuniger so verdammt groß ist.«

Amber blickte zu dem Schiff hinüber, das immer noch kleiner wirkte als ein Fingernagel bei ausgestrecktem Arm – es war schwierig, andere Einzelheiten auszumachen als die kugelförmigen Wasserstofftanks, das zylindrische Frachtmodul und das 3annschaftsmodul an der Spitze. Doch 3wie sie so über mehrere Kilometer Vakuum hinweg hin überspähte, schien sich am Bug ein freiliegendes Gestell aus Rohren zu befinden, das sie von dem Foto, welches dem Einsatzplan beigefügt war, nicht wiedererkannte.

»Was ist das, Mr. Sweeney?«

»Was ist was, Miss Hastings?«

»Dieser Apparat am Bug des Schiffes?«

»Keine Ahnung«, sagte er und blickte argwöhnisch hinüber. Er drehte sich in der Luft, stieß sich an einem Schott ab und schoss pfeilgleich davon. Innerhalb von fünfzehn Sekunden war er mit einem Fernglas zurück. Er musterte damit den Frachter. Schließlich reichte er es an Amber weiter. »Ich kann’s nicht identifizieren. Was könnte es sein? Sieht wie eine Art von Andockmechanismus aus, oder vielleicht wie eine Erweiterung des Stützrahmens.«

Amber hob das Fernglas an die Augen und wählte maximale Vergrößerung. Eins der Dinge, die sie auf der Erde fasziniert hatten, war die Art und Weise, wie die Atmosphäre weit entfernte Gegenstände verschwimmen ließ. Im Raum gab es keinen solchen Effekt, ergo starrte sie auf das Schiff, als wäre es nur ein paar Dutzend Meter entfernt. Sie schwenkte das Fernglas an der Flanke des Frachters entlang nach vorne, wobei sie die hellen Sichtluken des Wohnmoduls bemerkte. Dann hatte sie die mysteriöse Bugverzierung genau in der Mitte des Sichtfeldes.

Der Winkel der Sonne erschwerte die Beobachtung. Selbst so brauchte sie nicht einmal eine Minute dazu, die verwirrenden Muster aus Licht und Schatten zu sortieren. Als sie den Gegenstand plötzlich erkannte, verschlug es ihr den Atem.

»Was ist los, Miss Hastings?«

»Es ist ein Teleskop, und zwar ein großes! Sieht aus wie mindestens ein Vier-Spiegel-, vielleicht sogar ein Sechs-Spiegel-Verbund-Teleskop. Aber wie, zum Teufel, haben sie denn so ein Ding für die Expedition bekommen?«

Sweeney zuckte mit den Achseln. »Warum fragen Sie sie nicht, wenn Sie da sind?«

»Das werde ich.«


Zehn Minuten später spürte Amber nicht mehr das Bedürfnis, sich danach zu erkundigen, wo Thorpe das Teleskop beschafft hatte. Bei der Annäherung der Orbitalfähre waren sie direkt über dem Buginstrument vorbeigeflogen. Sie identifizierte es sofort als das MST – ultispiegelteleskop -, das vier Generationen von Astronomen unter der liebevollen Bezeichnung ›Big Ugly Six-Pack‹ vertraut gewesen war. Wegen seines archaischen Spiegeldesigns und seines Gewichts hatte sich nie jemand dafür starkgemacht, das Six-Pack in eine Umlaufbahn zu befördern. Allerdings waren die Frachtgebühren schließlich doch noch bezahlt worden, und Amber vermutete, dass das Teleskop nie wieder zur Erde zurückgebracht werden würde. Trotz seines Alters war es immer noch ein hervorragendes optisches Instrument. Es würde eine willkommene Bereicherung der Gerätesammlung des Farside-Observatoriums bedeuten.

Ein plötzlicher metallischer Ton verkündete, dass die Orbitalfähre erfolgreich an die Admiral Farragut angedockt hatte. Für Amber war das Geräusch das Signal, in die eigentliche 3assagierkabine zurückzuschwimmen und ihr Gepäck aufzusammeln. Ihre zwei Koffer und die Reisetasche schienen jämmerlich wenig, um damit eine Dreijahresreise zu beginnen. Ihr privater Raumanzug, der ihr vor einigen Wochen zugesandt worden war, stellte ihren gesamten übrigen Besitz dar. Dank des plötzlichen Reichtums auf ihrem Bankkonto waren sowohl der Raumanzug wie auch die chiffsoveralls vom Allerfeinsten.

