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Insel oder Festland — das blieb die lebenswichtige Frage, mit der sich Briant, Gordon und Doniphan beschäftigten. Jedenfalls lag dieses Land nicht in der Tropenzone, das bewies seine Pflanzenwelt, die Eichen, Birken, Buchen, Fichten und Tannen, das zeigten die verschiedenen Steinbrecharten, die im mittleren Teil des Stillen Ozeans nicht vorkommen. Es schien sogar, als liege dieser Flecken näher am Südpol als an Neuseeland, was auf einen sehr strengen Winter schließen ließ.

»Schon aus diesem Grund«, erklärte Gordon, »scheint es mir ratsam zu sein, daß wir uns nicht endgültig auf diesem Teil der Küste ansiedeln.«

»Mein ich auch«, stimmte Doniphan zu, »doch wenn wir die schlechte Jahreszeit herankommen lassen, wird es zu spät sein, einen bewohnten Ort aufzusuchen.«

»Immer Geduld, lieber Doniphan«, sagte Briant, »jetzt ist erst Mitte März.«

»Ende April beginnt die Schlechtwetterzeit, und wenn man den Weg berücksichtigt, den wir zurücklegen müssen, um . . .«

»Vorausgesetzt, daß es überhaupt einen Weg gibt.«

»Warum denn nicht!«

»Wenn es tatsächlich einen gibt«, mischte sich wieder Gordon ein, »wer sagt uns dann, wohin er führt?«

»Ganz egal«, erwiderte Doniphan, »ich sehe nur das eine: wir müssen den Schoner vor Eintritt der Kälte und Regenzeit verlassen haben, deshalb ist es ganz witzlos, bei jedem Vorschlag gleich Schwierigkeiten zu wittern. Hauptsache, wir verschwinden hier rechtzeitig.«

»Sich über Probleme klar sein, ist noch nie ein Fehler gewesen. Einfach in ein unbekanntes Land stolpern, ist närrisch.«

»Sehr einfach, die gleich Narren zu nennen, die nicht eurer Ansicht sind.«

Bevor es wieder zum Krach kam, trat Gordon vermittelnd dazwischen.

»Streitereien haben keinen Sinn. Um aus dieser Gefahr herauszukommen, muß man sich miteinander verständigen. Selbstverständlich würden wir alle sofort aufbrechen, wenn wir wüßten, ob hier Menschen leben, die uns helfen. Ist das aber anzunehmen?«

»Was zum Teufel«, rief Doniphan hitziger, »wenn wir nach Süden, nach Norden und nach Osten wandern, müssen wir einmal ans Ziel gelangen.«

»Immer angenommen, wir befinden uns auf dem Festland«, setzte Briant hinzu.

»Davon müssen wir uns aber doch erst durch die Wanderungen überzeugen!!«

»Ein logischer Zirkel, meine Herren Zöglinge!« scherzte Gordon, um die Gemüter einigermaßen zu beruhigen. Aber Doniphan war schon zu sehr erregt, um sich durch solche Geistreicheleien besänftigen zu lassen.

»Die Sloughi wird demnächst auseinanderfallen, sie kann dem schlechten Wetter nicht sehr lange standhalten.«

»Zugegeben, aber dennoch müssen wir wissen, wohin wir gehen.«

»Ich bin bereit, auf Kundschaft auszuziehen«, sagte da Briant.

»Ich auch«, fügte Doniphan an.

»Da wir die Kleinen auf so beschwerliche Unternehmungen nicht mitnehmen können, müssen 2 bis 3 genug sein.«

»Schade, daß hier kein Gipfel ist, von dem aus man Ausschau halten kann.«

»Ehe wir das Steilufer untersuchen, sollten wir erst die Gegend um den Rio durchforschen«, warf Gordon ein. »Gehen wir zum nördlichen Ende der Bai, von dort müßten wir weit sehen können«, überlegte Briant.

»Daran dachte ich auch schon; jenes Kap muß sogar das Steilufer überragen.«

»Ich biete mich an, dorthin zu gehen«, sagte Briant.

