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NACHRICHTENMELDUNG:

UNIVERSAL FAX, DEN HAAG, VEREINTES EUROPA -

1. Februar 2086 (Zur Verbreitung in AUSL, CHN, NORAM, SOAM, VREU, LUNA, XTERR)

WIE AUS GUT INFORMIERTEN KREISEN DES SYSTEMRATES VERLAUTET WIRD DER EISASTEROID KOMET HASTINGS, DER IN KÜRZLICH ERSCHIE-NENEN PRESSEBERICHTEN AUCH ALS ›DON-NERSCHLAG‹ BEZEICHNET WURDE, AM 17. JULI MIT DER ERDE ZUSAMMENSTOSSEN. EIN SPRECHER DES BÜROS DER CHEFKOORDINATORIN WEIGERTE SICH, EINEN OFFIZIELLEN KOMMENTAR ABZUGEBEN, BEZEICHNETE IM VERTRAULICHEN GESPRÄCH SOLCHE SPEKULATIONEN JEDOCH ALS »VOREILIG UND UNVER-ANTWORTLICH«. WÄHREND ER ZUGAB, DASS DIE MÖGLICHKEIT EINES SAMMENSTOSSES BESTÜNDE, BERICHTETE DER SPRECHER JEDOCH GLEICHZEITIG, DASS ANSTRENGUNGEN UNTERNOMMEN WÜRDEN, »EINEN AUSREICHEND GROSSEN SICHERHEITSABSTAND ZU GEWÄHRLEISTEN, WENN DER KOMET NÄCHSTES JAHR DIE ERDE ERREICHT«. ZUR UNTER-MAUERUNG VERWIES DER SPRECHER AUF DAS CRASHPROGRAMM ZUM UMBAU MEHRERER GROSSER ORBITALTRÄGERSCHIFFE FÜR DEN TRANSPORT VON PERSONAL UND LADUNG ZUM KOMETEN. DIE SCHIFFE WÜRDEN, SO VERSICHERTE ER, BIS ZUM 1. APRIL RAUMTÜCHTIG SEIN, GANZE ZWEI MONATE VOR DEM ANGESTREBTEN TERMIN.

- ENDE -

Barbara Martinez saß vor ihrem Terminal und beobachtete, wie die Zahlenkolonnen über ihren Bildschirm wanderten. Die leuchtenden Ziffern gaben die Ergebnisse der neuesten Simulation der Arbeitsgruppe wieder. Barbara musste die Daten nicht erst auswerten, um zu wissen, dass sie einen weiteren Fehlschlag erlitten hatten. Gleich welche Kombinationen von Antriebssystemen sie ausprobierten, es schien unmöglich, die eschwindigkeit des Kometen auch nur um den winzigsten Bruchteil eines Prozents zu verändern. Der Eisasteroid war einfach ein zu dicker Brocken, als dass man ihn hätte bewegen können!

»Also, den Antimateriestrahl zu pulsen, macht anscheinend keinerlei Unterschied aus«, sagte sie zu Gwilliam Potter. »Wir würden immer noch mehr Antimaterie brauchen, als wir in einem Jahrzehnt herstellen können. So viel zu den neusten Geistesblitzen der Theoretiker.«

»Wie ich Ihnen schon vorher gesagt habe«, erwiderte Potter. Er war ein britischer Europäer, der sich während der vergangenen zwei Wochen das Büro mit Barbara geteilt hatte. Barbara hatte ihn als kultivierten, lustigen und ein wenig zu optimistischen Menschen kennengelernt.

»Und was machen wir jetzt?«

Er zuckte umständlich mit den Achseln. »Das fragen Sie am besten die großen Denker. Ich glaube, wir zielen in die vollkommen falsche Richtung.«

»Wieso?«

»Sehen Sie sich doch nur die Simulationen an, die wir haben laufen lassen. Es sind alles Variationen vorhandener Techniken. Hut ab, Halver Smith hat die meisten davon erst entwickelt. Wir haben versucht, Antimaterie direkt ins Eis zu injizieren und es zu verdampfen. Wir haben das verdammte Zeug zu pulverisieren und durch auf der Oberfläche installierte Düsen zu verteilen versucht. Wir haben sogar daran gedacht, die drei umgebauten Schüttgutträger als Raumschlepper zu benutzen. Bis jetzt sind wir unserem Ziel keinen einzigen Schritt nähergekommen.«

»Dann sagen Sie mir etwas, das ich noch nicht weiß.«

»Während Sie mit Ihren Zahlen herumgespielt haben, habe ich mir selbst etwas ausgedacht.« Er deutete zu seinem Monitor hinüber, auf dem der Ground-Zero-Krater und dessen Umgebung abgebildet war.