Sie zog die Koffer hinter sich her zur Schleuse, als Sweeney gerade die Innentür öffnete. Hinter der offenen Außentür lag ein kurzer Koppelstutzen. Die ebenfalls offenstehende große Schleuse des Frachters machte den Eindruck eines tiefen Brunnens. Ein grauhaariger Mann schwebte zu einer Seite der 3rachterschleuse und verrenkte sich den Hals, um zu Amber hochzusehen.

»Auf Wiedersehen, Mr. Sweeney«, sagte sie, dem Ingenieur die Hand schüttelnd. »Danke für den Flug.«

»Sie sind stets willkommen, Miss Hastings. Eines Nachts, wenn der Komet hoch am Himmel steht, werde ich meiner Frau und den Kindern von Ihnen erzählen.«

Sie lachte. »Tun Sie das, Mr. Sweeney.«

Sie nahm ihre Koffer an sich und hob sie langsam hoch, bis sie sich in der Mitte des Koppelstutzens befanden. Dann stieß sie sich am Schott ab mit der Absicht, ungehindert von einem Schiff ins andere zu segeln. Doch als sie durch den Außensüll der Fähre schwebte, stieß sie mit dem rechten Schienbein gegen eins der Scharniere der Luftschleuse. Der plötzliche Schmerz ließ ihr dicke Tränen in die Augen schießen, während ihr Körper seitwärts trudelte und augenblicklich gegen die ziehharmonikaartig gefaltete Auskleidung des Koppelstutzens prallte.

»Verdammt!«, murmelte sie und rieb sich das schmerzende Bein, während sie sich abmühte, wieder freizukommen. Sie machte nur geringe Fortschritte dabei, bis eine starke Hand ihren rechten Fußknöchel packte und sie zum Frachter hinunterzog. Verlegen ließ sie ihren Retter die ganze Arbeit tun, während sie sich drauf konzentrierte, das iederherzustellen, was von ihrer Würde übriggeblieben war.

»Na, hallo!«, sagte der weißhaarige Mann, der sie durch die Schleuse gezogen hatte und nun beide Türen zudrehte. »Haben Sie sich verletzt?«

»Mehr meinen Stolz als irgendwas sonst. Danke. Ich hätte doch gedacht, ich käme ein bisschen besser zurecht.«

»Kein Problem«, antwortete er. »Hier draußen kommen einem immer die Beine in die Quere. Die verdammten Dinger sind einfach nicht dafür gemacht, sich durch Löcher zu schlängeln, wissen Sie. Übrigens, ich bin Kyle Stormgaard, Chefingenieur dieser Rostlaube.«

»Amber Hastings.«

»Dachte ich mir doch, dass Sie das sind«, sagte er grinsend. »Das Dämchen hat mir schon gesagt, dass Sie Klasse sind. Übrigens, Sie sind die Letzte, die an Bord kommt.«

»Das ›Dämchen‹?«

»Kapitän Olafson. Wir stellen uns gerne vor, dass die Büchse hier uns gehört, wenn die Bank von Montevideo das vielleicht auch anders sieht.«

»Sie ist Ihre Frau?«

»Bald fünfundzwanzig Jahre«, sagte er stolz. »Praktisch fast genauso lange, wie wir zusammen raumfahren.«

»Sie müssen sich gegenseitig gut kennen.«

Stormgaard lachte. »Glauben Sie mir, Miss Hastings, wenn dieser Flug vorbei ist, dann werden Sie glauben, mit mir verheiratet zu sein – mit mir und mit jedem anderen an Bord ebenfalls. Ein Raumschiff ist kein Ort für einen Klaustrophoben oder jemanden mit einem 3insamkeitsfimmel.«

»Ich bin Lunarierin, Mr. Stormgaard. Ich weiß, dass ich mit Klaustrophobie keine Probleme haben werde. Und was das andere betrifft, sage ich Ihnen in ein paar Monaten Bescheid.«

»Ist okay«, sagte er. »Kommen Sie, dann verstauen wir Ihre Habseligkeiten in Ihrer Kabine. Sie können heute Nacht dort schlafen. Morgen kommen Sie als zahlender Passagier natürlich in den Tank.«

Amber fröstelte. Laut Einsatzplan sollte so gut wie jeder die kommende Reise im Kälteschlaf zubringen. Das war das Einzige, was bei einem so langen Flug Sinn machte. Die benötigten Verbrauchsgüter und die Belastung durch erzwungenen Müssiggang wurden so auf ein Minimum reduziert. Für Ambers Geschmack hatte ein Kältetank jedoch zu viel Ähnlichkeit mit einem Sarg. Sie sah der Erfahrung mit den gleichen Gefühlen entgegen wie dem Besuch beim Zahnplastiker.

