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Am nächsten Tag zeigte Evans den Jungen die Meerenge auf dem Stielerschen Atlas.

»Die Magellan-Straße reicht vom Cap der Jungfrauen im Atlantischen Ozean bis zum Cap Los Pilares im Stillen Ozean. Sie ist kürzer als die Lemaire-Straße zwischen Staatenland und Feuerland, und weniger stürmisch. Magellan hat sie 1520 entdeckt! Während eines halben Jahrhunderts waren die Spanier die alleinigen Herrscher in diesen Gebieten. Sie gründeten auf der Halbinsel Braunschweig den sogenannten Hungerhafen. Den Spaniern folgten die Engländer unter Drake, Cavendish, Chidley und Hawkins, dann kamen die Holländer unter de Weert, de Cort, de Noort mit Lemaire und Shouten, die im Jahre 1610 die andere Meerenge entdeckten. Von 1696 bis 1712 waren die Franzosen unter Degennes, Beauchesne-Gunin und Frenzier an der Reihe. Seit dieser Zeit besuchten viele berühmte Seefahrer diese Gegenden, allen voran Anson, Cook, Byron und Bougainville. Die Magellan-Straße wurde zum beliebten Weg bei der Fahrt von einem Ozean zum anderen, besonders seit der Dampfschiffahrt!«

Die Kinder hörten aufmerksam zu.

»Was wir in den letzten, aufregenden Tagen versäumt haben, haben wir jetzt durch die Erläuterungen Evans' wieder nachgeholt«, sagte Gordon, immer bedacht, daß das von ihm entworfene Programm auch tatsächlich eingehalten wurde.

»Patagonien ist die äußerste Provinz Südamerikas, das König-Wilhelms-Land und die Halbinsel Braunschweig die nördliche Begrenzung dieser Meerenge. Im Süden ist die Straße durch den Magellan-Archipel abgeschlossen, dazu gehören Feuerland, Desolations-Land, die Inseln Clarence, Hoste, Gordon, Navarin, Wollaston und Stevart, um nur die größeren zu nennen. Zwischen dem Cap der Jungfrauen, das zu Patagonien gehört, und dem Cap Espiritu-Santo, das zu Feuerland gehört, schneidet die Magellan-Straße tief in das Festland ein. Im Westen liegen die Dinge wieder anders : hier reihen sich Inseln, Archipele und Riffe aneinander. Mit der zwischen dem Vorgebirge Los Pilares und der Südspitze der großen Insel der Königin Adelaide gelegenen Durchfahrt mündet die Meerenge in den Stillen Ozean.«

»Puh, das ist wirklich kompliziert!« sagte Service. »Und seht nur hier, die Insel jenseits der Magellan-Straße, die durch einfache Kanäle von der Insel Cambridge im Süden und von den Inseln Madre de Dios und Chatam im Norden eingeschlossen ist, diese Insel auf dem 51. Grad südlicher Breite ist Hannover, die ihr Chairman getauft habt. Hier habt ihr länger als 20 Monate gehaust.«

Alle beugten sich neugierig über den Atlas. »Wir sind also nur durch einen Meeresarm von Chile getrennt?«

»So ist es, Herr Gordon! Zwischen der Insel Hannover und dem amerikanischen Festland liegen noch einige ebenso verlassene Inseln wie diese. Wärt ihr mit eigenen Kräften auf das Festland gekommen, so hättet ihr freilich bis zur nächsten menschlichen Behausung noch lange wandern müssen. Außerdem wohnen in diesen Gegenden die Puelche-Indianer, die den Schurken um Walston in nichts nachstehen. Also war es doch nicht schlecht, daß ihr euch hier so komfortabel eingerichtet habt.«

»Na ja, aber jetzt reicht's mit dieser Kolonie, versuchen wir, bald nach Neuseeland zu kommen«, sagte Briant, unruhig geworden durch die genauen Erläuterungen Evans'.

»Warum aber haben wir die umliegenden Inseln nicht mit den Fernrohren entdecken können?« fragte Gordon.

»Ganz einfach, sie sind sehr flach.«

»Vielleicht standen wir zufälligerweise immer an den falschen Stellen!«

»Was ich nicht verstehe«, sagte Evans, »warum hat der schiffbrüchige Franzose, der die Umrisse der Insel Hannover doch so genau verzeichnete, die umliegenden Inseln nicht wahrgenommen? Im Gegensatz zu euch, muß er doch an allen Stellen der Insel gewesen sein?«

»Lassen wir das Rätselraten«, schlug Briant vor, »jetzt haben wir Sie zur Verstärkung in French-den, außerdem liegt beim Bear-rock eine Schaluppe, mehr können wir nicht verlangen. Schaffen wir uns jetzt die Halunken vom Hals!«

»Angenommen, wir haben sie schon erledigt, angenommen auch, die Schaluppe ist fahrbereit, was dann?« fragte Gordon.