»Und ich dachte, Sie würden bloß herumhängen, weil Sie mir nicht beim Programmieren helfen wollten.«

Potter grinste. »Das kommt noch dazu.«

»Und worauf sind Sie gekommen?«

»Bis jetzt haben wir jedes Mal versucht, Schub zu entwickeln, indem wir kleine Massen auf hohe Geschwindigkeiten beschleunigt haben.«

»Wie sonst kämen wir beim Antrieb auf einen hohen Wirkungsgrad?«

»Vielleicht ist die Gewichtung des Maßstabs für uns wichtiger als der Wirkungsgrad?«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Wie wäre es, wenn wir einer wirklich großen Masse eine kleine Geschwindigkeit verleihen würden?«

»Ist das nicht das, was wir mit dem ganzen Asteroiden vorhaben?«

»Dieser Kommentar, verehrte Kollegin, ist eine Nullmenge vom Null-gleich-null-Typ. Was ich vorschlage, ist, dass wir ein größeres Stück von Donnerschlag herausbrechen und es mit relativ geringer eschwindigkeit hochschleudern – einhundert Meter pro Sekunde, beispielsweise.«

»Ich würde das nicht den Direktor hören lassen, dass Sie den Kern bei diesem Namen nennen«, warnte Barbara.

»Warum denn nicht? Alle tun es. Ist es meine Schuld, dass die Presse dahintergekommen ist und jetzt auf der Schwelle des Direktors kampiert?«

»Sie sind immer noch genau der, den sich Warren vorknöpfen wird, wenn er Sie dieses Wort benutzen hört.«

»Ich habe nicht vor, es in seiner Gegenwart zu benutzen«, sagte Potter.

»Vergessen Sie’s. Wie war das mit Ihrer Idee?«

»Sind Ihnen schon einmal all diese ringförmigen Brüche aufgefallen, die den Ground-Zero-Krater umgeben? Es erinnerte einen irgendwie an einen Stöpsel, den man in eine Eierschale gestoßen hat, finden Sie nicht?«

»Ich vermute, die Erde wird ein ähnliches Mal zurückbehalten, wenn der Kern mit ihr zusammenstößt.«

»Da würde ich drauf wetten«, stimmte Potter fröhlich zu. »All diese Verwerfungen zu sehen, das hat mir zu denken gegeben. Wie wäre es, wenn wir den Stöpsel irgendwie wieder herausdrücken könnten?«

»Großartige Idee. Wie wollen Sie das anstellen?«

»Hatten Sie jemals ein Luftgewehr?«

Barbara schüttelte den Kopf. »Mein Vater erlaubte so was nicht. Er meinte, seine Tochter würde keine hilflosen Vögel umbringen.«

»Mein Vater sagte das Gleiche. Ein Freund von mir hatte aber eins, und als Erstes schoss ich ein Loch in das Panoramafenster im Wohnzimmer. Haben Sie schon einmal gesehen, wie Glas bricht, wenn es von einer Kugel getroffen wird?«

»Sicher. Da ist ein kleines Eintrittsloch, und auf der Rückseite fehlt ein größeres Stück.«

Potter nickte. »Der Fachausdruck dafür lautet ›Abspaltung‹. Der anfängliche Aufprall schickt eine Druckwelle durch das Glas. Wenn diese Welle die andere Seite erreicht, wird sie als Dehnungswelle reflektiert. Glas hat bei Kompression eine beinahe unbegrenzte Festigkeit, reagiert aber sehr empfindlich auf Zugspannungen. Das Ergebnis ist, dass die reflektierte Welle ein Stück abspaltet und es davonfliegen lässt. Interessanterweise entfernt sich das abgespaltene Stück mit derselben Energie, die von der Kugel ursprünglich auf das Glas übertragen wurde. Das gleiche Prinzip wurde früher angewandt, um Panzerplatten mit einer geformten Sprengladung zu durchdringen.«

