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Die Küste war verlassen, wie es Briant von der Raa des Fockmastes aus beobachtet hatte. Seit einer Stunde lag der Schoner nun schon am Ufer. Weder unter den am Uferrand wachsenden Bäumen noch neben der Riomündung sah man Häuser, Hütten oder auch nur Zelte. Kein Eingeborener war zu sehen. Nicht einmal eine Fußspur zeigte sich auf dem Sandstrand.

»Da wären wir also«, sagte Gordon, »immerhin etwas; ich würde nur gerne wissen, wo wir sind!«

»Hauptsache, dieses Land ist nicht ganz unbewohnt«, erwiderte ihm Briant, »für einige Zeit haben wir Vorräte und Munition. Was uns fehlt, ist ein anständiges Dach überm Kopf. Zumindest die Kleinen brauchen ein Obdach. Also, worauf warten wir?«

»Ja, du hast recht!«

»Wir werden noch genügend Zeit haben, um herauszufinden, wo wir gestrandet sind; zuerst mal etwas über den Kopf, dann weitersehen, nicht wahr? Wenn es Festland ist, hätten wir ja einige Aussichten auf Rettung, ist es jedoch eine Insel . . . eine unbewohnte Insel . . . aber wir werden sehen. Gehen wir auf Entdeckungsreise, Gordon.«

Beide Jungen erreichten schnell den Waldrand, der sich schräg zwischen dem Steilufer und der rechten Rioseite 300 bis 400 Schritt stromaufwärts hinzog. Im Unterholz fand sich ebenfalls keine Spur, weder ein Durchhau noch ein ausgetretener Fußpfad. Alte morsche Stämme lagen hie und da auf dem Boden, die beiden Jungen sanken bis ans Knie in den weichen Laubteppich ein.

In 10 Minuten hatten Briant und Gordon das Gehölz durchschritten, dessen Dichte an der felsigen Rückseite beträchtlich zunahm und zuletzt wie eine meterhohe Mauer aussah. Es wäre für die Schiffbrüchigen gut gewesen, hätten sie an dieser wind-und seegeschützten Mauerwand irgendeinen Überhang oder eine Grotte gefunden, aber sie entdeckten nicht einmal einen begehbaren Einschnitt, durch den sie weiter ins Innere des Festlandes oder der Insel vordringen konnten. Man mußte also wohl oder übel um das ganze Steilufer herumwandern.

Etwa eine halbe Stunde gingen die Kinder längs des Strandes nach Süden, dann hatten sie das rechte Ufer des Rio erreicht, der in vielen kleinen Windungen ostwärts verlief. Wuchsen hier auf dieser Seite noch Bäume und Gräser, so zeigte die andere nur eine fahle Ebene ohne jede Bodenerhebung. Man glaubte, einen ungeheuren Sumpf vor sich zu sehen, der sich bis hin zum südlichen Horizont ausdehnte. Enttäuscht darüber, das Land nicht von der Höhe des Steilufers aus überblickt zu haben, kehrten Briant und Gordon wieder zu ihren Kameraden zurück. Doniphan und einige andere liefen auf den Felsen herum, während sich Jenkins, Iverson, Dole und Costar mit dem Sammeln von Muscheln vergnügten. In einem Gespräch mit den Größeren erläuterten Briant und Gordon ihre Entdeckungen. Bevor diese Untersuchungen nicht weiter und erfolgreich ausgedehnt werden konnten, war es ratsam, den Schoner nicht zu verlassen. Dieser war zwar nicht mehr ganz heil, aber er konnte den Zöglingen durchaus noch als Wohnstätte dienen. Der Salon, die Küche sowie die übrigen Räume im hinteren Teil boten vorerst hinreichend Schutz gegen den Sturm.

