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Die Frachtcontainer waren sieben Meter lang und maßen drei Meter im Durchmesser. Sie bestanden aus Stahl mit geringem Kohlenstoffgehalt an Stelle der Legierungen, die speziell für Raumfahrzeuge entwickelt worden waren. Damit sie vom Massebeschleuniger beschleunigt werden konnten, mussten die Containerhüllen aus magnetischem Material sein. Und obwohl sie wie Tanklastwagen ohne Räder aussahen, stellten die Container auf ihre Weise raffinierte Raumfahrzeuge dar. Jeder war mit einem Antriebssystem ausgestattet, das Kurskorrekturen erlaubte und verhinderte, dass die Zylinder während des Fluges ins Trudeln gerieten.

Es gab drei Grundtypen von Containern. Ein Modell war gut isoliert und besaß ein Kühlsystem, das kryogene Flüssigkeiten über lange Zeit hinweg kühl halten konnte. Ein anderes Modell war druckfest und hielt erdtypische Temperaturen aufrecht, damit Saatgut, Pharmazeutika und andere verderbliche Güter nicht schlecht wurden. Das dritte und gebräuchlichste Modell war lediglich ein gasdichter Zylinder, in den alle möglichen Arten von Schüttgut gepackt wurden. Die Container, die sie in der Ladehalle vorfanden, waren alle vom dritten und einfachsten Typ.

Thorpe kletterte in einen der Zylinder und war überrascht über die Größe des Innenraums. Er überlegte kurz, ob sie sich alle fünfzehn in einem einzigen Container zusammenquetschen konnten. Im Geiste stellte er sich den Platz vor, den sie für Atemluft, Wassertanks, Proviant, Medikamente, Werkzeuge, Abfallbeseitigung und Kommunikationseinrichtung benötigen würden.

Als er sich jedes Gerät an seinem Ort vorstellte, schrumpfte das für die Passagiere verfügbare Volumen erheblich.

Den meisten Platz erforderte der Flüssigsauerstoff, den sie als Atemluft verdampfen würden. Den einfachen Transportbehältern fehlte sowohl die schwere Isolierung wie auch die Kühleinrichtung für die kryogenen Speichermodule; deshalb konnten sie damit rechnen, den größten Teil ihres Sauerstoffs aufgrund der Erhitzung durch die Sonne und der daraus resultierenden Verdampfung zu verlieren. Er schätzte, dass der Vorrat für zwei Wochen reichen würde, wenn sie die Hälfte des Platzes zur Lagerung von Sauerstoff verwenden würden. Mit allen Personen in einem einzigen Container würden sich die zwei Wochen auf eine verkürzen. Das allein war Grund genug, zwei Container zu nehmen, sagte sich Thorpe.

Zusätzlich zur Lagerung von Sauerstoff würden die Passagiere vor der Startbeschleunigung geschützt werden müssen. Thorpe erwog, vom nahegelegenen Schrottplatz Beschleunigungsliegen zu holen, verwarf die Idee jedoch rasch wieder. Es würde nicht nur zu viel Oberflächenaktivität mit sich bringen – und dadurch unliebsame Aufmerksamkeit auf sie ziehen -, die Liegen würden auch zu viel Platz beanspruchen. Besser wäre es, mehrere Netze durch den Zylinder zu spannen und diese zum Abfedern der Beschleunigung zu verwenden. Einmal im Raum, konnten die Netze verstaut werden, um den nutzbaren Raum zu vergrößern.

Thorpe besprach seine Ideen mit Niels Grayson, der ihm ins Innere des Zylinders gefolgt war. Grayson erinnerte ihn daran, dass sie Bullaugen in die Wände würden schneiden müssen. Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Eintreffens des Kometen wollte keiner von ihnen auf das Spektakel dadurch verzichten, dass er sich in eine fensterlose Stahlbüchse einschloss.

