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Der Winter würde, lag diese Insel etwa auf gleicher Breite wie Neuseeland, mindestens 5 Monate dauern. Gordon traf deshalb alle nur erdenklichen Vorkehrungen, um gegen die schlimmsten Überraschungen gewappnet zu sein. Unter seinen meteorologischen Beobachtungen hatte er folgendes errechnet: Winterbeginn Monat Mai, also 2 Monate vor dem Juli der südlichen Hemisphäre, der dem Januar der nördlichen Erdhälfte entspricht. Daraus war zu schließen, daß er 2 Monate danach, also September, beendet sein würde. Doch bekanntlich mußte man auch nachher noch mit heftigen Stürmen rechnen, die zur Zeit der Tagundnachtgleiche so häufig und so verheerend auftreten.

Um das tägliche Leben in French-den zu regeln, arbeitete Gordon sein Programm weiter aus. Seine Bemühungen zielten darauf ab, auch die Kleinsten daran zu gewöhnen, sich wie erwachsene Männer zu verhalten, sie sollten also nicht, wie es in der Pension Chairman üblich war, verpflichtet sein, die Größeren zu bedienen. Sonst aber richtete sich Gordon traditionsgemäß nach den Ausführungen des Buches »Collegleben in England«, einem Schinken über die »höhere Gewalt an englischen Schulen«. Da die Bibliothek von French-den außer Reisebeschreibungen nur wenige Bücher enthielt, konnten die Größeren ihre Studien kaum fortsetzen; sie mußten vor allem den Unterricht der Kleinen gestalten und überwachen. Besonderen Wert sollte dabei auf den Turn- und Sportunterricht gelegt werden. Gordon entwarf sein Programm nach den Grundsätzen der englischen Erziehungsmethode :

1. Beherrsche und überwinde deine Angst.

2. Versäume niemals die Gelegenheit zu einer Anstrengung, die dich über dich selbst hinauswachsen läßt.

3. Verachte keine Arbeit, denn jede Arbeit ist zu etwas nutze.

Das sah in der Praxis folgendermaßen aus : Vormittags und nachmittags je 2 Stunden allgemeine Arbeiten in der Halle; abwechselnd sollten Briant, Doniphan, Croß und Baxter aus der 5. und Wilcox und Webb aus der 4. Abteilung des Pensionats ihren Kameraden aus der 3., 2. und 1. Abteilung Mathematik-, Erdkunde- und Geschichtsunterricht geben; die Kleinen sollten vor allem nicht wieder vergessen, was sie schon einmal gelernt hatten. Zweimal die Woche, sonntags und mittwochs, sollte eine Versammlung abgehalten werden, d. h. in freier Unterhaltung sollte ein Thema aus der Geschichte oder der Gegenwart diskutiert werden. Gordon hatte darüber zu wachen, daß dieses Programm streng eingehalten wurde. Damit man das Zeitgefühl nicht vollständig verlor, wurde Wilcox beauftragt, jeden Tag die von der Sloughi geretteten Uhren aufzuziehen, Baxter hatte die Tage im Kalender abzustreichen. Webb erhielt den Auftrag, den Barometer- und Thermometerstand abzulesen und täglich in einem Heft zu notieren. Außerdem beschloß man, ein Tagebuch über alles, was sich auf der Chairman- Insel zugetragen hatte und noch zutragen würde, zu führen. Baxter meldete sich für diese Aufgabe freiwillig. Moko schließlich übernahm die Reinigung der Kleider und Bettwäsche.

Der nächste Tag war zufällig ein Sonntag. Die jungen Kolonisten machten gemeinsam einen langen Ausflug zum Family-lake. Anschließend veranstaltete Gordon für alle einen Wettlauf auf der Sport-terrace, wo sich besonders die Kleinsten bis zum Umfallen austoben konnten. Nach dem Abendessen spielte Garnett einige englische Volkslieder auf seiner Ziehharmonika, die anderen sangen mehr oder weniger falsch dazu. Jacques hatte von allen Anwesenden die schönste, reinste Stimme, aber er lehnte es kategorisch ab, einige Lieder zum besten zu geben. Gegen 22 Uhr lagen die Kinder auf ihren Matratzen, Phann saß hinter der Eingangstür und bewachte French-den und seine Bewohner. Im Lauf des Juni nahm die Kälte gewaltig zu. Webb teilte mit, daß das hundertteilige Thermometer 10 bis 12 Grad unter dem Gefrierpunkt anzeigte. Wenn der aus Süden kommende Wind nach Westen umsprang, hob sich die Temperatur ein wenig; es fiel dann meistens Schnee.

