21


»In Ordnung, schwenken wir auf Weitwinkel zurück.«

Amber berührte einen Schalter, und die sechs alten Spiegel rückten in ihrem hexagonalen Rahmen in einen neuen Brennpunkt. Das kleine kugelförmige Objekt, das im Mittelpunkt des Gesichtsfeldes des Teleskops gelegen hatte, kontrahierte rasch bis zur Unsichtbarkeit und wurde von einer leuchtenden Wolke ersetzt. Die Kometenkoma hatte sich seit dem Verlassen des Jupitersystems verdichtet und würde während des nächsten Jahres damit fortfahren. Die durch den Sonnenwind hervorgerufene Reibung würde ungefähr zu dem Zeitpunkt einen erkennbaren Schweif ausbilden, wenn der Asteroidengürtel erreicht war.

Die Admiral Farragut war vor fünf Tagen in den Protoschweif eingedrungen. Während der Monate nach Verlassen des Jupiter waren sie dem Eisasteroiden dreißig Millionen Kilometer in Richtung Sonne nachgejagt. Zu keinem Zeitpunkt war er anders denn als hellstrahlender Halbmond erschienen. Ihre Versuche, die Oberfläche zu kartografieren, indem sie Aufnahmen machten, während sie gleichzeitig um den Kometen herumrotierten, hatten sich als unfruchtbar erwiesen. Detailbeobachtungen der Oberfläche des Kerns wurden durch die umgebende Wolke aus Gas und Staub vereitelt.

»Weitwinkeldarstellung«, meldete Amber, als sich das Bild stabilisierte.

»Maximaler Kontrast!«, befahl Cragston Barnard.

Der Bildschirm veränderte sich erneut. Die Filamente einer eingefrorenen Explosion kamen ins Bild. Die geschwungenen Formen waren zu schwach ausgeprägt, als dass man sie normalerweise hätte erkennen können; erst die Fähigkeit des Computers, kleinste elligkeitsunterschiede zu kontrastieren, machte sie sichtbar. Sie strahlten vom Kern aus und markierten deutlich seine Position, auch wenn er nicht mehr länger zu sehen war.

»Kein Zweifel weiterhin möglich«, sagte Barnard, nachdem er die photometrischen Werte für mehrere Regionen der Koma abgelesen hatte. »Der Kern entgast viel schneller als angenommen.«

»Trotzdem ist der Prozentanteil der flüchtigen Komponenten in der Wolke stabil«, sagte Amber. »Er sollte eigentlich zunehmen.«

Der alte Astronom schüttelte den Kopf. »Alle unsere Beobachtungen deuten darauf hin, dass der Kern, abgesehen von seiner Größe, ein ganz normaler Eisklumpen ist. Nein, wir haben irgendetwas übersehen, und ich glaube, ich weiß, was es ist.«

»Was glauben Sie?«

»Intern gebildete Hitze als Folge der Gezeitenspannungen bei dem nahen Vorbeiflug an Jupiter.«

»Gravitationsbedingte Verwerfungen?«

Barnard nickte. »Die Annäherung muss irgendwie sein inneres Gleichgewicht gestört haben. Die im Innern entstandene Hitze dringt jetzt allmählich an die Oberfläche.«

»Schon möglich«, stimmte Amber zu. »ravitationsspannungen halten das Innere von Callisto flüssig, und bedenken Sie auch, wie weit der von Jupiter entfernt ist.«

Barnard deutete auf einen besonders hellen Streifen. »Schauen Sie sich diesen Strahl an! Er muss aus einem grö ßeren Riss in der Oberfläche hochsprudeln.«

»Aus diesem großen Krater, den wir beim Vorbeiflug gesehen haben?«

Er nickte. »Oder aus tiefen Verwerfungen in seiner Umgebung. Ein wirklich tiefer Riss könnte sich wie ein Hitzebrunnen verhalten.«

»Er müsste ziemlich tief sein«, gab sie zu bedenken.

Barnard zuckte mit den Achseln. »Wie man auch erwarten sollte, wenn man die Größe des übriggebliebenen Lochs bedenkt.«

»Ich bin gespannt, ob Sie Recht behalten, wenn wir näher dran sind.«

»Wie wär’s mit einer kleinen Wette?«

»Nie im Leben, Chef! Sie haben in letzter Zeit schon zu oft Recht behalten.«

Während sie die Kontrollen des Teleskops bediente, summte Amber vor sich hin. Ihre Stimmung war vollkommen anders als nach der Entdeckung der schrecklichen Wahrheit über ihren Namensvetter. Der Grund für ihren Stimmungsumschwung war für jedermann an Bord offensichtlich. Amber war verliebt!

