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Thorpe betrachtete Luna und schüttelte den Kopf, verwundert darüber, welchen Unterschied nur hundert Stunden ausmachen konnten. Der Mond war nicht mehr der graubraune Himmelskörper, der den Erdhimmel seit Urzeiten geschmückt hatte. Der Mann im Mond war verschwunden, und sein unveränderlicher Blick würde nie mehr gesehen werden. Die vertrauten Orientierungspunkte existierten nicht mehr. Die berühmten Krater waren mit Magma gefüllt und von Nebel umhüllt. Denn Donnerschlag hatte Luna weniger zerstört als vielmehr umgewandelt. Die Veränderungen hatten nur wenige Stunden nach dem Einschlag des Kometenkerns begonnen. An Bord des provisorischen Rettungsbootes hatte jedoch niemand gesehen, wie die Veränderungen einsetzten. Sie waren zu sehr damit beschäftigt gewesen, Ambers Trümmer-Blizzard zu überstehen.

Der Lärm, der auf die Wände ihrer Rettungskapsel auftreffenden Partikel, ein Geräusch, das Thorpe an Hagelkörner erinnerte, die auf ein Metalldach fielen, hatte das Eintreffen der Trümmerwolke angekündigt. Die mikroskopisch kleinen Trümmerstücke waren während vier langer Stunden von ihrer Hülle abgeprallt. Manchmal wurde das Geräusch zu einem maschinengewehrähnlichen Stakkato, dann wieder ließ es bis auf wenige Töne pro Minute nach. Die beiden Luna zugewandten Sichtluken waren beinahe augenblicklich bis zur Nutzlosigkeit erblindet; ihre Oberflächen waren dermaßen zerschrammt, dass es unmöglich war, hinauszusehen.

Der Sturm bestand jedoch nicht nur aus Mikrometeoriten. Drei Stunden nach dem ersten Trommelgeräusch wurden die Flüchtlinge von einem Krachen überrascht, das ihre Zähne im Innern ihrer Anzüge aufeinanderschlagen ließ. Als Thorpe erschreckt aufsah, entdeckte er nicht einmal einen Meter vor seiner Nase ein zentimetergroßes Loch. In der gegenüberliegenden Wand zeigte ein beinahe gleichaussehendes Loch an, wo etwas das Schiff verlassen hatte. Durch beide Löcher hindurch konnte man die Schwärze des Weltraums sehen, und ein heftiger Windstrom blies in ihre Richtung. Thorpe hatte das Eintrittsloch mit zitternden Händen geflickt, während Jamie Byrant sich um das Loch kümmerte, wo der Meteorit ausgetreten war. Anschließend hatten sich alle auf die eschleunigungsnetze gelegt, um den Sturm auszureiten. Bei jedem neuen Geräusch sehnte Thorpe sich unwillkürlich einen tiefen Fuchsbau herbei, in den er hätte hineinkriechen können.

Schließlich ließ das Trommelgeräusch nach, und Amber gab bekannt, dass sie das Schlimmste hinter sich hätten. Es dauerte jedoch noch weitere drei Stunden, bis die langsame Rotation des Containers die beiden unbeschädigten Sichtluken auf den Mond hin ausgerichtet hatte. Ihr erster Blick auf den Mond seit mehr als zwölf Stunden machte ihnen vollends das Ausmaß dessen klar, was geschehen war.

»Was, zum Teufel, ist denn das?«, fragte Thorpe, als er auf die von schneeweißen Wolken umhüllte Welt hinunterblickte, die sich an der Stelle befand, wo früher Luna gewesen war.

Die Wolken ähnelten einer Kometenkoma, waren jedoch dichter. Luna hatte sich in eine Miniaturvenus verwandelt und war dabei merklich gewachsen. Thorpe schätzte, dass die Wolkenschicht mehr als tausend Kilometer dick war. Das war die zehnfache Dicke der Erdatmosphäre.

»Mein Gott!«, rief Amber aus. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so viel Dampf geben würde.«

»Du meinst, das ist Wasserdampf?«

»Was denn sonst? Donnerschlag hatte eine Masse von sechzig Billiarden Tonnen, und das meiste davon war Eis. Dieses Eis ist beim Aufschlag verdampft.«

»Vollständig verdampft?«

»Jedes einzelne Gramm. Der meiste Dampf muss ins Innere abgeleitet worden sein, sonst würden wir eine viel dichtere Atmosphäre sehen.«

»Könnte es flüssiges Wasser unter der Wolkendecke geben?«, fragte Margaret Grayson.