Im Anschluss an ihr Gespräch begaben sie sich in eines der Büros an der Peripherie der Halle. Dort entdeckten sie einen CAD-Computer. Während seines Aufenthalts auf dem Felsen hatte Thorpe einige Fertigkeit darin erlangt, von seinen in Planung befindlichen Projekten Skizzen anzufertigen. Innerhalb von zwei Stunden hatte er einen ganzen Satz von Plänen für den Umbau ihrer provisorischen Raumfahrzeuge.

Während er und Grayson planten, erkundeten die übrigen Mitglieder ihrer Gruppe die Höhle. Der Massebeschleuniger erwies sich als eine Schatzkammer von Dingen, die sich für einen Schiffbrüchigen als nützlich erweisen könnten. Außer zwei gewaltigen Eisklötzen, die auf ihren Abtransport warteten, entdeckten sie zwei riesige Gasflaschen mit flüssigem Sauerstoff und Wasserstoff. In einem Lagerraum fanden sich Dutzende großer Rollen mit starkem Elektrokabel, das sie benutzen konnten, um sich daraus Netze zu knüpfen. Aus einem anderen Lagerraum stammte ein Vorrat von Funkgeräten und Geräten zur Stromerzeugung. Diese würden in Funkfeuer verwandelt werden, damit ihre Retter die Container in der Weite des Weltraums fanden.

Nachdem er sich die Bestandsaufnahme angehört hatte, teilte Thorpe die Astronomen in zwei Arbeitsgruppen ein. Vier Stunden später wurde die erste Scheidewand in einem der Container festgeschweißt. Thorpe beobachtete, wie mehrere Männer eine große Stahlplatte in den ersten Container schafften. Er bemerkte erst nach einer Weile, dass Niels Grayson neben ihm stand.

»Hallo, Niels. Ich habe Sie gar nicht kommen gehört.«

»Das wundert mich nicht. Sie sehen aus, als würden Sie jeden Moment umkippen.«

»Nicht doch. Mir geht’s gut.«

»Wann haben Sie zuletzt geschlafen?«

»Vor dreißig Stunden, schätze ich.«

»Wohl eher vierzig, würde ich sagen. Warum legen Sie sich nicht irgendwo aufs Ohr? Die kommen schon ein paar Stunden ohne Sie zurecht. Und Sie wollen doch wohl bei der großen Show morgen frisch und munter sein.«

Thorpe blinzelte verwirrt. »Was ist denn morgen?«

»Das sollten Sie eigentlich wissen. Sie sind derjenige, der alles ins Rollen gebracht hat.«

»Oh, wirklich? Der Felsen stößt mit Donnerschlag zusammen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ich bin wohl müder, als ich dachte. Ich glaube, ich werde auf Ihren Vorschlag eingehen. Was ist mit Amber? Sie ist ebenso lange wach wie ich.«

»Nein, das ist sie nicht. Sie ist eingeschlafen, während sie das Bedienungshandbuch dieser verdammten Anlage zu entziffern versuchte. Ich hab sie ins Vorzimmer des Betriebsleiters bringen lassen.«

»Nun, ich glaube, ich werde ebenfalls ein Loch finden, in dem ich mich verkriechen kann. Wecken Sie mich, wenn es so weit ist oder wenn irgendetwas Unvorhergesehenes passiert.«

»Mache ich.«

Thorpe ging in ein Büro, das ihm schon vorher aufgefallen war. Es hatte einen Tisch, auf dem er sich ausstrecken konnte, und eine Tür, die geschlossen werden konnte. Dieser letztere Punkt war der wichtigste. Seine Mannschaft von Amateur-Schiffsbauern erzeugte mehr Lärm, als er für möglich gehalten hätte.

Thorpe erwachte, als er unsanft an der Schulter geschüttelt wurde.