Stormgaard, der ihr verstreutes Gepäck aufgesammelt hatte, bemerkte ihren Gesichtsausdruck. »Was haben Sie?«

Sie erzählte ihm von ihrer Aversion gegen den Kälteschlaf.

»Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, versicherte er ihr. »Sie fühlen gar nichts, solange Sie drin sind, altern keinen Tag und, was am wichtigsten ist, brauchen sich sechs Monate lang nicht meine Witze anzuhören. Ich gebe zu, das Aufwachen ist keine wahre Freude, aber die Schmerzen und die Müdigkeit gehen rasch vorbei. Also, ich freue mich darauf.«

»Sie gehen auch in den Tank?«

»Klar«, sagte er. »Unsere Crew besteht aus sechs Leuten. Wir haben drei Paare gebildet. Jedes Paar wird zwei Monate lang wachen und vier Monate lang schlafen. Es gibt nicht besonders viel, was auf einem Schiff, das im freien Fall durchs Vakuum fliegt, kaputtgehen kann, wissen Sie. Ich würde am liebsten die ganze Zeit schlafend verbringen. Kommen Sie, ich bringe Sie zu Ihrem Quartier. Abendessen gibt’s um achtzehn Uhr, und der Kapitän hat’s nicht gern, wenn sich jemand verspätet.«


Thorpe schnallte sich im Beobachtersessel im Kontrollraum der Admiral Farragut fest und sah zu, wie die letzten Flugvorbereitungen getroffen wurden. Der Kontrollraum war ein kuppelförmiger, von einem Rundumbildschirm dominierter Raum, auf dem alle möglichen Kombinationen von Außenansichten und omputererzeugten Diagrammen abgebildet werden konnten. Wenn die Kuppel auf die Außenkameras geschaltet war, schienen die vier Andruckliegen im Raum zu schweben.

Thorpe fühlte sich wie in einem Planetarium. Der große glühende Sonnenball hing in geringer Höhe vor ihm, während sich die sichelförmige Erde bis unter den Horizont der Kuppel zu seinen Füßen erstreckte. Luna war nicht zu sehen und befand sich irgendwo achtern. Das Gebilde aus Reaktoren und Habitatzylinder, die das Sierra Skies Kraftwerk darstellten, waren über dem hellen Rand der Erde deutlich zu erkennen. Und der übermächtigen Sonne zum Trotz leuchteten die Sterne in ihrer ganzen elektronisch verstärkten Pracht. Die Milchstraße überwölbte die Kuppel als silbernes Band.

»Sierra Skies Control, hier Admiral Farragut. Wie ist die Verständigung?«, fragte Kapitän Olafson von irgendwo hinter Thorpe. Der Frachter hatte eine halbe Stunde zuvor mit einem einzigen kurzen Stoß seiner Steuerdüsen abgelegt. Seitdem waren sie von Sierra Skies allmählich abgetrieben.

»Hallo, Admiral Farragut. Wir verstehen Sie gut.«

»Wir haben soeben den Nahbereich verlassen. Erbitten Erlaubnis, auf mittlere Geschwindigkeit zu beschleunigen.«

»Warten Sie, Admiral Farragut.« Es entstand eine drei ßigsekündige Pause, während der Raumlotse die Flugbahn des Schiffes überprüfte. Vor zehn Jahren hatte ein Schiff von einem der Kraftwerke abgelegt – und war genau durch die zerbrechliche Energieantenne gefahren. Seit diesem Vorfall hatten An-und Ablegemanöver einen Beigeschmack von Paranoia. »In Ordnung, Admiral Farragut. Wir haben nachgeprüft, dass Sie den Nahbereich verlassen haben. Sie können beschleunigen wie geplant. Wir möchten Sie daran erinnern, dass es verboten ist, den Hauptantrieb in einer Entfernung unter einhundert Kilometern zu zünden.«

»Verstanden, Sierra Skies. Wir denken an die Hunderterregel!«

»Viel Glück für Ihre Mission, Admiral Farragut

»Danke, Sierra Skies Control. Bitte mach das Reaktionskontrollsystem fertig, Kyle.« Die letzten Worte galten dem Chefingenieur, der die Liege hinter der des Kapitäns einnahm.