»Ich würde dann weder nach Norden noch nach Osten fahren. Je weiter wir mit dem Boot gelangen, desto besser für uns. Bei günstigem Wind könnten wir bis zu einem der Häfen Chiles kommen, aber dort ist die See ziemlich rauh. Die Kanäle durch den Archipel sind da weit günstiger.«

»Aber werden wir in diesen Gebieten auf Menschen treffen, die uns die Heimfahrt nach Auckland erleichtern?«

»Ich zweifle nicht daran. Betrachtet nur einmal diese Karte. Wenn wir die Durchfahrt des Archipels der Königin Adelaide hinter uns haben, kommen wir durch den Smyth-Kanal, und von dort in die Magellan-Straße. Hier liegt auch gleich der Hafen Tamar, der zu Desolations-Land gehört.«

»Aber wenn da keine Schiffe vor Anker liegen?«

»Die Magellan-Straße etwas weiter unten, bei der Halbinsel Braunschweig, hinter der Fortescue- Bai, im Hafen Galant, da legen sehr häufig Schiffe an. Sollte auch da keine Möglichkeit zur Heimfahrt sein, so fahren wir eben noch weiter .. .«

»Macht ja nichts .. .« spottete Gordon.

»Ganz recht, hier finden wir viele Ankerplätze: Port Famine, Punta-Arena, die Station Livya auf der Insel Navarin, Oosho-via im Beagle-Kanal unterhalb Feuerlands, usf.«

»Ausgezeichnet, Master Evans! Jetzt brauchen wir nur noch die Schaluppe!«

»Hätte er sie nur dort gelassen, wo sie anfänglich lag, dann wären wir schneller und gefahrloser drangekommen.«

»Dieser Knoten ist nur durch Gewalt und List lösbar!«

»Walston und seine Genossen sind auch keine Anfänger, laßt euch das gesagt sein!«

»Zeigt mir die Waffen und die Munition«, sagte Evans, »ich muß ja schließlich wissen, auf was wir uns stützen können.«

»Ich zeige Ihnen auch die genaue Lage von French-den, damit Sie sehen, wie wir uns am besten verteidigen können«, schlug Briant vor.

Die Wandöffnungen gestatteten völlige Deckung. Mit ihren 8 Gewehren konnten sie die Angreifer auf Abstand halten und mit den beiden kleinen Kanonen würde man sie in den Boden hauen, wenn sie sich heranwagen sollten. Kam es zu einem Handgemenge, so gab es immer noch die Revolver. »Gut, daß ihr hier innerhalb der Höhle so viele Steine angehäuft habt, damit können wir die Türen verbarrikadieren, wenn Not am Mann ist«, lobte Evans.

»6 Jungen und 1 Mann gegen 7 kräftige Burschen, das wird sicherlich kein Spaziergang!«

»Sie sind also auch nicht gerade hoffnungsfroh!«

»Wir werden es schon schaffen, wenngleich ich natürlich weiß, wie gefährlich die Angreifer sind«, sagte Evans.

»Forbes ist nicht so schlimm wie die anderen«, mischte sich da Kate ein.

»Was macht das schon, der ballert auch mit und tötet auch, wenn's sein muß. Da ist kein Unterschied, liebe Kate! Der Schurke hat mich wie verrückt verfolgt und sogar auf mich geschossen. Forbes verschont keinen von uns!«

Evans wunderte sich nach einigen Tagen, daß bisher noch kein Vorstoß auf French-den erfolgt war, er hatte ja die Pläne Walstons mit anhören können.

»Vielleicht ändern sie die Taktik! Sie werden es möglicherweise mit List statt mit Gewalt versuchen!«

»Aber wie?«

»Solange wir uns in der Höhle aufhalten, ist Walston gezwungen, die ganze Bude zu stürmen. Das ist nicht einfach. Er wird also zu einer List greifen, die mir eben durch den Kopf geht. Kate und ich sind die einzigen Personen, durch die ihr von einem Angriff auf French-den erfahren haben könnt. Nun hält uns Walston aber für tot. Kate ist für sie bei der Strandung ertrunken, ich vorschriftsmäßig im Rio. Ich habe ja mit angehört, wie Forbes und Rock zurückgegangen sind. Das ist aber nun unser großer Vorteil! Walston nimmt an, daß ihr von ihrerAnwesenheit nichts wißt, deshalb werden sie wahrscheinlich die armen, bescheidenen Schiffbrüchigen spielen, um hier hereinzukommen.«

»Der Plan ist nicht schlecht, muß ich zugeben«, sagte Briant. »Wenn sie unsere Gastfreundschaft beanspruchen, werden wir ihnen einige harte Bleikugeln in den Magen schießen, für den Hunger!« sagte Doniphan.

»Nein, vielleicht ist es besser, zuerst mitzuspielen und die Mützen zu ziehen«, schlug Gordon vor.