Amber schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Der Mond ist noch zu heiß. Geben Sie ihm ein paar Monate. Dann fängt der Regen erst richtig an. Wenn er erst einmal angefangen hat, wird es Jahrzehnte weiterregnen.«

Thorpe runzelte die Stirn. »Willst du damit sagen, dass auf Luna wahrscheinlich Meere entstehen werden?«

»Ziemlich große sogar, würde ich sagen. Donnerschlag enthielt ein Zwanzigstel des Wassers sämtlicher Erdozeane. Er hat seine Last auf einer Welt mit nur einem Dreizehntel der Erdoberfläche abgeworfen.«

Daran, dass Luna aus alledem mit einem Meer hervorgehen würde, hatte Thorpe noch nicht gedacht. Es war eine allzu exotische Vorstellung.

Sie hatten sich drei Tage lang mit diesem Gedanken beschäftigt. Sie hatten geruht, gegessen, sich unterhalten, Luna beobachtet und sich dabei abgewechselt, um Hilfe zu funken. Sie waren schon lange ›über den Berg‹ und fielen nun auf die Erde zu. Trotz der abnehmenden Entfernung schien der blauweiße Planet kein Ohr für ihr Rufen zu haben.

»Die Antenne muss abgebrochen sein«, sagte Thorpe zu Byrant, nachdem er das Funkgerät zum zwölften Mal untersucht hatte. Ein Rückkopplungstest ergab, dass der Sender ein Signal abgab. Entweder wurde es auf der Erde ignoriert, oder das Signal wurde nicht in den Raum ausgestrahlt.

»Wie können wir das überprüfen?«

»Ich werd es mir von außen ansehen müssen. Ziehen wir die Anzüge an, damit wir entlüften können.«

Sobald der Sauerstoff aus der Kabine in den Raum entwichen war, öffnete Thorpe die Luke und kletterte auf die flache Vorderfront des Containers. Der Staub hatte alles gründlich abgescheuert und die Zeichen, die sie beim Umbau gemalt hatten, getilgt. Langsam arbeitete er sich nach hinten vor, indem er sich von Handgriff zu Handgriff hangelte, wie ein Bergsteiger, der einen steilen Felsen emporkletterte. Er erreichte das Leitungsbündel und war so vorsichtig, um die Austrittsöffnungen der Korrekturdüsen einen weiten Bogen zu machen.

»Ich hab’s«, meldete er durch das Kabel, das sie montiert hatten, um in Kontakt zu bleiben. »Die Antenne muss beim Start abgegangen sein. Kein Wunder, dass es die ganze Zeit über ruhig war.«

»Was können wir tun, um das wieder hinzukriegen?«, fragte Ambers Stimme in seinen Ohrhörern.

»Drösel eins von den Netzen auf. Wir werden die Kabel als Antenne benutzen.«

Nach einigen Minuten erschien Ambers Helm an der Vorderseite des Containers. Sie reichte ihm das steife Kabel, und er befestigte es am übriggebliebenen Antennenstummel. Er zog vorsichtig daran, um sich zu vergewissern, dass es halten würde.

»Funkt mal etwas«, befahl er. Gleich darauf hörte er Albert Segovias Stimme, die sämtliche Schiffe in ihrer Reichweite auf dem Notrufkanal anrief. Das Signal war laut und deutlich.

Zehn Minuten später half ihm Amber wieder hinein. Sie hatten kaum wieder belüftet und ihre Helme abgesetzt, als Segovia rief, er habe Funkkontakt. Thorpe begab sich augenblicklich zurück zum Schott, wo das Funkgerät war. In der kalten Luft folgte ihm ein Nebel von Atemdampf.

»Wir sind sieben Überlebende von Luna und stürzen in einem Frachtcontainer auf die Erde zu«, sagte er auf die Aufforderung hin, sich zu identifizieren. »Wer spricht da?«

»Hier spricht die Meteoriten-Schutzstation Sechzehn«, antwortete eine Stimme mit britischem Akzent. »Sind Sie in Schwierigkeiten?«

»Das können Sie wohl annehmen. Wir brauchen Hilfe!«

»Verstanden«, erwiderte die Stimme. »Geben Sie mir Ihre Position und Ihre Flugdaten.«

Amber gab mehrere Zahlen durch. Es waren Schätzwerte ihrer Flugbahn. Sie warnte den Funker, dass die Zahlen sehr ungenau waren und empfahl ihm, ihre Position über Peilung ihres Funksignals zu bestimmen.

