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Die Kolonie war also wieder vollzählig, ja sogar um ein Mitglied gewachsen. Von jetzt an herrschte unter den Kindern wieder volles Einverständnis. Doniphan hatte den Ärger verwunden, nicht Oberhaupt von French-den zu sein, aber was bedeutete ein solcher Posten angesichts der drohenden Gefahr! Auch Wilcox, Webb und Croß ordneten sich willig der Gemeinschaft unter. Da sich Doniphan mit Briant ausgesöhnt hatte, sahen auch sie keinen Grund zum Widerstand gegen die Kameraden mehr. French-den war ernstlich bedroht!

Walston und Konsorten würden die Insel nach Spuren menschlicher Behausung absuchen. Wußten sie erst, daß sich hier nur einige Jungen aufhielten, die sich nach und nach alles Lebensnotwendige erarbeitet hatten, sie würden keinen Moment zögern, die Kolonie auszurotten. Ihnen mußte natürlich daran gelegen sein, Mittel und Wege zu finden, die Insel so rasch wie irgend möglich zu verlassen.

Die Kolonisten mußten sich jetzt radikalen Vorsichtsmaßregeln unterwerfen, sie durften sich nicht mehr vom Rio Sealand entfernen und auf dem Family-lake nicht mehr rudern.

»Habt ihr auf eurem Rückweg von den Severn- shores zum Bear-rock nichts Verdächtiges bemerkt, was auf die Anwesenheit der Schurken schließen läßt?«

»Nichts«, antwortete Doniphan.

»Dann scheint es sicher, daß Walston nach Osten gezogen ist«, bemerkte Gordon.

»Schon möglich, aber er hat dann an der Küste wandern müssen, während wir direkt durch den Beechs-forest gekommen sind. Nehmt die Karte zur Hand! Da seht ihr, daß die Insel oberhalb der Deception-Bai einen starken Bogen macht. In diesem Gebiet könnten die Schurken sich gut verstecken, ohne sehr weit von der gestrandeten Schaluppe zu sein. Halt! Da fällt mir etwas ein! Vielleicht kann uns Kate sagen, wo die Insel Chairman liegt!«

Gordon hatte diese Frage an Kate bereits vor Stunden gestellt, auch sie wußte nichts. Nach dem Brand auf der Severn und nachdem Steuermann Evans die Schaluppe übernommen hatte, war er bemüht gewesen, die Küste Amerikas zu erreichen.

»Ich nehme an, daß unsere Insel nicht weit vom amerikanischen Festland entfernt liegt, aber mehr weiß ich leider auch nicht«, sagte Kate etwas traurig.

»Kombinieren wir weiter: die verschiedenen Inselgruppen vor der Küste liegen ziemlich nahe beieinander. Also werden Walston und die anderen versuchen, irgendein Boot zu bauen oder sogar ihre Schaluppe wieder seetüchtig zu bekommen. Demnach liegt ihnen natürlich daran, auf dem nördlichen Teil der Insel zu bleiben.«

»Nur vorausgesetzt, daß er keine Spuren deines Ausfluges entdeckt, Doniphan!«

»Welche Spuren denn? Vielleicht ein Häuflein Asche? Was sollten sie daraus schließen!? Daß die

Insel bewohnt ist? In diesem Fall werden sie sich verstecken!«

»Glaub ich auch, es sei denn, sie entdecken, daß die Bewohner dieser Insel Jungens sind! Verhalten wir uns also ruhig und vorsichtig, damit sie nicht herausbekommen, daß sie uns überlegen sind.«

»Allerdings wissen wir, mit dem Revolver umzugehen!«

»Unser Glück!«

»Doniphan, hast du während eurer Rückreise Flintenschüsse abgegeben?«

»Ausnahmsweise nicht, denn sonst kommt es mir ja aufs Pulver nicht so genau an! Wir waren mit eßbarem Wild so eingedeckt, daß es sich erübrigte.«

»Ich verbiete allen für die nächste Zeit das Schießen, kein Ausflug in die Traps-woods, wir leben ausschließlich von unseren Vorräten«, befahl Briant.

Der Oktober ging langsam zu Ende, ohne daß sich Walston durch irgend etwas verraten hätte. Hatten die Schurken die Schaluppe bereits wieder ausgebessert und waren von hier abgefahren? Kate erinnerte sich, daß sie im Besitz einer Axt und einiger starkklingiger Messer waren. An Holz fehlte es in der Nähe der Severn-shores nicht.