Sie und Tom hatten an jenem Tag in seiner Kabine einen weiteren Drink genommen. Halb damit fertig, hatten sie begonnen, in Erinnerungen zu schwelgen. Dann kam die Rede auf die Abmachung, die sie in San Francisco getroffen hatten. Als sie die dritte Trinkblase geleert hatten, sah Amber ein, dass es unsinnig war, Zeit zu verschwenden, wenn das Ende der Welt bevorstand. Sie hatten darüber gelacht.

Dann war das Gelächter plötzlich verstummt. Aus einem langen Blick wurde eine Umarmung. Hungrige Lippen suchten einander. Was als Nächstes geschah, war so natürlich wie Atmen. Mitten im Liebesakt hatte es sogar eine lustige Unterbrechung gegeben, als sie beim Ertönen des Beschleunigungsalarms gezwungen waren, sich in die Sicherheitsgurte hineinzuwinden, ohne sich voneinander zu lösen. Die Triebwerke der Admiral Farragut erwachten zum Leben, und die beiden Liebenden beendeten, was sie angefangen hatten, bei einem halben g Beschleunigung.

Später hatten sie in gegenseitiger Umarmung geschlafen und sich am Morgen noch einmal geliebt. Beim Frühstück hatte sie vor versammelter Mannschaft erklärt, dass sie bei Tom einziehen werde. Niemand schien davon sonderlich überrascht.

»Also gut«, sagte Barnard, der sich neben ihr streckte und sie aus ihren Träumereien aufschreckte. »Das ist für dieses Mal genug. Programmieren Sie die Komabeobachtungen und stellen Sie das System auf Automatik um. Bis zur ersten Wache brauche ich Sie nicht mehr.«

»Sind Sie sicher, Craig?«

»Ganz sicher. Ich hatte heute beim Frühstück den Eindruck, unser aller Chef ist darüber unglücklich, dass ich Ihre Zeit so ausschließlich beanspruche. Wenn Sie mit dem Programmieren fertig sind, will ich Sie vor morgen früh nicht wieder sehen.«


Karin Olafson lag auf ihrer eschleunigungscouch und betrachtete den Kometenkern auf der Projektionskuppel über sich. Der endlose Nebel begann sich zu lichten. Sie hatte auf die Treibstoffreserven des Schiffes zurückgegriffen, um einen Monat früher einzutreffen, doch erst seit ein paar Stunden konnten sie ihr Ziel mit dem bloßen Auge sehen.

»Wie groß ist der Abstand, Mr. Rodriguez?«

»Fünftausend Kilometer, abnehmend, Captain.«

»Bitte erkundigen Sie sich bei Professor Barnard, ob er genügend Annäherungsdaten hat. Ich bin bereit, das Schiff zu wenden.«

»Verstanden.« Es war ein leises Murmeln zu vernehmen, während Rodriguez mit der astronomischen Abteilung sprach. Dann sagte er: »Fertig, wann immer Sie so weit sind, Kapitän.«

Karin blickte über die Schulter zu ihrem Mann hinüber. »Alles klar zum Wenden, Chefingenieur?«

»Alles klar, Captain.«

»Okay. Bereithalten für die Durchsage.« Sie tippte auf den Hauptschalter des Bord-InterKoms. »Achtung, an alle! Ich wende das Schiff für das Abbremsmanöver. Achten Sie auf Corioliskräfte und vermeiden Sie heftige Armbewegungen. Wendemanöver in dreißig Sekunden!«

Karin zündete zeitplanmäßig die Korrekturtriebwerke. Das Habitatmodul begann beim Geräusch der Zündung zu vibrieren. Das Geräusch war noch nicht wieder erstorben, als der Himmel auf der Kuppel zu rotieren begann. Sie beobachtete aufmerksam das Kompassgitter der Projektion. Als das Schiff darauf wenige Grad vor dem Wendepunkt lag, zündete sie erneut die Triebwerke. Ein zweites Whom! brachte die Rotation zum Stillstand. Im Zenit der Kuppel befand sich ein kleiner gestreifter Planet von beinahe unerträglicher Helligkeit. Aus einer Entfernung von dreißig Millionen Kilometern betrachtet, war Jupiter halb so groß wie der Mond von der Erde aus gesehen. Sein helles Licht durchdrang die Koma und gab ihr das Aussehen eines Vollmondes in einer diesigen Nacht.