»Aufwachen, Mr. Thorpe. Der Direktor erwartet Sie oben im Kontrollraum. Sie müssen sich beeilen.«

Thorpe öffnete die Augen. Jamie Byrant blickte auf ihn herunter. Er stöhnte und setzte sich auf, wobei seine Beine über die Tischkante hingen.

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Sechs Stunden. Es ist fast zehn.«

»Wie geht es mit den Umbauten voran?«

»Ganz gut. Wir haben das mittlere Schott in beide Container eingeschweißt. Wir sind dabei, ein zweites Schott einen Meter vor dem ersten einzubauen. Wir müssten in etwa einer Stunde so weit sein, dass wir den ersten Drucktest für die Sauerstofftanks machen können.«

»Zwei Schotts?«, fragte Thorpe, immer noch darum bemüht, einen klaren Kopf zu bekommen. »Wer hat das angeordnet?«

»Das war Dr. Dorniers Vorschlag. Er meinte, wir würden bis zu den Achseln in flüssigem Sauerstoff stehen, wenn das einzige Schott beim Start nachgeben sollte. Wir wollen den Zwischenraum mit Wasser auffüllen. Das Wasser wird gefrieren, wenn der Sauerstoff erst einmal eingefüllt ist. Die Kombination aus Stahl und Eis müsste eine starke Barriere abgeben.«

»Was ist, wenn sich das Eis beim Gefrieren ausdehnt?«

»Daran haben wir gedacht. Wir haben Styroporblöcke auf die Innenseite des vorderen Schotts geklebt. Das Eis wird sie beim Gefrieren zusammendrücken. Außerdem werden sie den Tank zusätzlich isolieren.«

Thorpe nickte. »Das war ein guter Einfall. Es wäre eine Schande, wenn wir die Reise als Eisblöcke beenden würden.«

Thorpe kam auf die Füße, streckte sich und ging steif zur Tür. Er fühlte sich schlechter, als er sich vor dem Einschlafen gefühlt hatte. Wenn es einen Trost gab, dann war es Lunas niedrige Schwerkraft, die einen harten Tisch zu einer so weichen Unterlage machte wie irgendein Bett auf der Erde.

Als er aus dem Lift trat, fand er Niels Grayson und Amber im Kontrollraum des Massebeschleunigers.

»Morgen, mein Schatz«, sagte er und wollte sie an sich ziehen, um sie zu küssen.

Sie wehrte seinen Annäherungsversuch ab. »Nicht zu nah. Mein Atem heute Morgen ist nicht der frischeste.«

»Na und?«, sagte er und küßte sie trotzdem.

»Sehen Sie sich das an, Thomas«, sagte Grayson, auf einen Bildschirm deutend, der auf einen achrichtensender eingestellt war.

Der Schirm zeigte den vertrauten weißen Nebel der Kometenkoma. Thorpe hatte sich vorzustellen versucht, wie der Komet aussehen würde, wenn er der Erde näher kam. Er hatte Visionen von einem hauchdünnen Bogen gehabt, der sich von Horizont zu Horizont erstreckte. Nun, er hätte sich nicht stärker täuschen können. Der Komet war ein unförmiger Ball diffusen Lichts, der am Himmel einen Platz vom zehnfachen Durchmesser des Vollmonds einnahm. Die Erde hatte den Schweif des Kometen vor drei Wochen erreicht, und es gab kaum eine weniger schmeichelhafte Perspektive, als einen Kometen genau von hinten zu betrachten.

Nach dem Erreichen des Perihels war die Koma deutlich dicker geworden. Donnerschlags Eisebenen mussten während des nahen Vorbeiflugs heftig gekocht haben. Als Folge davon hatte der Kern Millionen Tonnen von Wasserdampf, Gas und Staub an die umgebende Wolke verloren. Thorpe wusste, dass irgendwo in dieser Wolke zwei massive Körper verborgen waren, die sich einander rasch näherten. In wenigen Sekunden würde es nur noch einen geben.