»Und die Pointe?«

»Ganz einfach: dass das abgespaltene Scheibchen die Auftreffenergie mit sich nimmt. Wenn wir das Spannungsmuster rund um den Ground-Zero-Krater dazu benutzen könnten, ein wirklich großes Stück von Donnerschlag abzuspalten, welche Geschwindigkeit würden wir dabei erreichen?«

»Nehmen wir mal an, dass man eine Trenngeschwindigkeit von einhundert Metern pro Sekunde bekommen könnte. Ich verstehe immer noch nicht … Oh!«

Potter grinste breit. »Die Lady beginnt zu begreifen. Wenn wir es so einrichten könnten, dass der abgespaltene Brocken entgegengesetzt zur Flugrichtung davonsaust, dann würde Donnerschlag aufgrund der Erhaltung des Impulses ein klein wenig nach vorne gestoßen. Mit etwas Glück würden schon beim ersten Versuch unsere ominösen fünf Zentimeter pro Sekunde dabei herausspringen.«

»Wie groß ist der Brocken, den wir bekommen könnten?«

»Der Krater hat einen Durchmesser von 125 Kilometern, und unsere Laserbohrer kommen etwa zwanzig Kilometer tief. Wenn wir auf eine Trenngeschwindigkeit von gut fünfzig Metern pro Sekunde kommen, müsste es eigentlich reichen.«

»Und wenn nicht?«

»Dann wiederholen wir den Vorgang so oft, wie es nötig ist, oder bis uns die Antimaterie ausgeht. Wenn nötig, schälen wir den Asteroiden eben wie eine Zwiebel.«

»Es bleibt immer noch das Problem, einen wirklich großen Brocken herauszubrechen.«

»Wir werden große Bomben brauchen, die an genau den richtigen Stellen des Spannungssystems platziert sind«, antwortete Potter. Er deutete auf seinen Monitor. »Wenn wir es versuchen sollten, würde ich die Schächte hier, hier und hier anbringen. Wenn wir die Bomben gemeinsam zünden, müssten wir das Eis spalten können wie ein Diamantschneider einen Edelstein. Was meinen Sie?«

Barbara starrte auf die Stellen, auf die er am Bildschirm gezeigt hatte. An all diesen Stellen lagen die Verwerfungslinien besonders dicht beieinander. »Ich glaube, es würde eine Menge Analysen erfordern, aber es könnte etwas daran sein.«

»Soll ich das dem Direktor sagen?«

Sie nickte. »Sobald wir ein paar Zahlen ausgearbeitet haben. Es hört sich gut an, Gwilliam. Ich glaube, Sie haben die Lösung für unser Problem entdeckt!«

»Wenn nicht«, sagte er, »dann schicken wir diese armen Teufel von der Admiral Farragut für nichts und wieder nichts in ein paar kalte Löcher hinunter.«


Nadia Hobart öffnete beim zweiten Glockenton die Tür und sah sich auf dem Korridor einem rotgesichtigen, rundlichen Mann gegenüber. Sie lächelte den vertrauten Besucher an und bat ihn einzutreten. »Sie sind im Arbeitszimmer, Harold. Sie haben gerade angefangen.«

»Danke, Nadia«, erwiderte Harold Barnes. »Und wie fühlt sich die First Lady von Luna heute Abend?«

»Immer noch sehr wohl, wenn sie von Leuten ›First Lady‹ genannt wird.«

»Du wirst dich noch dran gewöhnen. Du bist wie geschaffen für den Job. Lass dich bloß nicht von diesen Blutsaugern aus der Verwaltung vereinnahmen. Wenn du etwas tust, dann weil du dich wohl dabei fühlst, und nicht, weil irgendein Protokollbeamter es für angebracht hält.«

»Danke, ich werde daran denken«, sagte sie, während sie Barnes durch die Höhlensimulation des Wohnzimmers führte.