Doniphan und Baxter waren kurz einmal auf den Auckland-hill gestiegen, um von dort oben aus mit dem Fernrohr Ausschau zu halten. Aber keine Rauchsäule verriet die Anwesenheit der Schurken. Seit die Jagd eingestellt werden mußte, waren die Siedler ganz auf die Fallen und Schlingen angewiesen; außerdem hatten sich die Tinamus und die Trappen auf dem Hühnerhof so vermehrt, daß einige guten Gewissens geschlachtet werden konnten. Zucker und Tee waren reichlich vorhanden, auch mit Öl hatte man sich bei der zurückliegenden Robbenjagd eingedeckt. Nur Brennmaterial mußte ab und an geholt werden, aber das bedeutete keine ernsthafte Gefahr für die Kolonie.

In jener Zeit machte Kate eine wichtige Entdeckung. Am Rande der Bog-woods standen einige Bäume, denen die Jungen bisher keine rechte Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Als Kate diese Bäume sah, rief sie: »Ah, das sind ja Kuhbäume!«

Dole und Costar kicherten sofort drauflos. »Kuhbäume?«

»Ich wußte nicht, daß Kühe auch Bäume fressen!«

»Nein, nein, ihr kleinen Papooses, diese Bäume geben Milch, deshalb nennt man sie Kuhbäume.«

Kate machte Gordon auf diese Entdeckung aufmerksam, der setzte sich sofort mit Service in Verbindung. Die beiden gingen zu den Kuhbäumen.

»Ein Einschnitt genügt, um den milchähnlichen Saft zu bekommen!«

»Dann können wir endlich auch einmal Käse herstellen.«

»Und, du wirst es nicht glauben, man kann daraus auch sehr schöne Kerzen drehen!« »Also melken wir diese Bäume.«

Nach einigen Einschnitten waren bald 2 Pinten reinen Kuhbaumsaftes gewonnen. Moko war glücklich, wieder einmal etwas Abwechslung in den Küchenzettel bringen zu können.

»So ein Dreck, daß wir nicht mehr allein sind! Welche Entdeckungen hätten wir noch machen können, wenn wir ungestört auf Ausflüge gehen könnten.«

»Abwarten, Doniphan, wie sich die Dinge entwickeln.«

Anfang November! Noch immer keine verdächtigen Spuren der Verbrecher! Doniphan hatte damals gesehen, wie zerborsten die Schaluppe der Severn am Strand gelegen hatte, er glaubte nicht daran, daß die Schurken die Insel schon wieder verlassen hatten. Allerdings hatten sie Steuermann Evans in ihrer Gewalt, der vielleicht wußte, daß Festland in der Nähe war. Sie würden möglicherweise auch mit einer notdürftig reparierten Schaluppe die Überfahrt wagen.

»Bevor die gewohnte Lebensweise wieder aufgenommen werden kann, müssen wir ganz sicher sein, daß keine Gefahr droht«, sagte Briant. Briant hegte insgeheim den Gedanken, selbst einmal zur Nordküste zu gehen, um nachzuschauen. Aber Gordon sprach sich jedesmal so entschieden gegen solche Kami-kaze- Unternehmen aus, daß Briant derartige Gedanken fallenließ. Da machte Kate eines Tages einen Vorschlag.

»Herr Briant, gestatten Sie mir, die Kolonie morgen mit Tagesanbruch zu verlassen?«

»Uns verlassen, Kate?«

»Sie können doch nicht immer in dieser schrecklichen Ungewißheit bleiben, ob Walston nun noch da ist oder nicht! Deshalb will ich zur Küste schleichen, um nachzuschauen, ob die Schaluppe noch am Strand liegt.«

»Sie wollen also ausführen, was wir uns die ganze Zeit verkniffen haben?«

»Herr Doniphan, für mich ist es nicht so gefährlich!«

»Und wenn Sie Walston in die Hände laufen, was dann? Sie haben ja mit eigenen Ohren gehört, was Ihnen blüht, wenn er Sie entdeckt, und da wollen Sie sich für uns opfern?«

»Nun, dann bin ich eben in der gleichen Lage wie zuvor.«

»Walston knallt Sie ab, ohne mit der Wimper zu zucken, das wissen Sie doch.«

»Ich bin schon das erste Mal entkommen, warum sollte ich nicht auch ein zweites Mal Glück haben? Vielleicht kann ich sogar mit Evans gemeinsam fliehen, das wäre für French-den doch wunderbar!«

»Wenn Evans eine Möglichkeit zur Flucht gehabt hätte, wäre er längst abgehauen.«

»Glaub ich auch, daß Evans fest bewacht wird und nicht fliehen kann. Er kennt ja die Absicht der Schurken und weiß, daß er bei der erstbesten Gelegenheit abgeknallt wird.« »Vielleicht hat er einen Fluchtversuch bereits mit dem Leben bezahlt, wer weiß!«