Er hörte schweigend einem geschwätzigen Sprecher zu, der zum zwanzigsten Mal erklärte, was geschehen würde. Dann gab eine amtlich klingende Stimme bekannt, dass es nur noch eine Minute bis zum Zusammenstoß sei. Thorpe wartete atemlos, während die Stimme die letzten Sekunden zählte. Plötzlich wurde der Bildschirm weiß, als blendendes Licht aus dem Zentrum der Koma brach. Das Licht verblasste langsam, während es sich von einem dimensionslosen Punkt ausgehend ausbreitete. Dann erfüllte die rasch expandierende Lichtflut die ganze Koma und ließ sie erglühen wie eine altmodische Fluoreszenzlampe. Langsam verblasste das Leuchten mit jeder Minute mehr, bis es endlich so weit nachgelassen hatte, dass es der ursprünglichen Helligkeit nahekam. In seinem Mittelpunkt aber brannte ein winziges Feuer mit unverminderter Heftigkeit fort.

»Nun, ich schätze, das war’s«, sagte Thorpe, wobei er hoffte, dass Grayson und Amber nicht das Zittern in seiner Stimme bemerkten. »Wie kommt ihr mit dem Programmieren des Starts voran, Amber?«

»Ich müsste bald so weit sein«, antwortete Amber. »Dem Handbuch nach werden wir mit mindestens zehn g starten müssen, wenn wir die Fluchtgeschwindigkeit des Mondes erreichen wollen.«

»Dann also zehn g

»Wie sieht es unten aus?«

»Byrant meldet, dass wir im Zeitplan sind. Ich glaube, ich gehe mal besser runter und kümmere mich darum. Sehen wir uns zum Mittagessen?«

»Klar«, sagte sie.

Er blickte zum Bildschirm und deutete auf den immer noch leuchtenden Lichtpunkt im Zentrum der Koma. »Ich schätze, das bedeutet, dass Donnerschlag endgültig auf dem Weg ist. Eins ist mal sicher. Wir wollen nicht hier sein, wenn er kommt.«

Acht Stunden später untersuchten sie die Wohnbereiche der umgebauten Container auf ihre Druckfestigkeit. Der Test sah so aus, dass einer von ihnen im Container eingeschlossen und der Druck allmählich bis zum Limit erhöht wurde. Die Eingeschlossenen horchten dann auf Lecks – wobei sie ihre Trommelfelle dazu benutzten, minimale Druckveränderungen mehr zu spüren, als dass sie sie eigentlich hörten.

»Keine Lecks, Mr. Thorpe«, meldete Jamie Byrant nach einer halben Stunde.

»Wirklich keine Lecks?«

»Nein, Sir. Wir haben Seifenlösung rund um die Bullaugen und alle neuen Einbauten gesprüht. Keine Blasen.«

»Sehr schön. Sagen Sie Ihren Kalfaktern, dass sie gute Arbeit geleistet haben. Lassen wir jetzt die Luft ab, dann setzen wir den Deckenkran in Betrieb und schaffen den ersten Container zur Laderampe. Ich möchte, dass der Sauerstofftank eine Stunde lang abgekühlt wird, ehe Flüssigkeit hineinkommt. Wir sind schon zu weit gekommen, um jetzt noch unsere Schweißnähte mit einem Temperaturschock zu ruinieren.«

»Eine Stunde Abkühlen vor dem Auffüllen. Jawohl, Sir!« Der Techniker, der inzwischen de facto Thorpes Assistent geworden war, ging hinaus, um die Anweisungen auszuführen.

»Wie lange noch, bis wir starten können?«, fragte Niels Grayson.