Es war wirklich ein Glück, daß die Springflut die Sloughi über die Klippenbank hinweg auf den Strand geworfen hatte, wie hätten die Kinder sonst die Konserven, Waffen, Kleider und Geräte aller Art an Land schaffen sollen? Wenn der Schoner auch nicht wieder flottgemacht werden konnte, so war er doch immerhin bewohnbar geblieben, da sein Oberdeck allen Stürmen widerstanden hatte. Zwar würde er unter der Sonnen- und Regeneinwirkung langsam aus den Fugen gehen, aber bis dahin hoffte man, eine Stadt oder ein Dorf aufgefunden zu haben, von wo aus Hilfe geholt werden konnte. Die Kinder richteten sich also an Bord der Sloughi ein. Die am Backbord befestigte Strickleiter diente als Treppenaufgang zur Jacht. Moko und Service tischten bald eine herzhafte Mahlzeit auf, die allen guttat. Die kleinsten verfielen rasch wieder in ihre gewohnte Heiterkeit, nur Jacques hielt sich zurück. Die Veränderung seiner Verhaltensweise war unerklärlich, er selbst wich allen diesbezüglichen Fragen beharrlich aus. Stark ermüdet nach so vielen Tagen und Nächten legten sich die Kinder schlafen. Briant, Gordon und Doniphan wollten sich auf Wache ablösen, um einen möglichen Überfall von Eingeborenen oder einen Angriff wilder Tiere rechtzeitig abwehren zu können. Doch nichts geschah: die Nacht verlief ohne jede Störung und als die Sonne aufging, machten sich alle gestärkt wieder an die Arbeit. Zuerst war es nötig, sich Rechenschaft über die noch unverdorbenen Vorräte zu geben und dann die Waffen, Instrumente, Geräte, Werkzeuge, Kleidungsstücke und so weiter aufzunehmen. Die Ernährungsfrage schien am dringlichsten zu sein, da die Küste völlig verlassen schien. Aber vielleicht konnte man durch Fischen und Jagen, falls es hier eßbares Wild geben sollte, die Vorräte auffrischen. Ein Überschlag ließ erkennen, daß, abgesehen von dem in reichlichen Mengen vorhandenen Schiffszwieback, die Konserven, der Schinken, das Fleischbisquit, das Corned beef, Salzfleisch und die einzelnen Leckerbissen in Dosen nicht länger als 2 Monate ausreichen würden, selbst wenn man ausgesprochen sparsam damit umging. Es empfahl sich also von selbst, sofort auch auf die Erzeugnisse der Natur zurückzugreifen, um den Proviant zu schonen, besonders für den Fall, daß es irgendwann einmal notwendig werden würde, einige 100 km weiter landeinwärts zu ziehen, um eine Stadt zu erreichen.

»Ist nach unserer Strandung Meerwasser in den Schiffsrumpf eingedrungen?« fragte Baxter.

»Das werden wir erst merken, wenn wir die Kisten öffnen, die beschädigt worden sind«, sagte Gordon. »Man müßte die leicht verdorbenen Lebensmittel aufkochen, dann könnten wir sie nämlich noch verwenden.«

»Wird gemacht!« sagte Moko.

»Dann los, denn während der ersten Tage werden wir ohnehin gezwungen sein, unseren Vorrat anzubrechen.«

»Könnten wir nicht heute schon auf die Jagd gehen?« fragte Wilcox.

»Ja!. . .Ja!« riefen Dole und Costar.

»Warum nicht sofort fischen gehen. Wer will mit mir?« fragte Webb vorlaut.

»Ich . .. ich!« riefen die Kleinen.

»Aber nicht nur die Schnur baden, sondern vielleicht auch mal was ans Land ziehen.« »Wenn was anbeißt, gern!«

»Wir können Schaltiere fürs Frühstück sammeln«, schlug Service vor.

»Moko, du wirst Jenkins, Dole, Costar und Iverson begleiten, damit nichts passiert«, sagte Gordon. »Gehst du nicht mit, Jacques?« fragte Briant seinen Bruder.