»Jawoll! RKS bereit.«

»Warnen Sie die Crew, Mr. Rodriguez.«

Der dritte Mann der Steuercrew, der alle Schiffssysteme mit Ausnahme des Antriebs überwachte, griff nach vorne und berührte einen Schalter. Seine Stimme hallte durch alle Räume.

»Achtung, an alle. RKS-Manöver beginnt jeden Moment. Sie haben fünfzehn Sekunden Zeit, um sich zu sichern.«

Kapitän Olafson wartete die fünfzehn Sekunden ab, dann machte sie etwas mit ihrem LapBoard, woraufhin dem Kuppelschirm eine Serie von Richtkreisen überlagert wurde. Es folgte ein kurzes Fauchen der Motoren, und das niversum draußen begann langsam zu rotieren. Bei drei ßig Grad löste der Kapitän einen weiteren kurzen Schubstoß aus, und die Kreise kamen genau in der Position zur Ruhe, den der Flugplan erforderte. Das nächste Mal, als die Düsen zündeten, liefen sie länger als fünf Minuten. Thorpe fühlte ein schwaches Ziehen, als er in die gepolsterte Oberfläche seiner Beschleunigungsliege einsank.

Am Scheitelpunkt der Wölbung erschien eine Fluganzeige, die die langsam wachsende Entfernung zwischen dem Frachter und dem Kraftwerk sowie ihre zunehmende Geschwindigkeit angab. Als ihre Geschwindigkeit relativ zum Sierra-Skies-Kraftwerk auf 500 km/h gestiegen war, schaltete Kapitän Olafson die Manövrierdüsen ab.

»Letzte Kontrolle. Mr. Rodriguez, machen Sie die Durchsage.«

»Achtung, an alle! Bereithalten zur letzten Bereitschaftskontrolle.«

Plötzlich gab die Kuppel nicht mehr länger die Umgebung wieder. An der Decke erschienen ein Dutzend verschiedene Innenansichten. Sie stammten von Kameras, die in den einzelnen Passagierkabinen angebracht waren. Die Anfangsbeschleunigung des Frachters würde weniger als ein Viertel der Normalschwerkraft betragen, doch die Erfahrung hatte Kapitän Olafson Vorsicht gelehrt. Es hatten sich schon Leute das Genick gebrochen, die vom Einsetzen der Beschleunigung unvorbereitet überrascht worden waren.

Sie ging rasch die Passagierliste durch und fragte jeden, ob er oder sie raumklar sei. Die meisten Bildausschnitte zeigten die Passagiere und Crewmitglieder der Admiral Farragut festgeschnallt in ihren Kojen. Erst als sie ihre Aufmerksamkeit der Kabine der Barnards zuwandte, fiel ihr auf, dass die Schiffsärztin nicht an ihrem zugewiesenen Platz war.

»Wo ist Ihre Frau, Professor Barnard?«

»Sie ist auf der Krankenstation und sortiert ihre Medikamente«, antwortete der lunarische Professor.

Karin Olafson schaltete auf die Krankenstation um. Sie fand Cybil Barnard sitzend vor, einen Fuß unter ein Regal gezwängt und munter mit dem Sortieren der medizinischen Vorräte beschäftigt.

»Wir sind fertig zum Start, Doktor!«

Die Schiffsärztin fuhr auf und sah rasch zu der Stelle hoch, von der das Aufnahmelämpchen der Kamera wie ein unheilverkündendes rotes Auge auf sie herunterblickte. »Sie sollten einen warnen, bevor Sie das tun, Kapitän.«

»Warum sind Sie nicht in Ihrer Kabine?«

»Ich habe hier zu arbeiten.«

»Sie haben sich für raumtüchtig erklärt, bevor wir vom Kraftwerk abgelegt haben. War das unzutreffend?«

»Nein, aber ich muss ein paar Sachen ordnen.«

»Wann werden Sie so weit sein, mit der Kälteschlafprozedur zu beginnen?«

»Sobald Sie die Lage stabilisiert haben, Kapitän. Je mehr wir in die Tanks bekommen, solange wir mit Antrieb fliegen, desto besser.«

»Sehr schön. Es geht nicht an, dass unser Bordarzt sich beim Start womöglich ein Bein bricht. Gehen Sie bitte deshalb in Ihre Kabine und schnallen sich fest.«