»Wie geht es John? Ich habe ihn seit der Siegesparty in der Wahlnacht nicht mehr gesehen.«

Nadia Hobart biss sich auf die Unterlippe, eine nervöse Geste, die sie sich als Farmerstochter in Kansas angewöhnt hatte. »Ich mache mir Sorgen wegen ihm, Harold. Er arbeitet zu viel. Erst die Wahlen, dann diese Kometengeschichte. Er wird sich innerhalb eines Jahres verausgaben, wenn er nicht ein bisschen kürzer tritt. Du bist sein Freund. Du könntest doch nach der Besprechung mal mit ihm reden.«

»Ich kann’s versuchen. Ich bin mir nicht sicher, ob es etwas nützt. Die Wahrheit ist, Nadia, dass wir alle hart an dieser Machbarkeitsstudie gearbeitet haben, die John in Auftrag gegeben hat. Gott sei Dank ist das meiste geschafft.«

»Was habt ihr herausgefunden?«

Barnes seufzte. »Dass unsere Lage besser ist, als wir alle für möglich gehalten haben. Die Importzölle, die das Parlament in der letzten Dekade verabschiedet hat, haben sich besser ausgewirkt als erwartet. Ich bin überzeugt davon, dass wir ohne die Erde überleben können, aber nur dann, wenn wir uns sofort darauf vorbereiten.«

»Was müsste getan werden?«

»Ja, womit fängt man an? Wir benötigen dringendst Vorräte von Halbfertigprodukten wie Germaniumchips, Impfkristalle, Supraleiter. Wir müssen auch unsere Vorräte an terrestrischen Genotypen aufstocken. Der Nachholbedarf unserer Genbanken beträgt fast dreißig Prozent! Wir haben einen Großteil unserer Steuersoftware niemals aktualisiert, und eine Menge unserer Finanzunterlagen sind in Datenbanken auf der Erde gespeichert.«

»Hast du John diese Dinge schon gesagt?«

»Noch keine Gelegenheit gehabt. Die Bank hat den Bericht heute Nachmittag fertiggestellt.«

»Hallo, Harold!«, dröhnte Hobart. »Was hast du mir noch nicht gesagt?«

»Die Ergebnisse unserer Überlebensstudie.«

»Dazu kommen wir noch. Du kennst meine Gäste, glaube ich.« Trotz seiner herzlichen Art konnte man deutlich sehen, dass Hobart ein erschöpfter Mann war. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und auf seinem Gesicht hatten sich während des vergangenen Monats ganze neue Nester von Sorgenfalten entwickelt.

»Professor Jinsai und ich sehen uns jeden Mittwoch beim Mittagessen in der Handelskammer, und Wissenschaftsrat Sturdevant und ich kennen uns natürlich schon seit Jahren. Aber diesen anderen Herrn kenne ich noch nicht.«

»Professor Albert Portero, Astrophysiker an der hiesigen Universität, ich möchte Ihnen Harold Barnes vorstellen, Vizepräsident der Bank von Luna.«

»Professor Portero.«

»Bürger Barnes.«

»Gieß dir einen Drink ein, Harold. Professor Portero war gerade dabei, uns über Tektite zu informieren.«

»Was, beim Frost von Tycho, ist ein Tektit?«

Professor Portero, ein schmalgesichtiger Mann mit einer nervösen Art, seine Hände zu bewegen, sagte: »Ein Tektit ist ein durch die Aufprallhitze beim Einschlag eines Meteors gebildetes Stück Glas, Bürger Barnes. Sie kommen in zahlreichen unterschiedlichen Formen und Größen vor. Die meisten sind mikroskopisch klein, obwohl man schon welche von der Größe eines Zehnselenstücks gefunden hat. Ihr Vorkommen an einer bestimmten Stelle markiert den Landeplatz des Auswurfs, der mit der Bildung eines Meteorkraters einhergeht. Auf der Erde findet man Tektite an bestimmten Orten, die man ›Streufelder‹ nennt. Auf Luna sind die Tektite wegen der niedrigeren Schwerkraft und des Fehlens einer Atmosphäre eher gleichmäßig über die Oberfläche verteilt. Obwohl Tektite im Allgemeinen am gleichen Ort gefunden werden, wo sie entstanden sind, wurden doch eine Reihe von auf der Erde entstandenen Tektiten auf dem Mond entdeckt und umgekehrt.«