»Rückansicht, Mr. Rodriguez.«

Wieder veränderte sich das Kuppelbild und zeigte nun den sichelförmigen Kern. Er sah im Wesentlichen so aus wie während ihrer monatelangen Sternenjagd, außer dass die Ränder der Sichel nicht mehr unscharf und verschleiert waren. Der Eiskern hatte sich in einen kleinen Planeten mit scharf umrissenen Konturen und einer verdunkelten Hemisphäre verwandelt. Der verdunkelte Teil glühte düster im Licht des Jupiter.

Der Kapitän wies Thorpe, der neben ihr festgeschnallt war, auf dieses Phänomen hin. »Sieht so aus, als ob wir die Nacht dort würden durcharbeiten können.«

»Wie nah werden wir den Kometen querab passieren, Captain?«

»Was ist los, Mr. Thorpe? Kein Vertrauen mehr in meine Navigationskünste?«

»Reine Neugier.«

»Wir werden zum Zeitpunkt der größten Annäherung dreihundert Kilometer entfernt sein. Ich lasse alle meine Seitenkameras mitlaufen, deshalb müssten wir gute Sicht auf die sonnenerhellte Seite haben. Dieser große Krater wird komplett beleuchtet sein. Wenn wir eine Entfernung von zweitausend Kilometern auf der Sonnenseite erreicht haben, bringe ich das Schiff zum Stehen.«

Thorpe nickte. Für einen stabilisierenden Orbit bestand keine Notwendigkeit. Bei dem geringen Gravitationssog, der von dem Kern mit seiner geringen Dichte ausging, würde es ein gutes Jahr dauern, bis das Schiff zweitausend Kilometer gefallen war.

Kapitän Olafson beobachtete, wie sich die Aussicht auf den Kometen während der Annäherung veränderte. Ihre Annäerungsgeschwindigkeit – mit einem hohen Prozentanteil ihrer verbleibenden Treibstoffvorräte erkauft – betrug fünf Kilometer pro Sekunde. Wenn sie mit dem Kometen gleichzögen, würde sie mit vollen zwei g fünf Minuten lang verzögern, um die Admiral Farragut in der gewünschten Position zum Stillstand zu bringen. Anschließend würde man mehrere Tage lang Untersuchungen durchführen, ehe man sich für einen Landeplatz entscheiden würde.

Sobald die Erlaubnis von der Erde erteilt worden war, würden sie das Habitatmodul abtrennen und es auf der Oberfläche absetzen. Als Nächstes würde das Frachtmodul automatisch gelandet werden. Das Antriebsmodul würde in einer hohen Umlaufbahn über dem Kern verbleiben, wo es als Relaisstation dienen würde. Wenn sie erst einmal ihre Wasserstoff-Destillationsapparatur installiert hätten, würden sie jeden einzelnen Kugeltank zum Wiederbetanken auf den Boden überführen.

Der Asteroid wuchs allmählich an, bis er so groß war wie ein Planet. Als sie den Punkt größter Annäherung erreicht hatte, schaltete Karin Olafson das InterKom ein. »An alle, vorbereiten auf starke Beschleunigung! Zwei g in zwei Minuten. Achten Sie darauf, dass Sie fest angeschnallt sind. Lassen Sie alles stehen und liegen und begeben Sie sich sofort zu den Beschleunigungsliegen! Machen Sie eine Rückmeldung, sobald Sie fertig sind.«

Sie wartete so lange, bis sich jeder an Bord für die Beschleunigung klargemeldet hatte. Wie sie es vor dem Start getan hatte, inspizierte sie mittels Kamera die Lage jedes Einzelnen und überprüfte ihr Schiff. Dann checkte sie die Bereitschaft der Kontrollraum-Crew.

»Erster Ingenieur!«

»Klar für Beschleunigungsmanöver, Captain.«

»Computercheck, Mr. Rodriguez.«

»Alle Anzeigen grün.«

»Alle Drucktüren schließen. Magnetfeld der Druckkammer hochfahren. Injektion von Reaktionsmasse und Antimaterie vorbereiten.«

»Ist vorbereitet, Captain«, sagte Erster Ingenieur Stormgaard.