»Großartig! List gegen List«, sagte Evans bewundernd, »wir müssen ebenso klug vorgehen wie die anderen.«

Der Vormittag des folgenden Tages verlief ruhig. Begleitet von Doniphan und Baxter, wagte sich Evans in die Nähe der Traps-woods, wo alle 3 hinter dicken Bäumen am Fuße des Auckland-hill Deckung suchten. Phann, der sie begleitete, schlug nicht an. Die Luft war also noch rein. Gegen Abend jedoch kurz vor Sonnenuntergang, meldeten die Wache schiebenden Webb und Croß 2 Männer, die auf French-den zukamen. Kate und Evans zogen sich in den Materialraum der Höhle zurück, um nicht gesehen zu werden. Von dort aus spähten sie durch die Schießscharten und erkannten kurz darauf Rock und Forbes.

»Unser Instinkt hat uns nicht betrogen, sie versuchen es also doch mit List!«

»Was sollen wir jetzt machen?« fragte Briant.

»Nehmt sie hier auf.«

»Ich kann das nicht.«

»Laß, ich werde es tun«, erbot sich Gordon.

»Nichts von unserer Anwesenheit verraten. Kate und ich werden uns schon zeigen, wenn es Zeit ist.«

Gordon und Baxter gingen langsam zum Ufer des Rio Sealand.

Beide gaben sich höchst verwundert, als sie die Schurken erblickten.

»Wer seid ihr?« rief Gordon ihnen zu.

»Schiffbrüchige, die im Süden dieser Insel mit der Schaluppe des Dreimasters Severn gestrandet sind.«

»Engländer?«

»Nein, Amerikaner!«

»Und eure Gefährten?«

»Alle tot! Nur uns gelang es, zum Strand zu kommen. Und wer seid ihr?«

»Die Kolonisten der Insel Chairman!«

»Wir bitten euch um Mitleid und gastfreundliche Aufnahme, wir haben alles verloren.«

»Seid willkommen!« heuchelte Gordon.

Gordon gab Moko ein Zeichen, mit der Jolle überzusetzen und die beiden Schurken herüberzuholen. Sie sahen wirklich furchterregend aus mit ihren niedrigen Stirnen und den weit vorstehenden Kieferknochen.

»Können wir diese Nacht bei euch unterkommen?« fragte Rock. »Selbstverständlich, tretet nur ein!«

Man merkte den beiden Schurken an, daß sie über die an der Wand lehnenden Waffen und die Munitionskisten sehr erstaunt waren, aber sie stellten keine Fragen. Die jungen Kolonisten spielten also ihre Rolle weiter, da Rock und Forbes darum gebeten hatten, sich auf den Matratzen niederlegen zu dürfen.

»Habt ihr vielleicht noch so einen Raum wie diesen?« fragte Rock.

»Ja, der dient uns als Küche! Dort könnt ihr euch ausruhen!«

Sie gingen hinein und legten sich auf den Boden. Aber sie blieben nicht allein, Gordon hatte Moko zu ihnen geschickt, er sollte sie unauffällig beobachten. Er merkte bald, daß die beiden nur ein Auge zudrückten, mit dem anderen aber zur Tür spähten. Briant und die anderen waren in der Halle geblieben. Jetzt gesellten sich auch wieder Kate und Evans zu ihnen. Alles war so gekommen, wie es der Steuermann vorhergesehen hatte.

»Walston wartet jetzt nur auf den günstigsten Augenblick, um hier einzudringen«, flüsterte Evans.

2 Stunden vergingen. Moko fragte sich schon, ob die beiden den Angriff nicht vielleicht auf morgen verschoben hatten, als seine Aufmerksamkeit durch ein leichtes Geräusch erregt wurde. Im trüben Schein der Lampe sah er Rock und Forbes zur Tür schleichen. Sie begannen, die Steine einzeln abzutragen. Als sie damit gerade fertig waren, legte sich auf Rocks Schulter eine Hand. Blitzschnell drehten sich beide um. »Evans!! Du hier??! «

»Hierher, Jungs«, rief der Steuermann.

Forbes wurde von Baxter, Doniphan, Briant und Wilcox gepackt und zu Boden geworfen. Rock wehrte sich gegen Evans. Der Steuermann hatte sein Messer gezückt, traf aber Rock nur leicht am Oberarm. Rock entkam durch die jetzt aufgesprungene Tür. Er war noch keine 10 Schritte weit, als plötzlich ein Schuß krachte. Kein Aufschrei war zu hören.

»Verdammt. Ich habe danebengeschossen«, fluchte Evans. Da stürzte er sich mit dem Messer auf Forbes. »Gnade! Gnade!« winselte der

Schurke. Evans wollte zustechen, als Kate ihn am Arm zurückhielt.

»Evans, gewährt ihm das Leben, er hat auch mich gerettet!«

Evans steckte sein Messer zurück in die Scheide und nickte kurz. Sicher gefesselt wurde Forbes in eine der Nebenkammern gesperrt.

»Versperrt wieder alle Türen«, befahl Evans.

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