»Wozu denn?« fragte Doniphan. »Was soll denn von dort aus zu sehen sein?«

»Aber versuchen kann man es doch immerhin!?«

Tatsächlich erhob sich am Ende der Bai eine Art Felshügel, der auf der einen Seite schroff zum Meer abfiel und auf der anderen in das lange Steilufer überzugehen schien. Von der Sloughi aus war er etwa 9 km entfernt. Gordon schätzte seine Höhe auf 150 m. Reichte das aus, um einen Großteil des Hinterlandes übersehen zu können?

Jedenfalls konnte man sehen, was jenseits des Vorgebirges lag und ob die Küste sich nach Norden hin unbegrenzt fortsetzte. Es wurde also beschlossen, diesen Plan auszuführen, obgleich Doniphan den Nutzen dieser Unternehmung nicht einsehen wollte. Gleichzeitig wurde bestimmt, die Sloughi nicht eher zu verlassen, als bis man mit Sicherheit wußte, ob man an der Küste eines Festlandes gescheitert war oder nicht. Und dieses Festland konnte dann nur Amerika sein.

Während der 5 folgenden Tage konnte der geplante Ausflug nicht ausgeführt werden. Das Wetter war dunstig geworden, zuweilen nieselte ein feiner Regen herab. Doch deshalb waren diese Tage nicht verloren — man nutzte sie, um verschiedene Arbeiten zu erledigen, vor allem mußten die für ausgewachsene Seeleute bestimmten Kleidungsstücke umgenäht werden, was Moko besorgte. Unter Führung Garnetts oder Baxters zogen die Kleinsten dann und wann den Strand hinunter, um Muscheln zu sammeln oder mit Schnüren und Netzen im Rio zu angeln. Für sie war es ein Heidenspaß, für die anderen eine Mahlzeit mehr, ohne den Vorrat weiter zu dezimieren. Sie waren so beschäftigt, daß sie gar nicht über den Ernst ihrer Lage nachdenken konnten, wahrscheinlich ging es ohnehin über ihr Begriffsvermögen weit hinaus. Sie dachten zwar hin und wieder an ihre Eltern in Auckland, aber sie dachten nicht daran, daß sie sie möglicherweise überhaupt nie mehr wiedersehen würden. Gordon und Briant hatten sich ganz der Instandhaltung der Sloughi gewidmet, dabei half auch Service ein wenig mit. Er liebte Briant und mied die Gruppe um Doniphan, auch Briant empfand für ihn eine ausgesprochene Zuneigung.

»Unsere Sloughi ist von einer Welle an den Strand geworfen worden, ohne allzusehr demoliert worden zu sein«, schwärmte Service. »Diesen Vorzug hatten weder Robinson Crusoe noch der Schweizer Robinson auf ihren erdichteten Inseln.«

Und Jacques Briant? Es schien, als plagten ihn irgendwelche Gewissensbisse. Manchmal half er seinem Bruder beim Ausbessern der Jacht, aber wenn man ihn nach seinen Sorgen fragte, gab er nur widerwillig und kurz Antwort. Briant bedrückte dieses unerklärliche Benehmen. Wie konnte man aus ihm etwas herausbekommen, was seinen Zustand erklärte? War vielleicht seine Gesundheit angegriffen? Auf jede diesbezügliche Frage antwortete Jacques schnell und entschieden mit Nein.

»Nein, nein, mir fehlt nichts, gar nichts!«

Vom 11. bis 15. März gingen Doniphan, Wilcox, Webb und Groß regelmäßig auf Vogeljagd. Sie benahmen sich so auffällig solidarisch, daß es den andern klar wurde, wie sehr sie bemüht waren, zu zeigen, daß sie eine besondere Gruppe bildeten. Gordon sprach Doniphan einmal darauf an und versuchte ihm zu erklären, daß es bitter nötig sei, gerade in dieser fatalen Situation eine bruchlose Einheit zu sein, worauf Doniphan nur kalt lächelte. Die Jagd selbst war jeden Tag sehr erfolgreich, wenn auch Moko, der Küchenchef, nicht mit allen Vögeln etwas anfangen konnte. So zählten Seeraben, Möwen, Meerschwalben und Silbertaucher zur Ausschußware. In die Pfanne wanderten vor allem Felstauben, Gänse und Enten.