Es entstand eine lange Pause.

»Erste ntimaterieinjektion in dreißig Sekunden. Mr. Rodriguez, geben Sie Alarm.«

Im ganzen Schiff ertönte der Beschleunigungsalarm.

»Achtung, an alle. Fertigmachen für vollen Schub, zehn … neun … acht … sieben … sechs … fünf … vier … drei … zwei … eins … jetzt!«


Barbara Martinez schritt langsam durch den langen Korridor der Raumstation Newton und fragte sich, womit sie sich eine Vorladung zu einem persönlichen Gespräch mit dem Direktor von Sky Watch verdient hatte. Computerprogrammierer sechsten Ranges trafen sich nicht oft mit El Patron, und wenn sie es taten, dann hatten sie im Allgemeinen nicht viel Freude daran.

Sie gelangte zum Chefbüro und überprüfte ihre Erscheinung in dem Ganzkörperspiegel, der für diesen Zweck vorgesehen war. Was sie sah, war eine schlanke, schwarzäugige Brünette mit einem gewandten Lächeln und einem für ihr Gesicht etwas zu großen Mund. Sie studierte ihre Gesichtszüge mit der Distanz eines Menschen, der von seinem Aussehen überzeugt ist. Das Graublau ihrer Uniform kontrastierte vorteilhaft mit ihrer ein wenig dunklen Gesichtsfarbe. Befriedigt meldete sie ihr Erscheinen.

Es kam die gedämpfte Aufforderung einzutreten. Franklin Hardesty saß über einen Bericht gebeugt, dessen Vorderseite den scharlachroten Aufdruck STRENG GEHEIM trug. Zusätzlich zu der Sicherheitsklassifizierung prangte auf dem Bericht das Logo des Systemrates. Der Rat hatte in der Vergangenheit als geheim eingestufte Untersuchungen durchführen lassen, das wusste sie, aber diese hatten sich gewöhnlich mit heiklen soziologischen Themen befasst. Soweit sie informiert war, hatte sich Sky Watch nie mit etwas Geheimerem als Gezeitentafeln beschäftigt.

Hardesty blickte auf und schloss bei ihrem Eintreten den Bericht. »Bitte nehmen Sie Platz, Miss Martinez.«

»Danke, Sir.«

Der Direktor hatte sein Büro auf dem Gamma-Deck, wo die lokale Schwerkraft kaum ein Drittel der Standardschwerkraft betrug. Er behauptete, die höhere Schwerkraft auf den Alpha-und Beta-Decks verursache ihm Schmerzen im Bein.

»Ich habe mir Ihre Akte angesehen, Miss Martinez. Ihr entnehme ich, dass Sie als Astrogeologin ausgebildet sind.«

»Ja, Sir. Ich habe meine Doktorarbeit über die Entstehung der Kometen geschrieben.«

»Warum arbeiten Sie nicht auf diesem Gebiet?«

Sie hob die Schultern. »Wo bekommt ein Experte für Kometen denn schon einen Job? Abgesehen von dieser Expedition zum Kometen Hastings neulich, gab es für einen Spezialisten wie mich nicht viele Möglichkeiten.«

»Ich nehme an, Sie verfolgen die Fortschritte der Expedition.«

»Wenn ich kann. Es ist ziemlich still darum geworden, seit der Komet Jupiter hinter sich gelassen hat. Eine Sternenjagd ist eine langwierige Angelegenheit, nehme ich an.«

»Wie es heißt, kennen Sie einen der xpeditionsteilnehmer.«

Sie nickte. »John Malvan. Ich habe ihn kennengelernt, als er letztes Jahr hier auf der Durchreise war. Er versprach, einen Brocken vom Kometen mitzubringen.«

»Malvan ist Lunas offizieller Repräsentant bei dieser Expedition, nicht wahr?«

»Ja, Sir. Wären Sie so liebenswürdig, mir zu sagen, warum Sie mir all diese Fragen stellen?«

»Sky Watch ist beauftragt worden, eine der Arbeitsgruppen des Rates zu unterstützen. Dazu braucht man unsere allerbesten Leute. Ich denke daran, Sie vorzuschlagen.«

»Ein Forschungsprojekt, Sir? Über den Kometen?«

»Tut mir leid, aber mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Der Job schließt einen ausgedehnten Aufenthalt auf der Erde ein. Interessiert?«

»Ja, Sir!« Wie die meisten bei Sky Watch Beschäftigten, hatte Barbara seit langem die Unterhaltungsmöglichkeiten, welche die Newton Station zu bieten hatte, ausgeschöpft. Trotz der hohen Bezahlung und der luxuriösen Wohnquartiere, war es ihr unmöglich, nicht zu bemerken, dass sie ihr Leben in einem gekrümmten Abzugsrohr verbrachte. Ein ausgedehnter Aufenthalt auf der Erde war genau das Richtige für sie.