»Nein!«

Sobald die Kleinen sich entfernt hatten, machten sich die Großen an die Bestandsaufnahme. Doniphan, Croß, Wilcox und Webb sichteten die Waffen, Kleider und Geräte, während Briant, Garnett, Baxter und Service berechneten, was an Getränken, an Wein, Bier, Brandy, Whisky und Gin, die sich in 10 bis 30 Gallonen enthaltenden Fäßchen im unteren Raum befanden, noch vorhanden war. Gordon trug die Zahlen dann in sein Notizbuch ein. Zuerst stellte sich bei dieser Inventur heraus, daß noch eine vollständige Ausstattung Segel und Takelwerk sowie Leinen, Seile und Taue an Bord waren; wäre also die Jacht noch flott, so hätte man sie sehr schnell wieder segelklar machen können. Aber immerhin konnte man einiges als Netze oder Zeltplanen verwenden. Was die Waffen betrifft, so konnte Gordon folgendes in sein Notizbuch eintragen: 8 Zentralfeuer-Jagdgewehre, eine Entenflinte und 12 Revolver, dazu kamen 300 Patronen für die Hinterlader, 2 Tonnen Pulver und eine große Menge Blei, Schrot und Kugeln. Die Pulverkammer enthielt daneben noch große Mengen Raketen, die man ausgezeichnet als Nachtsignale verwenden konnte, außerdem etwa 30 Kartuschen und Projektile für die beiden kleinen Bordkanonen, mit denen man sich unliebsame Gäste vom Leib halten konnte. Die Kisten und Koffer der Mannschaft enthielten so viele Kleidungsstücke, daß man sich bei Kälteeinbrüchen gut vermummen konnte. Auch das Bettzeug war noch vollständig erhalten. Von den Instrumenten war folgendes an Bord: 2 Aneroid-Barometer, 1 hundertteiliges Weingeist­Thermometer, 2 Schiffsuhren, mehrere Kupfertrompeten, 3 Fernrohre mit schwächerer und stärkerer Vergrößerung, 1 Deckkompaß im Häuschen und 2 tragbare Geräte, 1 Sturmglas, welches Unwetter ankündigt, mehrere englische Flaggen und ein Exemplar jener Halketts-Boote, die sich zu einem Reisesack zusammenfügen lassen, mit denen man jedoch leicht einen Fluß oder See überqueren kann. Die Werkzeuge waren ebenfalls fast vollständig, vom Nähfaden über die Schraube bis zu Feuerstählen, alles war intakt. Dazu kamen Land- und Seekarten, Bücher, Papier, Schreibfedern etc. Im Geldschrank der Jacht fanden die Kinder zudem noch eine Summe von 500 Pfund in Goldstücken.

Einige Zeit konnte man also doch berechtigte Hoffnung haben, zu überleben. Aber was, wenn sich eindeutig herausstellen sollte, daß sich die Kinder auf einer unbewohnten Insel befanden? Eine Reparatur der Jacht lag nicht mehr im Bereich des Möglichen, dazu waren die Kinder zu schwach ; auch der Gedanke an ein breites Floß wurde Verworfen. Wie sollte man ohne fremde Hilfe über den Stillen Ozean kommen?

Gegen Mittag kamen die Kleinen unter Mokos Führung wieder zur Sloughi zurück, sie brachten einen reichlichen Vorrat an Schaltieren mit. Eier mußte es auch geben, denn Moko erzählte von zahllosen eßbaren Felsentauben, die in den Spalten des hohen Steilufers nisteten.

»3 bis 4 Flintenschüsse genügen für Dutzende von Tauben«, sagte Moko begeistert, »und die Nester heben wir einfach aus, das dürfte mit Tauen und Hacken nicht sehr schwierig sein.«

»Einverstanden«, bemerkte Gordon, »vielleicht hat Doniphan Lust, schon morgen auf die Jagd zu gehen.«

»Mit Vergnügen. Webb, Groß, Wilcox, ihr begleitet mich doch dabei?!«

»Na klar«, kam es wie aus einem Mund.

»Ich empfehle euch jedoch«, wendete Briant ein, »nicht gleich aus allen Löchern zu knallen, «wir dürfen Pulver und Blei nicht unnütz vergeuden.«

»Schon gut«, murrte Doniphan, der solche Ermahnungen haßte, »wir nehmen nicht zum erstenmal ein Gewehr in die Hand, deine Ratschläge sind also völlig überflüssig.«

Da meldete Moko, daß das Frühstück fertig sei. Alle kletterten an Bord der Sloughi und nahmen im Speisesalon Platz. Bei der Schiffslage neigte sich die Tafel merklich nach Backbord, aber das belästigte keinen der Knaben. Man verschlang den Zwieback, das Corned beef und die Miesmuscheln in einem Rutsch, zum Abschluß gab es dann für jeden einige mit Wasser verdünnte Tropfen Brandy. Nachmittags machte man sich wieder an verschiedene Aufräumungsarbeiten, Jenkins und seine Freunde fischten im Fluß. Mit Ausnahme von Baxter und Wilcox, die auf Wache gingen, legten sich alle früh schlafen.

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