»Machen wir eine Schneeballschlacht«, riefen die Jungen und stürmten ins Freie.

Während des wilden Gefummels verirrte sich ein harter Schneeball und traf Jacques, der dem Treiben lediglich zuschaute, ziemlich fest. Er schrie auf.

»Ich habe es nicht mit Absicht getan«, entschuldigte sich Croß.

»Glaube ich«, sagte Briant, der herbeigeeilt war, »aber warum wirfst du auch so fest!«

»Wenn Jacques nicht mitspielt, braucht er auch nicht dazustehen!«

»Mach doch keine Witze, Briant«, mischte sich Doniphan ein, »das ist doch alles halb so schlimm!«

»Schon gut, aber deshalb kann ich trotzdem Croß ermahnen, nicht noch einmal so fest zu werfen.«

»Komm, komm, er hat es ja nicht mit Absicht getan!« »Warum mischt du dich denn überhaupt in eine Sache, die dich gar nichts angeht?«

»Das ist meine Sache! Dein Ton gefällt mir nicht!«

»Du suchst Streit!?«

»Mach halblang!«

»Wie du willst und wann du willst!« schrie Briant und kreuzte die Arme.

»Gut, dann aber sofort«, reagierte Doniphan. Da trat, gerade noch rechtzeitig, um eine Schlägerei zwischen den beiden Streithähnen zu verhindern, Gordon dazwischen. »Halte dich zurück, Doniphan. Diese Sache ging nur Briant und Croß was an, du hast dich da nicht hineinzumischen, merk dir das!«

Doniphan ließ den Kopf hängen und trottete verärgert zur Höhle zurück. Jeder wußte, daß er sich bei der nächsten Gelegenheit rächen würde.

48 Stunden schneite es ununterbrochen. Zum Vergnügen der Kleinsten bauten Service und Garnett einen riesigen Schneemann, den sie dann als Zielscheibe für ihre Schneebälle benutzten.

Gegen Ende Juni mußte man auf derlei Vergnügungen verzichten. Der Schnee lag mittlerweile so hoch, daß man kaum noch vor die Höhle treten konnte. Wäre jemand auch nur 100 Schritte von French-den weggegangen, er hätte wahrscheinlich nicht wieder zurückgefunden, denn die Landschaft hatte sich vollkommen verändert und die verschiedenen Erkennungspunkte lagen unter einer dicken Schneedecke versteckt. Die Jungen blieben also in der Höhle und forcierten den Unterricht. Das tägliche Programm wurde peinlich genau eingehalten, besonderen Spaß machten die Diskussionsabende, wo sich allen voran Doniphan mit seiner überdurchschnittlichen Redegewandtheit auszeichnete. Warum trug er nur immer einen solchen Stolz zur Schau? Fuchste es ihn, daß er nicht zum ersten Oberhaupt der Kolonie ernannt worden war?

Obwohl man bis zum 9. Juli nicht ins Freie gehen konnte, litt die Gesundheit der Kinder nicht, denn die Frischluftzufuhr war durch die 4 Fensterchen gewährleistet. Überhaupt war ja die allgemeine Gesundheit das wichtigste Problem, denn wie hätte man schwerere Erkrankungen heilen sollen? Eine heikle Frage war auch die Beschaffung von frischem Wasser, wenn der Rio und der See zugefroren waren.

»Bauen wir doch eine unterirdische Leitung bis zur Höhle, die Rohre haben wir ja«, schlug Baxter, Gordons »Leibingenieur«, voi.

Nach verschiedenen mißlungenen Versuchen gelang dieses schwierige Vorhaben. Nun war man also von der Außentemperatur in punkto Wasser unabhängig.

