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Der erste Versuch bewies, daß der Drachen in seiner jetzigen Größe einen 20 Pfund schweren Sack aufhob. Eine von der Sloughi herübergeschaffte Waage bestimmte dieses Gewicht sehr genau. Baxter verstärkte nun in erster Linie die Rohrstäbe, dann verlängerte er das gesamte Gestell und erweiterte den geteerten Leinwandbezug. Wären Baxter und Briant besser in der Mechanik bewandert gewesen, hätten sie die Grundprinzipien — das Gewicht, die Oberfläche, den Schwerpunkt und den Luftwiderstand — genauer beachten können. So peilten sie doch manches mehr oder weniger exakt über den Daumen.

»Um die Gefahr eines möglichen Absturzes zu verringern, machen wir den Aufstieg am besten über dem See. So bricht sich wenigstens der mutige Flieger nicht die Knochen.«

»Und er kommt leicht wieder an Land!«

»Wie hält sich der Flieger eigentlich fest?«

»Wir bauen eine Gondel aus dem üblichen Rohrgeflecht, das hält das Gewicht gut aus.«

Am Morgen des 5. hatte man die Arbeit begonnen, am Nachmittag des 7. war sie beendet. Noch am Abend sollte ein Probeaufstieg stattfinden.

Während der letzten Tage hatte sich die Lage der Kolonie nicht verändert. Wiederholt waren einige Jungen stundenlang am Steilufer gelegen,

um die Umgegend besser beobachten zu können. Aber sie konnten nichts Verdächtiges wahrnehmen, keine Rauchsäule, keinen Flintenschuß. Hatten sich die Gangster doch verzogen? Hatten sie die Schaluppe ausbessern können?

»Bevor wir unseren Ballon steigen lassen, muß noch eine wichtige Frage geklärt werden: wie kann der Flieger sich mit den anderen unten im Notfalle verständigen?«

»Ein Lichtsignal ist ausgeschlossen, das kann man sehen!«

»Ich hab's«, sagte Briant, »wir fertigen einen Bindfaden mit einer Bleikugel an; wenn der Flieger etwas entdeckt hat, läßt er die Kugel einfach nach unten sausen, dann wissen die anderen Bescheid. Das alles geht lautlos und sicher vor sich!«

»Einverstanden!«

In der Mitte der Sport-terrace war eine Winde von der Sloughi aufgestellt, daran sollte der Ballon hoch- und heruntergelassen werden. In die Gondel hatte Briant einen Sack mit Erde gelegt, der genau 130 Pfund und damit mehr wog, als der schwerste seiner Kameraden.

»Achtung!« rief Briant.

»Wir sind fertig!« antwortete Doniphan.

»Los!«

Der Apparat stieg langsam hoch, er knarrte ein wenig unter dem Druck des Windes und neigte sich bedrohlich zur Seite.

»Nachlassen! . . . Schnur nachlassen!« rief Wilcox.

Der Drachen stieg weiter in die Höhe. Obwohl es eine fahrlässige Unklugheit war, schrien die Kleinsten doch vor Freude über den geglückten Probeflug. Langsam verschwand der Drachen in den niederhängenden Wolken.

»Laßt die Schnur ganz abrollen!« befahl Briant.

Nach einigen Minuten empfahl Briant, man solle den Drachen wieder herunterholen. Auch die Landung, sonst immer schwieriger als der Start, klappte gut. Der Drachen legte sich sanft und ohne an einer Stelle zu brechen auf den Boden. Am folgenden Tag, dem 8. November, sollte der richtige bemannte Start erfolgen.

»Laßt uns zurück nach French-den gehen«, schlug Gordon vor.

»Einen Augenblick«, antwortete Briant, »ich habe einen Vorschlag!«

»Schnell, wir müssen zurück, bevor es Mitternacht ist.«

»Wir haben den Drachen eben ausprobiert! Alles hat geklappt, die Windverhältnisse sind ausgezeichnet! Wissen wir aber, wie das Wetter morgen ist? Deshalb schlage ich vor, die Gunst der Stunde zu nützen, und schon heute nacht, jetzt gleich, den bemannten Versuch zu starten.«

Die Kameraden stimmten zu.

»Wer wird aufsteigen?«

»Ich!« rief Jacques sofort.

»Ich!« . . . Ich!«

Von allen Seiten kamen die Angebote.

»Laß mich es wagen, Bruder, mir kommt diese schwere Aufgabe am ehesten zu, du weißt es!«

»Und warum?« wollte Doniphan wissen.

»Weil es meine Pflicht ist! « stieß Jacques hervor.

»Deine Pflicht, was heißt das!«

»Nun also, Bruder, wie steht es?« drängte Jacques, der den Fragen seiner Kameraden ausweichen mußte.

»Antworte, Briant«, sagte Doniphan, »wie kommt es, daß Jacques behauptet, ein Recht auf diesen Flug zu haben? Was hat er getan, daß er so redet?«

»Was ich getan habe?« antwortete Jacques zaudernd. »Was ich getan habe, das . . . will ich euch . . .«

»Jacques, ich bitte dich!« rief Briant, aber er konnte das Geständnis seines Bruders nicht mehr verhindern.