Langsam drängte es alle, das Vorgebirge zu besteigen, um endlich die Frage beantworten zu können, ob dieser Strand zu einem Festland oder zu einer Insel gehörte. Von der Antwort hing ja viel, sehr viel ab, vielleicht sogar alles, sie konnte über Leben und Tod entscheiden. Am 15. März schien die Witterung günstig für die Besteigung. Die Dunstschleier waren über Nacht verschwunden, die Sonne machte die Sicht klar. An sich hatten Briant und Gordon vorgehabt, dieses Unternehmen zu bestreiten, aber es war Gordon zu gefährlich, seine Kameraden allein mit Doniphan zurückzulassen. Am Abend des 15., als das Barometer auf Schönwetter zeigte, teilte Briant Gordon mit, daß er am Morgen des folgenden Tages aufbrechen werde. Ein Tag mußte ihm genügen, um die Strecke von 13 km — Hin-und Rückweg gerechnet — zu bewältigen. Vor Einbruch der Nacht wollte er wieder zurück sein. Briant brach also mit dem ersten Tagesgrauen auf, ohne daß die anderen Kinder etwas davon wußten. Er hatte nur einen Stock und einen Revolver bei sich, zur Erleichterung der Sicht besaß er außerdem ein Fernrohr. Briant folgte zuerst der Küstenlinie. Je mehr sich das Steilufer der Klippenbank näherte, um so beschwerlicher wurde das Marschieren, der Sandstreifen wurde zusehends schmaler und die Brandung brach wuchtig herein. Briant mußte jetzt über nasse Felsblöcke und schlüpfrige See-Eichen gehen, um Seelachen herumwandern und über loses Gestein balancieren, was ihn 2 volle Stunden mehr kostete.

»Ich muß das Kap vor Wiedereintritt des Hochwassers erreichen!«

Dieser Teil des Landes wurde von der Flut jedesmal völlig überschwemmt. Briant versuchte also, den kürzesten Weg einzuschlagen, zuweilen mußte er Stiefel und Strümpfe ausziehen und durch kniehohes Wasser waten, zudem waren die Klippenwanderungen höchst gefährlich, denn leicht konnte sich ein Fels lösen und ihn mit ins Meer stürzen. An verschiedenen Stellen der Bai sah er Pelzrobben, die nicht die geringste Furcht zeigten. Das bewies, daß seit Jahren keine Jagd mehr auf sie gemacht worden war und also keine Fischer hierherkamen. Außerdem mußte diese Küste in noch höherer Breite liegen, als er zuerst vermutet hatte, in jedem Fall südlicher als Neuseeland. Der Schoner war also bei seiner Irrfahrt über den Stillen Ozean beträchtlich nach Südosten abgetrieben. Es war schon 10 Uhr morgens, ein Beweis, wieviel Zeit Briant für die letzten paar Kilometer gebraucht hatte; erschöpft und ausgehungert, hielt er es für das beste, sich erst einmal mit Fleisch und Wasser zu stärken, bevor er die Besteigung des hohen Vorgebirges in Angriff nahm. Allein und von seinen Kameraden weit entfernt, versuchte er sich über die Lage der kleinen Gesellschaft klarzuwerden. Vor allem Doniphans Benehmen machte ihm Sorgen. Eine Spaltung der Gruppe mußte die schwersten Folgen für alle Schiffbrüchigen haben, das wußte er. Dann dachte er an seinen Bruder, der ihm irgend etwas verheimlichte; er wollte so lange in ihn dringen, bis er ihm seinen Kummer gestand.