Die Höhlenbeleuchtung war relativ einfach; man hatte genügend Ölvorräte für die Lampen und Laternen; später konnte man aus den Fettbeständen Mokos Kerzen herstellen. Sorge bereitete Gordon die Ernährung während der Wintermonate, denn Jagd und Fischfang lieferten nicht wie sonst die gewohnte und einkalkulierte Ausbeute. Außer Schakalen, die Doniphan mit gezielten Schüssen tötete oder vertrieb, kamen keine Tiere in die Nähe der Höhle. Küchenchef Moko sah sich deshalb gezwungen, die Sloughi- Vorräte anzubrechen, denn immerhin mußte er ja 15 Mägen füllen. Das war keine einfache Aufgabe, wenn man den Appetit von 8- bis 14Jährigen Jungen bedenkt.

Als Briant am 9. Juli einmal nach draußen ging, konnte er beobachten, daß der Wind plötzlich nach Süden umgesprungen war. Der ungemein strenge Frost nötigte ihn jedoch, so schnell wie nur möglich wieder in die Halle zurückzukehren. »Der Wind ist umgesprungen«, sagte Briant zu Gordon. »Das war zu befürchten, ich mache mich sowieso auf weitere strenge Wintermonate gefaßt.«

»Das beweist aber, daß die Sloughi doch weiter als angenommen nach Süden verschlagen worden ist.«

»Schon möglich, aber trotzdem zeigt der Atlas keine Insel in der Antarktisnähe.«

»Seltsam, ich kann mir das nicht erklären; und ich wüßte nicht, welche Richtung wir einschlagen sollten, wenn wir die Möglichkeit hätten, mit einem Boot die Insel zu verlassen.«

»Die Chairman-Insel verlassen? Glaubst du denn immer noch daran?«

»Jede Minute, Gordon! Hätte ich ein halbwegs seetüchtiges Boot, ich zögerte keinen Augenblick, die Insel zu verlassen.«

»Gut, gut, aber vergiß dabei nicht, daß wir hier noch eine Menge Aufgaben zu bewältigen haben.«

»Denkst du denn nie daran, daß wir in Auckland noch Angehörige haben?«

»Alles in allem sind wir hier doch relativ gut dran, nicht wahr? Die Sache wird doch täglich besser, ich frage mich manchmal, was uns eigentlich noch fehlt.«

»Na, ich könnte mir einiges vorstellen, aber lassen wir das. Übrigens geht das Brennholz zu Ende.«

»Alle Wälder der Insel stehen uns zur Verfügung, wir müssen uns nur bedienen.«

»Schauen wir auf das Thermometer, vielleicht können wir gleich an die Arbeit gehen.«

Das Thermometer zeigte nur 5 Grad über Null, obwohl in der Halle gut geheizt war. Briant nahm es mit nach draußen.

»Eiskalt! 17 Grad unter dem Gefrierpunkt.«

Nach dem Frühstück wurde dennoch beschlossen, in den Traps-woods eine Ladung Holz zu holen.

»Ohne den Wind wäre es ja auszuhalten!«

»Wir brauchen Skier, das wäre halb so anstrengend. Wir sinken ja bis an die Hüften ein.«

Da kam Moko ein guter Einfall.

»Nehmen wir doch den Eßtisch, die Beine nach oben, und ziehen ihn über den Schnee.«

»Gute Idee, wirklich!«

Zwischen Auckland-hill und dem Family-lake war alles gleichmäßig weiß. Die schneebedeckten Bäume wirkten wie eine feenhafte Theaterdekoration. Über dem See flatterten ganze Scharen von Vögeln; Doniphan und Croß hatten ihre Flinten natürlich dabei.

»Schaut her, hier sind Jaguarspuren im Schnee zu erkennen!«

»Wahrscheinlich handelt es sich hier nur um Wildkatzen, sogenannte Paperos, aber auch die sind nicht gerade zahm«, erklärte Gordon.

»Na ja, wenn es nur Katzen sind«, sagte Costar achselzuckend.

»Aber Tiger sind auch nur Katzen«, rief Jenkins. »Sie fressen kleine Kinder wie Mäuse!«

Im Laufe des Vormittags konnten 2 Fuhren gemacht werden, Nach dem Essen ging die Arbeit bis um 16 Uhr weiter. Das Fällen der Bäume war ziemlich anstrengend gewesen, deshalb wollte man den Rest auf morgen verschieben. In French-den zersägten die Jungen das Holz zu handlichen Scheiten, spalteten sie und schichteten sie in einer Ecke auf. Danach ging man schlafen.

Da man schon mal dabei war, entschied Gordon, die Arbeit gleich gründlich zu besorgen. 6 Tage lang fällten, sägten, spalteten und schichteten sie das Holz, um genügend Brennmaterial zu haben.