»Geben Sie uns noch ein paar Stunden, bis wir die Sauerstofftanks auffüllen«, sagte Thorpe. »Je länger wir sie kühlen, desto größer ist das Gasvolumen, das wir darin unterbringen.«

»Ich werde die Leute schon ihre Sachen zusammensuchen lassen. Beim Start sollte möglichst alles verstaut sein.«

»Verdammt richtig!«, meinte Thorpe. »Bei zehn g wird alles, was lose ist, mit der Wucht einer Kanonenkugel herumfliegen. Wir müssen alles doppelt sichern, bevor wir …«

Thorpe brachte seinen Satz niemals zu Ende, denn in diesem Augenblick tauchte Margaret Grayson aus der provisorischen Küche auf, die sie in einem der Büros an der Peripherie der Halle eingerichtet hatten. Die Akustik in der Halle war nicht die beste, und Thorpe brauchte einen Moment, bis er begriff, was Margaret da rief. Als er es endlich begriffen hatte, war es wie ein Schlag in den Magen.

Am Raumhafen war der Aufstand richtig losgebrochen!


Der kleine Raum war nicht groß genug für alle. Trotzdem drängten sich neun Personen hinein. Margaret sah die Nachrichten auf einem kleinen Monitor in der Ecke. Die Lokalstation hatte einen Kommentar über den Zusammenstoß des Felsen mit Donnerschlag gesendet. Sie hatten die Sendung unterbrochen, um über Unruhen am Luna City Spaceport zu berichten. Als Thorpe und die anderen dazukamen, schwenkte das Bild auf einen Reporter, der sich hinter eine Säule duckte. Der Reporter hatte seine Stimme zu einem Flüstern gesenkt und berichtete, was vor sich ging.

»Das Feuer wurde vor zwei Minuten eröffnet, Mary Ann. Augenzeugen berichten, mehrere Jugendliche hätten versucht, den Kontrollpunkt der Abfertigungshalle anzugreifen. Wer die ersten Schüsse abgab, ist unbekannt. Wir wissen lediglich, dass weiter oben auf der Rampe und hinter der nächsten Ecke ein Feuergefecht im Gange ist. Von Zeit zu Zeit höre ich leises Knattern, unterbrochen von lautem Knallen. Das Knallen stammt von Polizeigewehren, glaube ich. Unter den Leuten, die darauf warteten, evakuiert zu werden, brach eine Panik aus, die inzwischen aber unter Kontrolle gebracht zu sein scheint. Sie können die Unentschlossenheit in den Gesichtern der Menschen sehen. Viele möchten fliehen, haben aber gleichzeitig Angst, ihre Schiffe zu versäumen. Das Feuer hat jetzt etwas nachgelassen. Vielleicht ist es gleich vorbei. Warten Sie einen Moment! Ich sehe jetzt Leute die Rampe herunterlaufen. Mein Gott, sie haben Gewehre und sie kommen auf uns zu!«

Das Bild und jedes andere Licht in der Halle erloschen. Thorpe blickte sich um, als von Mitgliedern seiner Gruppe Angstschreie ausgestoßen wurden. Doch nach wenigen Sekunden schaltete sich die Notbeleuchtung ein.

»Nur die Ruhe! Der Strom wird gleich wieder eingeschaltet werden.« Während er es sagte, wusste er bereits, dass es nicht stimmte. Auf Luna war elektrischer Strom so lebenswichtig wie Sauerstoff. Das elektrische Versorgungsnetz auf Luna war deshalb in vierfacher Auslegung gebaut worden, um allen denkbaren Ausfällen vorzubeugen. Es erforderte eine schwerwiegendere Störung, als er sich vorzustellen wagte, um den Massebeschleuniger in tiefe Nacht zu tauchen.

Ambers Stimme hallte durch die Dunkelheit. »Tom! Komm mal her, ich brauche dich.«

Thorpe kämpfte sich durch die zusammengedrängten Leiber und entdeckte Amber auf einem Laufsteg, der oben an den Hallenwänden entlanglief. Als sie ihn sah, wandte sie sich um und trat durch die Tür, die zum Hauptkontrollraum führte. Er eilte zu einer Leiter und kletterte zu dem Laufsteg hinauf. Wenige Sekunden später befand er sich bei Amber in dem abgedunkelten Raum.