»Das heißt«, warf Hobart ein, »dass der Auswurf gelegentlich die terrestrische Fluchtgeschwindigkeit erreicht hat und hier gelandet ist.«

»Richtig«, stimmte Portero ihm zu. »Die meisten erdentstandenen Tektite auf Luna gleichen in ihrer Zusammensetzung denen, die auf den Streufeldern Australasiens gefunden wurden. Dieses spezielle Feld geht auf einen Meteoreinschlag im Pazifischen Becken vor 750.000 Jahren zurück.«

»Inwieweit lässt sich dieser Einschlag mit dem Einschlag des Kometen Hastings vergleichen?«

Porteros Lachen war ein kurzes Bellen. »Das lässt sich nicht vergleichen, Sir. Der Aufschlag des Kometen Hastings wird um mehrere Größenordnungen heftiger sein!«

»Dann müssen wir darauf gefasst sein, dass eine ansehnliche Fontäne von Auswurf in den Raum hochgeschleudert wird?«

»Eine ansehnliche«, stimmte Portero zu. »Und da ein Großteil davon die Orbitalgeschwindigkeit der Erde erreichen wird, können wir damit rechnen, dass auf Luna noch Jahrzehnte nach dem Einschlag Trümmer niedergehen werden. Unsere Simulationen lassen darauf schließen, dass deren Masse möglicherweise mehr als eine Millionen Tonnen betragen wird.«

Von Barnes kam ein leiser Pfiff. »Eine Million Tonnen!«

»Das meiste davon wird mikrometeorischer Staub sein«, erklärte Professor Portero. »Dieser wird keine größere Gefahr für uns bedeuten. Wir müssen jedoch ebenfalls damit rechnen, dass größere Stücke vom Himmel fallen werden. Diese größeren esteinsbrocken werden ausgedehnte Gebiete auf dem Mond verwüsten.«

»Wie ausgedehnt?«

»Das ist ohne genauere Kenntnis der Aufschlagsdynamik schwer zu sagen. Ich würde jedoch die Vorhersage wagen, dass wir mit mehreren neuen Kratern von der Größe des Kopernikus rechnen müssen.«

Im Arbeitszimmer entstand ein plötzliches Schweigen. Der Kopernikus-Krater maß fast hundert Kilometer im Durchmesser. Die Wucht dieses Aufpralls hatte den Auswurf über Hunderte von Kilometern in alle Richtungen verstreut. Allein die Schockwelle würde Millionen von Quadratkilometern verwüsten.

»Wie bald nach dem Zusammenstoß mit der Erde wird es für uns gefährlich?«, fragte der Premierminister.

»Der Auswurf wird achtundvierzig Stunden nach der Zerstörung der Erde einzutreffen beginnen. Die Meteore werden jahrhundertelang herabfallen, es sei denn, dass wir etwas dagegen unternehmen.«

»Was können wir tun?«

»Wir können ein Warnsystem ähnlich wie Sky Watch einrichten«, erwiderte der Astrophysiker. »Wir werden die Bahn der größeren Brocken verfolgen und sie dann in sichere Umlaufbahnen bringen müssen. Ich bezweifle, dass wir sie alle erwischen können, aber zumindest können wir die Gefahr reduzieren.«

»Was ist mit denen, die wir nicht aufhalten können?«

»Ich glaube, wir werden die Bevölkerung verteilen müssen«, antwortete Sturdevant. Alex Sturdevant war seit fast zwanzig Jahren John Hobarts engster Freund und Ratgeber. Seine Stellung in der neuen Regierung war ebenso einflussreich wie nichtamtlich. »Auf diese Weise werden wir nicht alles verlieren, wenn uns ein Stück Erde auf Luna City herunterfällt.«

»Ist das praktikabel, Professor Jinsai?«, fragte Hobart. »Würde unsere Wirtschaft diese Aufsplitterung überstehen?«

Der Professor der Wirtschaftswissenschaften zuckte mit den Achseln. »Haben wir denn eine andere Wahl, Premierminister?«


Die geschrumpfte Sonne stand am schwarzen Himmel, als Amber vorsichtig auf das vor ihr liegende klaffende Loch zuging. Die Sonne stand in ihrem Rücken; sie warf einen schwarzen Schatten vor ihre Füße und hatte den Riss in einen Tintenfleck in der Landschaft verwandelt. Trotz der zahlreichen Spikes an ihren Stiefelsohlen rutschte sie wie ein Schlittschuhfahrer kurz vor dem Verlust der Kontrolle, als sie eine schwache Steigung zu überwinden hatte.