»Ja, sobald ich die Sachen hier verstaut habe.«

»Jetzt, Doktor! Das ist ein Befehl.«

Die kecke Blondine im weißen Overall schluckte und errötete ein wenig. »Zu Befehl, Kapitän. Ich bin in zwei Minuten angeschnallt.«

Der Kapitän fuhr mit der Überprüfung der Passagiere und der Crew fort. Als der Rest der achtzehn Männer und Frauen an Bord sich gemeldet hatte, begann sie eine methodische Überprüfung des Frachtmoduls. Hoch auf den Schotts montierte Kameras starrten auf die Ausrüstung der Expedition hinab. Alles schien in Ordnung zu sein.

Die visuelle Inspektion wurde im Antriebsmodul fortgesetzt. Außer bei einem Notfall würde während der Reise niemand das Modul betreten; dennoch ließ Kapitän Olafson den Blick durch die Räume schweifen und suchte nach losen Geräten, die möglicherweise von achtlosen Arbeitern zurückgelassen worden waren. Als Nächstes überprüfte sie die achtzehn kugelförmigen Wasserstofftanks des Schiffes. Hätte irgendeiner der Tanks geleckt, würde der Computer bereits Alarm geschlagen haben. Dennoch nahm sie die Gelegenheit wahr, um nach Andeutungen von austretendem Dampf zu suchen. Erst nach dieser visuellen Inspektion befahl sie dem Computer, den Zustand des Schiffes zu prüfen.

»Alle Anzeigen grün, Kapitän«, meldete Rodriguez.

»Sehr schön. Mr. Thorpe, habe ich die Erlaubnis zum Start?«

»Erlaubnis erteilt.«

»Bereitmachen zum Start. Alle Druckschotts schließen. Magnetfeld der Schubkammer auf volle Stärke bringen. Reaktionsmasse und Antimaterie-Injektion vorbereiten. Zwei-Minuten-Warnung, Mr. Rodriguez.«

»An alle. Längere Beschleunigung beginnt in zwei Minuten. Ich wiederhole. Beschleunigung mit einem Viertel g in zwei Minuten! Allgemeine Bereitschaft.«

»Wie lange wird es dauern, bis wir die Reisegeschwindigkeit erreicht haben, Kapitän?«, fragte Thorpe, womit er die Geschwindigkeit meinte, mit der sie in einer flachen hyperbolischen Kurve zum Jupiter getragen würden. Die den geringsten Energieaufwand erfordernde Flugbahn hätte drei Jahre erfordert und sie lange nach dem Vorbeiflug des Kometen zu dem Planeten gebracht. Sie würden den 800-Millionen-Kilometer-Abgrund zwischen den Planeten in nur sechs Monaten überbrücken. Dazu musste ihre Geschwindigkeit die Fluchtgeschwindigkeit des Sonnensystems überschreiten. Wenn dem Schiffsantrieb unterwegs etwas zustieß, würden sie ihren Flug ins All in alle Ewigkeit fortsetzen.

»Wir fliegen drei Stunden und sechzig Minuten unter Schub, Mr. Thorpe. Ich habe vor, eine Stunde lang alles genauestens zu beobachten und dann Anweisung zu geben, mit den Vorbereitungen zum Kälteschlaf zu beginnen. Habe ich Ihre Erlaubnis fortzufahren?«

»Äh … ja«, sagte Thorpe, als ihm klar wurde, dass ihm eins auf den Deckel gegeben worden war, weil er den Kapitän in einem kritischen Moment unterbrochen hatte. »Fahren Sie fort.«

»Sehr schön«, sagte Kapitän Olafson. »Chefingenieur, machen Sie die erste Antimaterieinjektion in zehn Sekunden! Mr. Rodriguez, drücken Sie auf die Hupe!«

Ein heiserer Alarm gellte plötzlich durch das Schiff. Dann machte Kapitän Olafson die letzte Durchsage selbst.

»Achtung, an alle. Fertigmachen für vollen Schub, zehn … neun … acht … sieben … sechs … fünf … vier … drei … zwei … eins … jetzt!«

Eine sanfte Hand drückte Thorpe in seine Couch, als die 100.000 Grad heiße Flamme aus der Magnetdüse am Heck der Admiral Farragut schlug.

Ihre lange Reise zum Jupiter hatte begonnen.


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