»Zählen Sie kontinuierlich durch.«

Sie begann langsam zu zählen. Nach wenigen Minuten sagte er ihr, sie könne aufhören. »In Ordnung, wir haben Sie von drei Schutzstationen aus angepeilt. Wir sind in einer Stunde und jede folgende halbe Stunde für Sie empfangsbereit. Sobald wir Ihre Flugbahn bestimmt haben, werden wir sehen, ob wir ein Schiff zu Ihnen schicken können. Ich muss Sie aber warnen, dass es eine Weile dauern kann. Wir sind ziemlich beschäftigt im Moment.«

Sie waren sich völlig darüber im Klaren, wie beschäftigt das Meteoritenschutzsystem im Moment gerade war. Während der vergangenen vier Tage waren mehrmals sich überschlagende große Objekte in ihrer Nähe aufgetaucht und hatten sich wieder entfernt, bis sie in der Schwärze verschwunden waren. Im Raum war es nicht möglich, die Entfernung zu schätzen. Allein die Tatsache, dass sie die Trümmerstücke sehen konnten, machte jedem klar, dass sie groß genug waren, um gefährlich zu sein.

Während der nächsten achtundvierzig Stunden wurde der Weltraum von einer Reihe von Blitzen erhellt, als nukleare Sprengköpfe von den eteoritenschutzstationen abgefeuert wurden und auf gefährlichen Stücken von Weltraummüll explodierten. Den Anstrengungen der Stationen zum Trotz hatten sie ihre Ziele nicht jedes Mal ablenken können.

Mit ihrem reparierten Funkgerät hörten sie Nachrichtenmeldungen ab. Bald erfuhren sie, dass die Zahl der Opfer auf Luna enorm gewesen war. Von offizieller Seite wurden die Verluste an Zurückgebliebenen mit 26.000 angegeben. Vielleicht noch grausamer hatte es das vakuierungsschiff getroffen, das im Erdorbit durchlöchert worden war. Zum Zeitpunkt der Katastrophe war es am Entladen gewesen, und bislang gab es noch keine offizielle Schätzung der Zahl der Opfer. Dann waren da noch die Meteore, die nahe Brisbane, Kansas City und Le Havre niedergegangen waren. Die Zerstörungen waren in Le Havre besonders schlimm. Die Rettungsmannschaften gruben in der Stadt immer noch nach Überlebenden.

»So viele!«, rief Amber, als sie zwei Tage nach Herstellung des Kontakts mit der Meteoriten-Schutzstation der wachsenden Liste der Opfer zuhörten. Sie saßen beide im Schneidersitz auf dem Beschleunigungsnetz in Höhe der Sichtluken. Zum ersten Mal seit Tagen hatten sie ihre Raumanzüge abgelegt. Zwei Stunden zuvor hatte der Stationsfunker gemeldet, dass ein Schiff unterwegs sei. Amber legte den Kopf auf Thorpes Schulter. Zum ersten Mal, seit sie das Farside-Observatorium verlassen hatte, fühlte sie sich in Sicherheit.

»Es wäre noch viel schlimmer, wenn die Erde das Ziel gewesen wäre«, erinnerte er sie. »Wir hatten noch Glück.«

»Ich stimme dir zu, aber nicht aus dem Grund, wie du glaubst.«

»So?«, brummte er und streichelte ihr Haar. Es war matt geworden, zerzaust und sehr schmutzig, doch das machte ihm überhaupt nichts aus. »Würdest du mich bitte aufklären, mein Liebes?«

»Wenn du magst«, sagte sie und drehte sich zu ihm herum. »Niels und ich haben ein paar Rechnungen angestellt. Wir glauben, dass Luna eine richtige Atmosphäre bekommen wird.«

»Der Mond ist zu klein. Die Gasmoleküle entweichen in den Raum. Deshalb hat sich die ursprüngliche Atmosphäre vor Milliarden von Jahren verflüchtigt.«