»Am besten bringen Sie einen Anker aus, bevor Sie weitergehen«, riet ihr Kyle Stormgaard über ihren privaten Komm-Kanal.

»Ich lege gerade einen aus.« Amber löste einen meterlangen Stab von ihrem Werkzeuggürtel und berührte den schmutzig grauen Boden. Eine kleine Explosion brach aus der Stabmündung und trieb einen stählernen Haken in das Eis. Eine Sicherheitsleine verband den Haken mit Ambers Arbeitskluft. »Verankert.«

Neben ihr brachte der Chefingenieur der Admiral Farragut seinen eigenen Anker aus. Die beiden Forscher bewegten sich anschließend vorsichtig auf den Rand des Spalts zu.

Die Oberflächenerkundungen waren seit zwei Wochen im Gange, und die Zuversicht der Erkundungsteams war mit jedem Tag gewachsen, den sie auf dem Eis verbracht hatten. Zu Anfang hatten sich ihre Aktivitäten darauf beschränkt, das Frachtmodul von schwerem Gerät zu entladen und das Wasserstoffgewinnungssystem in Gang zu bringen. Diese Aufgabe schloss die Aktivierung des Expeditionsreaktors und die Verlegung von Stromkabeln zu den schweren Laserbohrern draußen auf dem Eis ein. Es sollte eine Probebohrung von sieben Kilometern Tiefe vorgenommen werden. Die Bohrung würde es ihnen nicht nur erlauben, zu bestimmen, wie sich die Eiszusammensetzung mit der Tiefe veränderte, sondern würde auch das Material für die Wasserstoff-Crackanlage liefern.

Es dauerte fast eine Woche, bis der Schacht eine Tiefe von zwei Kilometern erreicht hatte. Aus der Wand der Testbohrung entnommene Eisproben ergaben, dass der Kern ein typischer Vertreter der Oort-Wolke war. Wie die meisten anderen Kometenkerne auch, bestand der Komet Hastings aus Clathrateis – gefrorenes Wasser, in dessen Kristallstruktur andere Komponenten eingelagert waren. In unterschiedlichen Tiefen entdeckten sie hohe Konzentrationen von Ammoniak, Kohlenmonoxid, Kohlendioxid, Formaldehyd, Cyanwasserstoff, Methan und Stickstoff als Beimengungen des Wassereises. Ebenso lagen unterschiedliche Konzentrationen von meteorischem Staub vor.

Noch bevor die Bohrungen begannen, wurde deutlich, dass der Kern von geologischer Stabilität weit entfernt war. Während der Begegnung mit Jupiter war der Asteroid mächtigen Gezeitenspannungen ausgesetzt gewesen, die wiederum zur Bildung von Abwärme geführt hatten. Die Wärme war dabei, sich langsam zur Oberfläche vorzuarbeiten. Während sich das beinahe auf den absoluten Nullpunkt abgekühlte Eis erwärmte, löste seine Ausdehnung im Innern Erschütterungen aus, die zu Oberflächenbeben führten. Die meisten von ihnen waren zu schwach, um sie zu bemerken. Gelegentlich waren sie aber stark genug, um den Laserbohrer aus seiner Führung zu schlagen. Jedes Mal, wenn das geschah, musste die Arbeit so lange unterbrochen werden, bis der Laser neu justiert war.

Erst am siebten Tag am Boden, gegen Ende der Arbeitsschicht, erlebten sie ein wirklich großes Beben. Karin Olafson befand sich im Kontrollraum des Schiffes, als sie beinahe von ihrer Liege geschleudert wurde. Das Beben dauerte weniger als eine Minute, war jedoch so stark, dass sich das Habitatmodul von einer seiner Verankerungen losriss. Als der Erdstoß vorüber war, verlor der Kapitän keine Zeit und befahl den Bodencrews, den Schaden zu beheben. Sie hatten fast die ganze Nacht durchgearbeitet, um das Habitat-und das Frachtmodul neu zu verankern und beide mit Spanndrähten zu stabilisieren.