»In der ganzen Stadt ist der Strom ausgefallen«, sagte sie tonlos.

»Bist du sicher?«

»Als die Beleuchtung ausfiel, habe ich sofort mehrere öffentliche Bildschirme angerufen. Überall sieht man Notbeleuchtung.«

»Das Kraftwerk?«

»Das muss es wohl sein.«

»Ich frage mich, was passiert ist.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Entweder die Regierung hat den Strom abgeschaltet, um den Aufruhr zu beenden, oder aber jemand hat das Kraftwerk beschädigt.«

»Wenn es die Regierung gewesen wäre, würde das Licht inzwischen wieder brennen.«

»Glaube ich auch«, sagte sie. »Das bedeutet, dass es wohl die Aufrührer sind. Sehr wahrscheinlich haben sie den Angriff auf den Raumhafen mit einem auf das Kraftwerk abgestimmt. Vielleicht dachten sie, sie könnten die Regierung erpressen, sie auf ein Schiff zu lassen.«

»Schalte die Außenkameras an. Sehen wir uns mal an, was am Raumhafen vor sich geht.«

Amber schaltete den Bildschirm, der jetzt von einem otstromaggregat versorgt wurde, auf Außensicht um. Zunächst erschien alles normal. Dann brachen Flammen aus dem Heck einer der Fähren auf der gegenüberliegenden Seite des großen Platzes. Das Schiff hob sich langsam in den schwarzen Himmel, neigte sich zur Seite und verschwand aus dem Bild. Einen Moment darauf folgte ein zweites Schiff. Dann hoben mehr und mehr Schiffe ab und verschwanden im schwarzen Himmel, bis kein Zweifel mehr möglich war.

Die Autoritäten verließen ihre Posten. Die Evakuierung war beendet.

»Nicht zu glauben!«, knurrte Thorpe, als er begriff, was vor sich ging.

»Ich hätte nie gedacht, dass sie das tun würden«, sagte Amber fassungslos. »Ich glaube, ich wusste, was geschehen würde, aber ich hätte nie gedacht, dass sie es tun würden

Sie blickten einander lange an. Bis jetzt waren sie im Kontrollraum allein. Nur sie beide wussten, was vor sich ging.

»Wer sagt es ihnen?«, fragte Amber und deutete mit einem Kopfnicken zur Halle, wo der Rest ihrer Gruppe wartete.

»Ich. Ich glaube, wir sollten besser starten, sobald wir mit dem Beladen fertig sind.«

Amber presste den rechten Handrücken vor den Mund und starrte ihn mit weitaufgerissenen Augen an. »O nein!«

»Was ist?«

»Wir können nicht starten! Überall sind Warnschilder, die Kondensatoren nicht über längere Zeit in geladenem Zustand zu belassen. Offenbar können sie dadurch beschädigt werden. Ich hatte vor, sie unmittelbar vor dem Start zu laden.«

»Wir haben keinen Strom? Wir haben überhaupt keinen Strom mehr?«

»Nicht genug, um den Orbit zu erreichen«, sagte Amber. »Wenn wir versuchen würden zu starten, würden wir nur einen Krater in irgendeinen Ringwall bohren!«


Thorpe versammelte in der Ladehalle alle um sich. Die Nachricht, dass man sie aufgegeben hatte, wurde gut aufgenommen. Sei es, weil sie dergleichen erwartet hatten oder weil die Strapazen der letzten Woche sie erschöpft hatten, dessen war er sich nicht sicher. Ebenso unerwartet war für ihn ihre Reaktion auf die Nachricht, dass ihnen der Strom zum Start fehlte. Anstatt Amber Vorwürfe zu machen, dass sie den Kondensator nicht früher aufgeladen hatte, nahmen die meisten diesen Schlag mit Fassung auf.