Am 15. Juli war Saint-Swithin-Tag, in England das Pendant zu unserem Siebenschläfer.

»Wenn es heute regnet«, erklärte Briant, »regnet es gleich 14 Tage lang.«

»Macht ja nichts, denn jetzt ist sowieso schlechtes Wetter. Im Sommer wäre das allerdings ärgerlich!«

Der Wind sprang nach Südosten um, der Regen hörte auf, dafür aber trat Frost ein. Gordon untersagte jeden Ausgang. In der ersten Augustwoche sank das Thermometer auf 27 Grad unter Null. Die Tage in der Höhle wurden zusehends unangenehmer, die Jungen litten unter Bewegungsmangel. Briant sah nicht ohne Sorge die blassen Wangen der Kleinen. Doch abgesehen von Husten- und Schnupfenanfällen wurde niemand ernstlich krank. Moko servierte ständig warmen Tee, in solchen Ausnahmesituationen die beste Medizin.

Am 16. August wurde das Wetter etwas besser, die Temperatur stieg an, der Wind hatte nachgelassen. Doniphan, Briant, Service, Wilcox und Baxter kamen auf den Gedanken, wieder einmal zur Sloughi-Bai hinunter zu gehen. Sie versprachen Gordon, noch am selben Abend zurück zu sein.

»Schaut nach, was die Robben machen und überprüft die Flagge oben am Steilufer«, empfahl Gordon der Truppe.

»Für den Fall, daß Seeleute nach Entdeckung der Fahne dort landen sollten, bringen wir am besten eine Tafel an, die die Lage unserer Höhle angibt«, schlug Briant vor. Am Morgen des 19. August brachen die Größeren auf. Der Himmel war wolkenlos. Sie kamen schnell vorwärts. Die Schlammlache der Bogwoods brauchte nicht umgangen zu werden, sie war mit einer Eisschicht überzogen, das kürzte den Weg wesentlich ab. Vor 9 Uhr erreichten sie das Vorland der Sloughi-Bai.

»Ganze Scharen von Vögeln!«

»Lauter Fettgänse, die sind kein Gramm Pulver wert.«

»Aber sie sehen doch ganz adrett aus, diese befrackten Pinguine!«

»Schaut da drüben«, rief Wilcox.

»Au ja, das sind Rüssel-Robben.«

Sobald die Kinder aber näher kamen, verschwanden sie im Meer.

»Die werde ich später einmal jagen«, versprach Doniphan.

Nach einem kurzen Frühstück setzte man den Weg fort. Auch hier war alles schneebedeckt, die Fläche von der Mündung des Rio Sealand bis hin zum Vorgebirge False-sea-point wirkte wie ein weißer Teppich. Bald stieß man unter der Schneedecke auf die zurückgelassenen Überreste der Sloughi. Die Tang- und Seegrasbüschel am Strand bewiesen, daß diese Bai von besonders heftigen Äquinoktialfluten noch nicht heimgesucht worden war. Auf dem Meer selbst zeigte sich nichts, kein Schiff, keine Insel.

»Da draußen, ganz weit draußen, liegt Neuseeland!«

»Hoffentlich werden wir es jemals wiedersehen!« Die Kinder standen für einige Augenblicke stumm da und starrten über die endlose Weite. Der Anblick war hoffnungslos! Baxter ging nun daran, eine neue Flagge aufzuziehen und die Tafel mit der Karte zu befestigen.

Gegen 16 Uhr waren sie zurück. Doniphan hatte unterwegs noch einige Schwanzenten und Kiebitze erlegt, die Moko strahlend in Empfang nahm.

»Unten an der Bai gibt es Robben in rauhen Mengen, damit können wir unsere Fettvorräte aufbessern«, sagte Briant. Sie beschlossen, bei günstigem Wetter auf die Robbenjagd zu gehen, »in ganz großem Stil«, wie Service hinzufügte.

Bald mußte die schlechte Jahreszeit vorüber sein. Während der letzten Augustwoche war schon wieder der mildere Seewind zu spüren, schwere Regenböen brachten schnelle Milderung, der Schnee schmolz. Vom See her hörte man das Bersten der Eisdecke.

Am 10. September waren es genau 6 Monate, seit die Sloughi an den Klippen der Insel Chairman gestrandet war.

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