Briant dehnte seine Ruhepause ungefähr eine Stunde aus, um wieder richtig zu Kräften zu kommen, dann packte er seine Sachen zusammen und ging weiter. Er beobachtete, daß eine enge Schlucht das Vorgebirge vom Steilufer trennte; auf der anderen Seite erstreckte sich das Vorland über Sehweite nach Norden hinaus. Die Ersteigung war ziemlich beschwerlich, Briant mußte von einem Fels zum anderen springen, wäre er nicht ein so vorzüglicher Kletterer gewesen, hätte er sicherlich wieder umkehren müssen, denn oft genug konnte er nur mit Mühe die obere Kante einiger Felsbrocken erklimmen. Endlich aber war er oben angelangt. Mit dem Fernrohr schaute er nach Osten. Diese Gegend war völlig flach, das Steilufer war bisher die größte Erhebung dieses Landes. Überall sah man Wälder. Es hatte nicht gerade den Anschein, als begrenzte das Meer an dieser Seite das Land. Die Frage, ob Festland oder Insel, mußte also immer noch unbeantwortet bleiben; dazu war eine weitere längere Reise nach Osten notwendig. Nach Norden zu erkannte Briant kein Ende des Vorlandes, nach Süden zu und hinter dem anderen Vorgebirge, das sich dort am Ende der Bai erhob, verlief die Küste von Nordosten nach Südwesten und begrenzte einen ausgedehnten Sumpf, der mit dem öden Vorland im Norden auffallend kontrastierte.

Briant schwenkte das Fernrohr nach allen Seiten. War er mit seinen Kameraden auf einer Insel oder auf einem Festland? War es eine Insel, so mußte sie ziemlich groß sein, mehr war vorläufig nicht auszumachen. Er wandte sich der Westseite zu. Das Meer glänzte unter den schrägen Strahlen der Sonne, die allmählich zum Horizont herabsank. Plötzlich fuhr er zusammen.

»Schiffe!!« rief er, »vorübersegelnde Schiffe!« Am äußersten Rand der Meeresfläche zeigten sich tatsächlich 3 schwarze Punkte. Briant war seltsam erregt. War er nur das Opfer einer Augentäuschung oder sah er dort wirklich Schiffe? Er konnte trotz größter Anstrengung weder Rauchsäulen noch Segel erkennen, nur die 3 dunklen Punkte auf der Linie zwischen Meer und Himmel. Aber diese Punkte bewegten sichnicht; es waren wohl nur 3 kleine Inseln, sagte sich Briant enttäuscht.

Jetzt war es 14 Uhr. Die Ebbe setzte bereits wieder ein und legte den seitlichen Klippengürtel frei. Briant mußte aufbrechen. Aber er wollte vorher noch einmal einen kurzen Blick nach Osten machen, wie um sich zu vergewissern, daß er auch nichts Entscheidendes übersehen habe. Er sollte diese Mühe nicht zu bereuen haben, denn jetzt sah er jenseits der Wälder deutlich eine bläuliche Linie, die sich von Norden nach Süden hin fortsetzte, eine Linie, deren Enden sich in den Wäldern verliefen.

»Was ist das?« fragte er sich.

Noch einmal blickte er scharf hinaus.

»Das Meer!... Ja ... das ist das Meer!«

Fast wäre ihm sein Fernrohr aus den Händen gefallen. Da, sich das Meer auch im Osten erstreckte, war jetzt jeder Zweifel beseitigt: dieses Land war kein Festland, sondern eine Insel, eine jener Inseln in der grenzenlosen Weite des Stillen Ozeans, von der sie wohl nie mehr fortkommen würden. Briants Herz krampfte sich bei diesen Gedanken zusammen, die Enttäuschung lahmte ihm all seine Glieder. Aber dennoch durfte er sich nicht niederdrücken lassen! Eine Viertelstunde später war Briant wieder zum Strand hinuntergestiegen, gegen 17 Uhr erreichte er die Sloughi, wo ihn alle mit Ungeduld erwarteten.

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