»Vielleicht kann man das Kraftwerk wieder ans Netz bringen«, sagte Allison Nalley.

»Unwahrscheinlich«, erwiderte Thorpe und erläuterte seine und Ambers Theorie über das, was geschehen war. »Wahrscheinlich war es eine Bombe. Wie auch immer, die Stromgeneratoren liegen auf der anderen Seite der Stadt. Ich möchte nicht, dass jemand herausbekommt, was wir vorhaben.«

»Wir haben Licht«, sagte Jamie Byrant. »Was für ein Notstromsystem hat der Massebeschleuniger?«

horpe runzelte die Stirn. Der Gedanke, dass es außer der städtischen Energieversorgung noch eine andere Möglichkeit geben könnte, die Kondensatoren zu laden, war ihm noch nicht gekommen. »Wie steht es damit, Amber?«

»Ich habe einen Verweis auf das Notstromsystem im Handbuch entdeckt«, sagte sie nachdenklich. »Aber ich hab ihn nicht gelesen.«

»Das herauszufinden dürfte eine Leichtigkeit sein«, antwortete Thorpe. Er wies die jüngeren Männer an, den ersten Container zu der Stelle zu schaffen, wo man ihn mit Flüssigsauerstoff beladen konnte, während er, Amber, Grayson und Dornier sich in den Kontrollraum begaben. Sie kletterten die Leiter zu dem Laufsteg empor und gingen durch düstere Korridore zum Kontrollraum. Amber setzte sich vor den großen Bildschirm und gab die Hilfeaufforderung ein. Auf dem Schirm erschien eine lange Liste von Optionen. Nahe dem unteren Rand war ein Abschnitt über den Notstrombetrieb. Sie forderte ihn an und las die Anweisungen, wie man sich verhalten solle, wenn die städtische Stromversorgung ausgefallen war.

»Hier steht nichts über das Starten während eines Stromausfalls«, sagte sie, als sie die ersten Bildschirmseiten mit Daten überflogen hatte. »Das meiste handelt davon, wie man die Kühltanks und andere notwendige Geräte in Betrieb hält.«

»All diese Geräte verbrauchen eine bestimmte Menge Strom«, sagte Dornier, der Amber über die Schulter sah. »Vielleicht können wir diesen Strom auf die Kondensatoren umlegen und sie so weit laden, dass es zum Starten ausreicht.«

Grayson zeigte ungeduldig auf den Schirm. »Rufen Sie das Energieversorgungsschema auf.«

Amber brauchte ein paar Minuten, bis sie die Leitungsschemata durchsucht und gefunden hatte, was sie suchte. Bald darauf hatte sie jedoch die Stromleitungen des Massebeschleunigers in mehrfarbig leuchtenden Linien auf dem Monitor. Die normalen Leitungen wurden in Grün angezeigt, die Steuerschaltungen des Massebeschleunigers in Gelb und die Notstromkomponenten in Rot.

Wie Thorpe vermutet hatte, wurden die Lampen und alle unbedeutenderen Stromverbraucher aus dem Notstromsystem der Stadt versorgt. Sie besaßen keinerlei Verbindung mit den Maschinen der Anlage. Die wesentlichen Geräte des Massebeschleunigers wurden von einem kleinen Fusionsreaktor mit Energie versorgt, der sich zwei Stockwerke unter dem Kontrollraum befand. Der Generator war nie dafür gedacht gewesen, die Energie für einen Start bereitzustellen. Die Hauptgeräte der Anlage verbrauchten jedoch so viel Energie, dass der Reaktor ziemlich groß sein musste, um sie mit Strom zu versorgen. Mit der Zeit würde er auch die Kondensatoren aufladen können.