»Das stimmt«, sagte sie. »Auch diese Atmosphäre wird sich irgendwann verflüchtigen. Die Frage ist, wie lange dieser Prozess dauern wird. Wir schätzen, dass Luna mit all dem Wasser, das in die Tiefe eingedrungen ist, seine neue Lufthülle einhunderttausend bis eine Million Jahre behalten wird.«

Er stieß einen Pfiff aus. »Nur schade, dass es alles überhitzter Dampf ist.«

»Das wird nicht lange so bleiben. Sobald sich die Wolken abkühlen, wird der größte Teil davon als Regen kondensieren. Die ultraviolette Strahlung wird die Wassermoleküle spalten und Sauerstoff und Wasserstoff freisetzen. Der Wasserstoff wird nach oben steigen und vom Sonnenwind davongetragen werden. Wahrscheinlich wird der Mond ein Klima ähnlich dem der Tropen auf der Erde entwickeln – zumindest, was die Temperatur betrifft. Der atmosphärische Druck wird wahrscheinlich höher als auf der Erde sein.«

»Willst du mir erzählen, dass Luna im Begriff ist, eine Sauerstoffatmosphäre zu entwickeln?«, fragte Thorpe zweifelnd.

»Eine rudimentäre«, antwortete sie. »Die Photodissoziation ist tendenziell selbstinhibierend, weißt du. Sie läuft ab, bis sich eine Ozonschicht gebildet hat. Und dann müssen da natürlich alle diese jungfräulichen Felsen oxidiert werden. Sie werden einen Großteil des freien Sauerstoffs binden, sobald er sich bildet. Nein, wenn der Mond eine richtige Atmosphäre entwickeln soll, werden wir ihm dabei helfen müssen.«

»Wir?«

»Natürlich. Ich werde zurückgehen. Ich hoffe, du begleitest mich.«

»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.«

»Das solltest du aber. Die nächste Dekade über wird es die meiste Zeit regnen. Wenn diese Phase vorüber ist, müsste sich das Wetter so weit beruhigt haben, dass die ersten Kolonien errichtet werden können. Sie werden sich von den alten stark unterscheiden. Wir werden das Leben auf dem Mond von Grund auf neu erlernen müssen.«

»Du meinst es ernst! Du willst zurückgehen?«

Sie nickte.

»Warum?«

»Es ist meine Heimat«, sagte sie einfach und blickte ihn an.

»Aber wir haben gerade erst alles riskiert, um diesen Ort zu verlassen!«

»Die Rückkehr wird noch schwieriger sein. Es wird die Arbeit von Generationen erfordern, eine atembare Atmosphäre herzustellen. Eines Tages werden unsere Kinder oder Enkelkinder auf grünen Wiesen unter einem blauen Himmel spielen, der voller flaumiger weißer Wolken ist. Nur werden sie nicht mit der Schwerkraft der Erde zu kämpfen haben, und sie werden aus eigener Kraft fliegen können. Die Kombination von dichterer Atmosphäre und niedrigerer Schwerkraft macht Luna ideal zum Fliegen.«

»Das wäre schon eine feine Sache«, gab er zu. Der Gedanke hatte ihn schockiert, aber je länger er darüber nachdachte, desto mehr faszinierte er ihn. Vielleicht würde er selbst eines Tages über dem Meer der Stille segeln oder die hohen, langsamen Wellen auf dem Ozean der Stürme meistern. Er grinste. »Genau genommen …«

Amber hob ihr Gesicht zu seinem empor und brachte ihn mit einem Kuss zum Schweigen. »Genug nachgedacht für heute, mein Lieber. Uns bleibt noch viel Zeit. Bitte halt mich fest.«

Er legte einen Arm um ihre Hüfte und hob sie mühelos auf seinen Schoß. Sie saßen und schauten aus der Sichtluke zu der wolkenumhüllten Welt hinunter, die eines Tages so gastfreundlich sein würde wie Mutter Erde. An diesem Tag, das wusste Thorpe, würde die Menschheit endlich sicher sein. Niemals wieder würde ein einziger verirrter Asteroid, Komet oder Meteor die Menschheit mit der Auslöschung bedrohen. Während er auf die winzige Welt hinunterblickte, die im Begriff war, sich aus der Asche ihrer Zerstörung zu erheben, wusste er, dass dies die zweite dauerhafte Heimat des Homo sapiens im Universum war.

Die zweite, aber noch lange nicht die letzte!

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