»Gordon, Doniphan, ihr alle, die ihr hier auf der Insel gefangen seid, es ist meine Schuld . . . wenn ihr eure Eltern nicht mehr wiedersehen werdet ... ich habe es getan . . . daß die Sloughi aufs Meer hinausgetrieben wurde . .. kam daher, daß ich ... aus einer verrückten Laune, einer irrsinnigen Spielerei . . . aus Unverstand die Taue kappte, die sie mit dem Quai von Auckland verband. Ich habe den Verstand verloren, ich weiß nicht, warum ... ich es tat ... als ich zu mir kam, war es bereits zu spät. Verzeihung, meine Freunde, ich bitte euch alle inständig um Verzeihung!«

Danach brach er zusammen; sofort bemühte sich Kate um ihn.

»Jacques, du hast deinen Fehler gestanden«, sagte Briant ruhig, »und jetzt willst du alles daran setzen, ihn wieder etwas wettzumachen.«

»Das hat er schon längst getan«, mischte sich da Doniphan ein, »hat er nicht mehrmals sein Leben für uns alle aufs Spiel gesetzt? Jetzt verstehe ich dich auch, Briant, daß du deinen Bruder immer vorgeschickt hast, wenn es um die Erledigung eines besonders heiklen Unternehmens ging. So wagte sich Jacques seinerzeit auch auf den dicht vernebelten See hinaus, um Croß und mich zu suchen!«

Jetzt also wußten es alle! Der lustigste Junge der Pension Chairman hatte die Taue gelöst, er war dafür verantwortlich, daß sie sich seit über einem Jahr hier in dieser Einöde befanden! Aber keiner dachte augenblicklich daran, Jacques mit Vorwürfen zu überschütten, sie drückten ihm lange die Hand und vergaben ihm von ganzem Herzen. Jacques selbst war überglücklich über die spontane Reaktion seiner Kameraden. Er stand wieder auf, wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte :

»Ich werde nach oben steigen!«

»Nein, Jacques, ich werde steigen, ob dein Vergehen durch dich oder deinen Bruder Briant wettgemacht wind, das ist egal.«

Ohne sich auf weitere Debatten über dieses Thema einzulassen, bestieg Briant die Gondel und gab unverzüglich Befehl zum Aufsteigen.

»Laßt diesen Kasten los!« Der Apparat erhob sich langsam vom Boden. Baxter, Wilcox, Croß und Service bedienten die Winde, Garnett hielt den Signalbindfaden.

Nach 10 Sekunden war der Drachen im Dunkel der Nacht verschwunden. Diesmal begleitete kein Hurraruf die Fahrt. Briant hatte den Kindern befohlen, ganz still zu sein. Der Drachen stieg langsam, aber stetig höher hinauf. Die Brise über dem See wehte gleichmäßig. Briant verhielt sich vollkommen ruhig. Unter ihm war alles dunkel. Mit der einen Hand hielt er den Bindfaden mit der Kugel, mit der anderen hielt er das Fernrohr vor die Augen. See, Wälder und Steilufer bildeten nur eine verschwommene Masse, Einzelheiten waren nicht zu unterscheiden. Die Umrisse der Insel hingegen konnte er noch genau erkennen. Er bedauerte jetzt, daß er solche Manöver nicht bei Tage ausführen konnte, vielleicht sah man von hier oben das möglicherweise benachbarte amerikanische Festland oder aber eine der Inseln im Umkreis. Im Westen, Norden und Süden war der Himmel zu bewölkt. Nur im Osten war die Sicht einigermaßen frei. Briant schreckte plötzlich zusammen. »Dort! Das ist der Schein eines Feuers! Aber nein! Der Punkt war viel zu weitweg, er gehörte wahrscheinlich gar nicht mehr zur Insel. Aber was konnte es dann sein?«

Briant fiel ein, daß er damals einen weißlichen Punkt von der Deception-Bai aus wahrgenommen hatte.

»Ja, die Richtung stimmt, es war dort draußen. War dieser Fleck ein Gletscher? Dort im Osten muß Land sein, und zwar ziemlich nahe der Insel Chairman!«

Briant drückte sein Fernrohr fester ans Auge. Kein Zweifel, da draußen befand sich ein Vulkan!

Neben dem damals gesehenen Gletscher lag ein tätiger Vulkan. Die Entfernung konnte nicht mehr als 45 km betragen. In diesem Augenblick bemerkte Briant noch einen zweiten Lichtschein, der jedoch wesentlich näher lag. Dieser Schein stammte von dieser Insel!

»Jetzt steht es also fest: Walston und die anderen sind noch da, und zwar in der Nähe des Bear-rock.«

Briant durfte keine Minute länger oben bleiben, denn der Wind hatte merklich aufgefrischt. Er spannte den Faden und ließ die Kugel hinabsurren. Einige Sekunden später spürte er, wie der Drachen eingeholt wurde. Noch einmal erkannte er weit draußen eine Eruption des Vulkans, und weit näher den Schein des Lagerfeuers im Wald um den Bear- rock.

Die Kameraden warteten unten bereits mit größter Ungeduld, 20 Minuten war Briant in der Luft geblieben. Doniphan, Baxter, Wilcox, Service und Webb zogen mit vereinten Kräften an der Winde, sie mußten wegen des aufgekommenen Windes vorsichtiger sein als zuvor bei der Probefahrt. Plötzlich gab es einen Ruck! Die Kinder wurden zu Boden gerissen.

»Briant! . .. Briant!« schrien alle durcheinander.

Wenige Minuten später tauchte Briant am Ufer des Family-lake auf. Er war unverletzt. Aber der Drachen war von einer steifen Brise nach Nordosten geweht worden.

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