Dr. Dornier machte sich sofort daran auszurechnen, wie lange es dauern würde. Als er fertig war, sah er zu den anderen auf und sagte: »Ich komme auf sechs Stunden für eine volle Ladung und möglicherweise nur vier Stunden, um genug Energie für einen Start anzusammeln. Das ist jedoch wirklich das absolute Minimum, und ich würde mich darauf nicht unbedingt verlassen.«

»Dann sind wir wieder im Geschäft«, sagte Thorpe. »Wir fangen sofort damit an, die Kondensatoren aufzuladen, und während der Wartezeit beladen wir den ersten Container.«

»Sie sind sich doch wohl darüber im Klaren, was wir damit bewirken werden«, sagte Grayson. »Der Start wird jeden darauf aufmerksam machen, dass der Massebeschleuniger noch in Betrieb ist. Wie lange, glauben Sie, wird es dauern, bis sie herausfinden, dass das ihre letzte Möglichkeit ist, von Luna wegzukommen?«

»Vielleicht werden sie denken, es sei ein verspäteter Frachttransport.«

»Ja und? Sie werden dennoch ihre letzte Möglichkeit darin sehen. Diese Anlage wird innerhalb von Minuten gestürmt werden. Wie groß sind die Chancen, dann noch den zweiten Container zu starten?«

»Haben Sie einen besseren Vorschlag?«

»Ich habe ihn schon gemacht. Alle sollten in den ersten Container gehen.«

»Verdammt, Niels, das haben wir doch schon durchgekaut. Wir haben nicht genug Sauerstoff dabei. Innerhalb einer Woche wären wir erstickt.«

»Das wissen Sie nicht«, erwiderte Grayson. »Die Verdampfungsrate ist nichts weiter als eine Schätzung. Der Sauerstoff kann ebenso doppelt so lange vorhalten.«

»Oder bloß halb so lange.«

»Vielleicht übersehen wir hier etwas«, sagte Dornier. »Bleibt uns überhaupt noch die Zeit für einen zweiten Start, bevor Donnerschlag kommt?«

Grayson wandte sich ihm zu. »Sie sagten, für eine Ladung würden wir sechs Stunden brauchen, macht zwölf Stunden insgesamt. Das lässt uns noch gute zehn Stunden Zeit, bevor der Komet eintrifft.«

Dornier nickte. »Bevor er eintrifft. Aber wie lange vorher müssen wir starten, um nicht mehr von der Explosion erreicht zu werden? Vielleicht bleibt dem zweiten Container nicht mehr genug Zeit, um sich weit genug in Sicherheit zu bringen.«

Grayson wandte sich an Amber. »Es ist Ihre Entdeckung. Können wir eine sichere Entfernung erreichen, wenn wir zehn Stunden vor dem Zusammenstoß starten?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Definieren Sie eine ›sichere Entfernung‹, wenn es um sechzig Billiarden Tonnen Eis geht, die mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit gegen eine Felswand donnern. Verdammt, wir könnten in der tiefsten Höhle auf der Erde hocken und wären immer noch nicht sicher. Wenn zehn Stunden alles sind, was wir haben, dann müssen sie eben reichen.«

»Hören Sie«, sagte Thorpe, der der zunehmend akademischen Diskussion allmählich müde wurde, »wir verschwenden unsere Zeit. Wir geben uns nicht zum Spaß mit zwei Containern ab, sondern weil es notwendig ist! Es wird eine Weile dauern, bis wir die Leitungen verbunden haben. Ich schlage vor, dass wir unseren ersten Container in spätestens acht Stunden abschießen und den zweiten so rasch wie möglich folgen lassen.«

»Und wie gedenken Sie den Mob davon abzuhalten, die Türen einzuschlagen, während die Kondensatoren wieder aufgeladen werden?«, fragte Dornier.

»Uns bleiben noch acht Stunden, uns etwas einfallen zu lassen. Bis dahin lassen Sie uns diese Kondensatoren aufladen, damit wir, verflucht nochmal, endlich hier wegkommen!«


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