»Falls Sie ausgewählt werden, wird man von Ihnen höchste Geheimhaltung verlangen. Sie werden niemandem sagen können, was Sie tun, außerdem wird Ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden.«

»Für wie lange?«

»Es könnte für mehrere Monate sein. Immer noch interessiert?«

»Sie sagen, dass es wichtig ist?«

»Es ist lebenswichtig.«

»Dann bin ich interessiert.«

Hardesty nickte. »Packen Sie Ihre Sachen und halten Sie sich für den Mittagsshuttle bereit. Sie sollen sich morgen um acht Uhr Ortszeit in Raum 1012 in unserem Denver Hauptquartier melden. Dort erhalten Sie weitere Anweisungen. Noch irgendwelche Fragen?«

»Nein, Sir.«

Hardesty erhob sich und hielt ihr seine Hand hin. »Viel Glück. Wir verlassen uns auf Sie.«


Halver Smith eilte durch den heftigen Wind zum Hauptgebäude dessen, was einmal eine pädagogische Hochschule in New Mexico gewesen war. Überall lag Schnee, außer auf den Gehwegen zwischen den Gebäuden. Im Beton verlegte Leitungen ließen den Schnee auf den Wegen schmelzen. Hinter den roten Ziegelhäusern mit ihren grünen Kupferdächern lag ein scharfzackiger Gebirgszug.

Die ehemalige Hochschule war vor fünf Jahren in Smiths Besitz übergegangen, und als Constance Forbin die Notwendigkeit erläutert hatte, die neue Arbeitsgruppe an einem sicheren Ort unterzubringen, hatte er den Campus angeboten. Eine kleine Armee von Handwerkern war zwei Wochen mit den nötigen Umbauten beschäftigt gewesen. Die Renovierung der Schlafsäle war immer noch im Gange.

Obwohl er seine Anzugheizung auf volle Leistung gestellt hatte, zitterte Smith, als er das Verwaltungsgebäude erreicht hatte. Nachdem er von einer Wache identifiziert worden war, durfte er zum zweiten Stock hinaufsteigen. Die Sekretärin des Projektleiters informierte ihn, dass Direktor Warren jemanden in seinem Büro habe, dass er jedoch in ein paar Minuten zur Verfügung stünde. Smith verbrachte die Zeit damit, sich an einem altmodischen Radiator aufzuwärmen.

Als die Tür zum Büro des Direktors aufging, trat eine hübsche junge Frau heraus. Smith fiel sie deshalb auf, weil ihr Haar so dunkel war, dass es bläulich schimmerte. Sie machte ein Gesicht, das Smith wiedererkannte. Es war der benommene Gesichtsausdruck von jemandem, der soeben die Wahrheit über den Kometen erfahren hatte.

»Frisch angeheuert?«, fragte er.

»Wie bitte?«

»Ich meinte, ob Sie neu hier sind.«

Sie nickte. »Gerade von der Newton Station heruntergekommen.«

»Und Direktor Warren hat Ihnen eben gesagt, worum es geht.«

Sie nickte erneut.

»Meiner Erfahrung nach dauert es eine Woche, bis man seine Fassung wiedergewonnen hat.«

»Ich werde daran denken.«

Smith sah ihr nach. Er beneidete sie keineswegs. Sie hatte die Einweisungen noch vor sich. Die meisten brauchten ein paar steife Drinks, wenn die Einweisung beendet war.

»Hallo, Clarence«, sagte er beim Eintreten in das Büro des Direktors. »Wie ich sehe, haben Sie mal wieder Glückseligkeit verbreitet.«

Clarence Warren war ein vierzig Jahre alter ehemaliger Professor, der sich in seinem neuen Büro richtig zu Hause zu fühlen schien. Wegen seines Übergewichts neigte er zu einem watschelnden Gang.