»Glauben Sie mir, meine Herren, ich werde aufpassen wie ein Schießhund!«

»Das überzeugt mich nicht. Wir müssen ein weniger gefährliches Mittel ersinnen, um ausfindig zu machen, ob Walston noch auf der Insel sein Unwesen treibt.«

Kate fügte sich den Bedenken der Jungen. Man versuchte deshalb, andere Möglichkeiten durchzuprobieren. Wiederholt waren Doniphan, Briant und Moko bei Dunkelheit mit der Jolle auf den Family-lake hinausgerudert, ohne aber auch nur ein Feuer oder eine Rauchsäule entdecken zu können, geschweige denn die Schurken selbst. Briant grübelte Tag und Nacht über eine Möglichkeit nach, sich über den Verbleib der Gangster Gewißheit zu verschaffen. Plötzlich kam ihm eine verwegene Idee, die er anfangs gar nicht auszusprechen wagte. Viele Male hatten sich einige der Kinder zum Gipfel des Auckland-hill begeben, jedesmal ohne den geringsten Erfolg. Man mußte sich irgendwie noch höher erheben können, um eine bessere Sicht zu haben. Wir wissen, daß das Drachenprojekt seinerzeit unterbrochen worden war. Die Jungen hatten nach der Auffindung Kates auf dieses Unternehmen verzichtet, denn ein solcher Apparat wäre ja weithin sichtbar gewesen. Wie aber, wenn man diesen Drachen für kurze Zeit als Aussichtsplateau benutzte?! Briant erinnerte sich, in einer englischen Zeitschrift gelesen zu haben, daß gegen Ende des letzten Jahrhunderts eine Frau so kühn gewesen war, sich mit einem Drachen in die Lüfte hinaufzuwagen. Konnte man das nicht auch probieren? Daß es ein lebensgefährliches Unternehmen war, kümmerte ihn augenblicklich nicht. Das Risiko war gegenüber den möglichen Erfolgen verschwindend gering. Man mußte eben nur alle möglichen Sicherheitsvorkehrungen zuvor treffen, dann würde dieser tollkühne Versuch gelingen. Briant zweifelte nicht an seinem guten Stern. Der Start mußte nachts erfolgen, so konnte man vielleicht mit dem Fernrohr den Schein eines Lagerfeuers ausfindig machen. Briant setzte also seine Kameraden von seiner Idee in Kenntnis. »Ich möchte den Drachen, den wir vor einiger Zeit gebaut haben, benützen.«

»Was meinst du damit?« fragte Wilcox kopfschüttelnd. »Ich setze voraus, daß wir ihn zu diesem Zweck angefertigt haben!«

»Am hellichten Tag willst du den Drachen steigen lassen?«

»Nein, Baxter, natürlich nachts, damit ihn Walston nicht erkennen kann.«

»Wenn du eine Laterne dran hängst, wird er ihn aber wahrnehmen.«

»Dann hänge ich eben keine Laterne dran.«

»Wozu denn das Ganze?« fragte Gordon unruhig. »Ich möchte wissen, ob die Mannschaft vom Severn noch hier ist!«

Briant erläuterte nun sein Projekt. Seine Kameraden hörten aufmerksam zu, keiner fand diese Idee komisch oder zu wagemutig, sie wußten, daß sie in einer so deprimierenden Lage zu ausgefallenen Dingen greifen mußten. Außerdem lebten sie seit über einem Jahr in permanenter Gefahr!

»Wie steht es aber mit dem Gewicht eines von uns im Vergleich zum gebauten Drachen?«

»Wir werden ihn vergrößern müssen, das ist klar.«

»Kann denn der Luftwiderstand so groß sein?«

»Sicher!«

»Das ist bewiesen. Ich habe von einem solchen Projekt gelesen, damals schwebte eine Frau in den Lüften. Alles hängt von den Größenverhältnissen des Apparates und von der Windstärke ab.«

»Ich habe es gründlich satt«, entrüstete sich Service plötzlich, »hier in French-den festzuhocken, nur weil ein paar Wildwesthelden hier gestrandet sind. Machen wir uns an das von Briant erdachte Projekt!«

»Service hat recht, ich möchte endlich wieder einmal mit der Flinte schießen, sonst verlerne ich es noch, wenn es darauf ankommt.«

Als Briant mit Gordon allein war, wurde er von ihm gefragt : »Ist denn das dein Ernst?«

»Gordon, ich will es versuchen!«

»Und wer setzt dabei sein Leben aufs Spiel?«

»Wird sich zeigen!«

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