Zu einer weiteren Verzögerung kam es durch die beiden MoonJumper der Expedition. Die winzigen Flugapparate waren Standardmodelle, wie sie auf dem Mond verwendet wurden – ihre Bodendüsen erwiesen sich als zu stark für das Gravitationsfeld des Kerns. Ein kurzer Stoß der Düsen schickte das kleine Flugzeug hoch in den Himmel hinauf, und das Landen war kaum etwas anderes als ein kontrollierter Absturz. Nach wenigen Testflügen war den Flugmaschinen so lange Startverbot erteilt worden, bis es gelungen war, ihren Schub zu drosseln.

Als die MoonJumper wieder in Dienst genommen wurden, wagten sich die rkundungstrupps erstmals aus dem gewaltigen Krater heraus, ihr erstes Ziel war das Ödland, wo sie eine Landschaft vorfanden, die so zerklüftet war wie nur irgendeine im Sonnensystem. In unmöglich steilen Winkeln aufgeworfene Berge waren von langen Tälern durchschnitten, die ihren Ausgangspunkt am Ground-Zero-Krater hatten. Berge und Täler waren von Rissen durchzogen, die sich bei dem eine Milliarde Jahre zurückliegenden Aufprall gebildet hatten. Durch den Vorschlag der Erde, dass man möglicherweise ein großes Stück des Kerns abspalten könne, waren die Risse in das Zentrum des Interesses gerückt.

»Was meinen Sie?«, fragte Amber Kyle, als sie ihre Helmlampen über die gegenüberliegende Wand der Spalte spielen ließen. Die Lampen enthüllten einen engen Cañon mit senkrechten Wänden. Der Boden lag im Schatten verborgen und war zu weit weg, als dass ihre Lampen dorthin gereicht hätten.

»Es ist tiefer, als ich dachte«, sagte Stormgaard. »Ich frage mich, ob wir genug Leine dabeihaben.«

»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.«

Amber und dem Chefingenieur war die Aufgabe übertragen worden, einen Seismografen auf dem Boden der Spalte aufzustellen. Es wäre eine einfache Angelegenheit gewesen, mit ihren Anzugdüsen hinunterzufliegen. Durch einen Fehler in dem beengten Raum konnten sie jedoch unkontrolliert ins Trudeln geraten, und eine Fehlfunktion des Anzugs konnte sie aufs Trockene setzen. Kletterseile waren bedeutend umständlicher, dafür aber wesentlich sicherer.

Amber trieb zwei weitere Haken ins Eis, dann befestigte sie daran zwei aufgeschossene Sicherheitsleinen. Sie warf die Leinen in die Spalte und beobachtete, wie sie im Niedersinken gemächlich außer Sicht kamen und sich dabei abwickelten. Während Amber die Leinen klarmachte, befestigte der Chefingenieur ein Funkrelais am Rand der Spalte. Es richtete eine der beiden Antennen nach unten, die andere dorthin, wo das Antriebsmodul der Admiral Farragut über dem Nordpol des Kometen schwebte. Als er fertig war, richtete er sich auf und fragte Amber, ob sie so weit sei.

»Fertig«, antwortete sie.

»Dann also los!«

Sie hakten jeder ein Seil an ihrem Anzuggurt ein, gleich darauf traten sie wie beiläufig in den Abgrund. Amber benötigte acht Sekunden, um im Fall ihre eigene Körperlänge zurückzulegen; bis dahin hatte sich das Seil gestrafft. Nun kam es nur noch darauf an, sich in die Dunkelheit hinunterfallen zu lassen und mit der um das Seil gelegten behandschuhten Hand die Fallgeschwindigkeit zu regulieren.