»Guten Abend, Halver. Ja, ich versuche immer, die neuen Rekruten mit der Lage persönlich vertraut zu machen. Ich finde, ihre Reaktionen sagen etwas über ihre Persönlichkeit aus. Was kann ich für Sie tun?«

»Wie ich höre, sind die ersten Bilder eingetroffen. Ich dachte, ich komme mal vorbei und schau sie mir an.«

»Warum, um Gottes willen? Morbide Neugier?«

»Asteroiden zu bewegen ist mein Job, erinnern Sie sich?«

»Richtig«, antwortete Warren. »Ich vergesse manchmal, dass Sie diesen ganzen Zweig überhaupt erst in Gang gebracht haben. Die kartografischen Aufnahmen müssen irgendwo hier herumliegen.«

Warren griff in seinen Schreibtisch und zog einen Stoß ausführlich erläuterter Fotografien hervor, wie sie bei Astronomen üblich sind. Die Hologramme waren vergrößert worden, damit Einzelheiten und Erhebungen zu erkennen waren. Sie anzusehen war, als schaute man auf eine iniaturausgabe von Luna hinab.

Das erste Foto zeigte den Kern in vollem Sonnenlicht. Die vorherrschende Farbe war das Graubraun von Luna, abgesehen von den Stellen, wo frische Krater durch die äonenlangen Ablagerungen von kosmischem Staub gebrochen waren. Das bemerkenswerteste Gebilde war ein riesiger Krater, der sich über beinahe ein Viertel des Umfangs des Eisasteroiden erstreckte. Der Krater war von einer Reihe von konzentrischen Ringwällen umgeben und wies im Zentrum eine Erhöhung auf, die während der Jahrhunderte in sich zusammengefallen war; nur ein kleiner Hügel war übriggeblieben.

Vom Krater strahlten mehrere dunkle Ringe aus, die zweifellos physikalische Verwerfungen waren – gewaltige Risse, die von der Kollision herrührten, bei der sich der Krater gebildet hatte.

Der Krater im Zentrum war nicht der einzige dieser Art. Wie bei den meisten atmosphärelosen Himmelskörpern des Sonnensystems war die Oberfläche von miteinander überlappenden Kratern bis an die Grenze der Bildauflösung zernarbt. Auch rätselhafte dunkle, längliche Muster waren zu sehen, den vom Zentralkrater ausgehenden Rissen ähnlich, aber doch anders als sie. Als er das Foto aus der Nähe betrachtete, entdeckte Smith so etwas wie Schatten.

»Die sehen wie Gebirgszüge aus«, sagte er, indem er Warren auf die Gebilde hinwies.

»Das«, antwortete der Projektleiter, »sind Felsformationen. Wie wir erwartet haben, ist der ganze Kern eine Mischung aus Eis und Gestein im Verhältnis fünfundsiebzig zu fünfundzwanzig. Irgendein Mechanismus hat an zwei Stellen zur Ausbildung von Felsgraten geführt. Wie Sie schon sagten, eine Art Gebirge.«

Smith starrte weiter auf das Objekt, das in letzter Zeit eine solche Bedeutung in seinem Leben angenommen hatte. Andere Aufnahmen zeigten weitere Aspekte, einschließlich der dem großen Aufschlagkrater gegenüberliegenden Seite. Weitere Rissmuster bewiesen, dass die Kollision, die den Eisasteroiden in der Oort-Wolke aus seiner Bahn geworfen hatte, ihn beinahe auseinandergerissen hatte. Das ganze Innere schien nur aus Verwerfungen zu bestehen.

»Kann ich hiervon einen Satz haben, Clarence?«

»Wenn Sie dafür unterschreiben«, antwortete der Direktor. »Schon eine Idee, wie wir eine so große Masse aus dem Weg schaffen sollen?«

»Noch nicht«, sagte Smith. »Vielleicht fällt mir etwas ein, wenn ich die Fotos eine Weile studiert habe.«

»Irgendeinen Vorschlag, wo wir sie landen lassen sollen?«

»Aber klar«, sagte er. »Der Krater ist der logische Ort dafür.«

»Weshalb?«

»Ganz leicht. Er ist der Schlüssel zu der Struktur des Kerns. Wenn wir das Schloß öffnen wollen, dann müssen wir genau an dieser Stelle ansetzen.«


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