Die größte Gefahr beim Arbeiten unter der geringen Schwerkraft des Kerns bestand darin, sich allzu sicher zu fühlen. Die Schwerkraft von 2/3 % g gab einem das sichere Gefühl, einen kilometertiefen Fall zu überleben. Das war durchaus möglich. Doch ein solcher Fall konnte auf hartem Untergrund mit vierzig tundenkilometern enden – ein Aufprall, der mehr als ausreichend war, um einen Anzug zu zerreißen oder einem das Genick zu brechen. Während Amber fiel, führte sie im Geist eine Strichliste der Sekunden, die sie von einer Seilmarkierung zur nächsten benötigte. Von Zeit zu Zeit verstärkte sie ihren Griff um das Seil, um ihren Fall zu verlangsamen.

Der Abstieg erwies sich bis zum Ende als ereignislos. Amber hatte vorgehabt, leicht auf dem vereisten Boden der Spalte zu landen. Als sie den Boden berührte, gab der feste Untergrund unter ihr jedoch nach, und sie versank bis zur Hüfte in kaltem Eisgrieß. Sie rief Stormgaard eine Warnung zu, der seinen Fall rechtzeitig stoppte. Er schwenkte seine Lampe über den funkelnden Boden, während Amber sich befreite, indem sie sich Hand über Hand an der Leine hochzog.

»Woher kommt das?«, fragte sie, als sie wieder in Stormgaards Höhe hing.

»Müssen die Mikrobeben gewesen sein«, antwortete der Chefingenieur. »Von den Wänden abgefallenes loses Material sammelt sich hier auf dem Boden der Spalte.«

»Ich frage mich, wie tief das wohl ist.«

»Unmöglich zu sagen«, erwiderte er.

Amber trat nach dem losen Eis. »Was machen wir jetzt? Wir können den Seismografen ja wohl kaum in diesem Pulver verankern.«

»Kein Problem«, sagte Stormgaard. »Wir befestigen ihn in der Wand. Kommen Sie, fangen wir an!«

Sie arbeiteten eine Viertelstunde lang, bis sie sicher waren, dass der kleine orangefarbene Kasten fest an der Eiswand befestigt war. Als sie damit fertig waren, bedeutete Stormgaard Amber, die Funkverbindung mit dem Schiff zu überprüfen.

»Hallo, Admiral Farragut. Hier ist Gruppe Drei. Können Sie mich hören?«

»Hallo, Gruppe Drei. Hier spricht die Basis. Wir hören Sie laut und deutlich. Wo habt ihr beiden gesteckt?«

»Tief in einem Loch, Basis. Haben Sie uns zu erreichen versucht?«

»Positiv. Seien Sie gewarnt, dass wir vor einer Minute von einem Beben Stärke vier durchgeschüttelt wurden. Es handelt sich um eine Bodenwelle, die sich in Süd-Nord-Richtung bewegt. Treffen Sie Ihre Vorkehrungen. Es ist unterwegs zu Ihnen.«

Die beiden Forscher blickten einander an und dann hinunter zu dem Schutthaufen zu ihren Füßen, zündeten gleichzeitig ihre Anzugdüsen und begannen einen Notaufstieg, wobei sie die Sicherheitsleinen hinter sich herschleppten. Sie hatten eine Höhe von hundert Metern über dem Boden erreicht, als die Eiswand neben ihnen zu beben begann.

»Abstand halten von der Wand!«, warnte Stormgaard, als sie plötzlich von einem Blizzard verschlungen wurden.

In wenigen Sekunden war er vorbei. Amber tauchte wieder ins Freie und entdeckte Stormgaards hell beleuchteten Anzug ein Dutzend Meter zu ihrer Rechten. Allmählich begann sie sich wieder sicher zu fühlen. Sie rief das Schiff, um zu melden, dass sie das Beben wohlbehalten überstanden hatten. Doch sie bekam keine Antwort, nur ihr eigenes Echo kam zurück.

»Glauben Sie, das Funkrelais könnte sich gelöst haben?«, fragte sie besorgt.

»Könnte sein«, antwortete Stormgaard. Er stellte sein Rückstoßaggregat ab und ließ sich von seinem Schwung weiter hochtragen, während er sich zurücklehnte, um den Strahl seiner Helmlampe nach oben zu richten. Sein unvermitteltes Fluchen veranlasste Amber, das Gleiche zu tun.

Von weit oben näherte sich ihnen langsam eine geschlossene Wand aus fallendem Eis.


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