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Nach der von Moko zufällig beobachteten Szene hielt es Briant für gut, niemandem, auch nicht Gordon, davon etwas mitzuteilen. Was den Ausflug zur Küste betraf, so erzählte er den in der Halle versammelten Kolonisten alle Vorkommnisse ausführlich.

»Also auch dort kein Land. Sicherlich war der von uns dreien gesehene weißliche Fleck nur eine Täuschung. Wir müssen jetzt als sicher annehmen, daß die Insel Chairman weit entfernt von jeglicher Küste oder einer anderen benachbarten Insel liegt.«

Die anderen Jungen hörten dieser Schlußfolgerung stumm und sehr enttäuscht zu. Also keine Hoffnung mehr, daß sie doch noch gefunden wurden!

»Nehmen wir den Kampf ums Dasein wieder auf«, erklärte Gordon, »es bleibt uns keine andere Wahl, wir müssen auch ohne die Hoffnung auf baldige Rettung versuchen, so lange wie möglich zu überleben, d. h. so lange wie möglich so gut wie möglich zu leben.«

»Versuchen wir, uns besser als im Vorjahr auf den kommenden Winter vorzubereiten.«

Briant widmete sich dieser Aufgabe mit noch größerer Anstrengung als bisher - aber es fiel auf, daß er seit der Rückkehr vom East-river weniger mitteilsam geworden war und gleich seinem Bruder schweigsamer. Er hielt sich öfter als zuvor von den Vergnügungen der anderen fern. Gordon beobachtete, wie Briant seinen Bruder Jacques überall, wo er nur konnte, in den Vordergrund schob, daß er ihn für besonders schwere und Mut erfordernde Arbeiten auswählte, wozu Jacques immer und spontan bereit war.

»Irgend etwas ist zwischen den beiden vorgefallen, aber was?« fragte sich Gordon.

Der Februar verstrich unter gewöhnlichen Arbeiten. Als Wilcox die Rückkehr der Lachse zum Süßwasser des Family-lake meldete, spannten die Jungen ein großes Netz quer durch den Rio Sealand und fingen eine ungeheure Anzahl Fische. Damit sie konserviert werden konnten, brauchte man sehr viel Salz. Deshalb unternahmen Baxter und Briant mehrere Ausflüge zur Sloughi-Bai, wo sie einen kleinen Salzsumpf anlegten. Durch Verdunsten des Wassers kristallisierte sich aus dem Meerwasser Salz heraus, das dann nur noch eingesammelt und nach French-den gebracht werden mußte.

Überhaupt waren die Jungen während der ganzen Zeit damit beschäftigt, die Vorräte an Wild, Fett, Gemüse und Brennmaterial zu vervollständigen, damit sie während der Wintermonate nicht aus der Höhle herausmußten.

Gordon achtete darauf, daß auch die Programmpunkte wie Sport und Unterricht in Mathematik, Erdkunde und Geschichte peinlich genau eingehalten wurden. Doniphan prahlte während der zweimal wöchentlich angesetzten Diskussionsabende so offensichtlich mit seiner unbezweifelbaren rhetorischen Begabung, daß er sich dadurch viele Freunde verdarb. Dennoch rechnete er fest damit, nach Ablauf der Amtsperiode Gordons zum Oberhaupt der Kolonie gewählt zu werden. Wilcox, Webb und Croß bestärkten ihn noch in seinen Vorstellungen, daß keiner der Jungen so gut für diesen Posten geeignet sei wie gerade er. Sie machten auch schon unter den Kleineren der Kolonie »Stimmung« für ihn. Aber Doniphan hatte nicht die Mehrzahl der Kolonisten auf seiner Seite. Gordon durchschaute natürlich, was da in der Luft lag, bemühte sich aber keineswegs, obwohl noch einmal für ein Jahr wählbar, noch einmal um diesen schweren, verantwortungsreichen Posten. Sein etwas hartes, entschiedenes Auftreten hatte ihm nicht die Gunst seiner Kameraden eingetragen oder bewahrt, und genau das wußte Doniphan. Was die Kleinsten Gordon besonders verübelten, war seine Sparsamkeit bezüglich süßer Speisen und anderer Delikatessen. Außerdem hatte er sie zu oft ermahnt, besser auf ihre Kleider und Schuhe achtzugeben, das verärgerte besonders die leidenschaftlichen Fußballspieler. Und wieviel Vorwürfe gab es über die verlorenen oder auch nur abgerissenen Knöpfe! Bei solchen Streitereien trat Briant öfters als Fürsprecher der Kleinen auf, was ihm natürlich viele Sympathien eintrug. Ferner wußten sie ganz genau, daß die beiden Küchenchefs Moko und Service immer zu Briant hielten, wenn er also zum Oberhaupt der Insel Chairman gewählt werden würde, gäbe es möglicherweise öfters Leckerbissen als unter dem Patronat Gordons.

Briant selbst interessierten diese ganzen, meist heimlich geführten Debatten überhaupt nicht; ihm war relativ gleichgültig, wer zum nächsten Oberhaupt gewählt wurde, an der derzeitigen Lage würde das nichts ändern! Das Jahr, für welches Gordon gewählt worden war, ging am 10. Juni zu Ende. Schon Tage zuvor herrschte in French-den eine eigenartig erregte Atmosphäre, es bildeten sich kleinere Diskussionsgruppen, vertrauliche Besprechungen, heimliche Zusammenkünfte fanden statt. Gordon hielt sich abseits, er wollte ohnehin nicht mehr kandidieren. Was Briant betrifft, so war er viel zuviel Franzose, als sich nach einem solchen Posten die Finger zu lecken, er wollte keine Kolonie führen, deren Mitglieder in der Mehrzahl Engländer waren. Besorgt und einigermaßen aufgeregt war nur Doniphan. Mit seiner außergewöhnlichen Intelligenz und seinem von keinem der Kinder bezweifelten Mut hätte er an sich gute Chancen gehabt, wären nicht die minderen Charakterqualitäten wie Herrschsucht und Neid gewesen, die ihm so viele Feinde eintrugen. Was er nicht offen tun konnte, erledigten für ihn seine Freunde Wilcox, Croß und Webb mit übergroßem Eifer; sie versuchten, ihre Kameraden davon zu überzeugen, daß es keinen besseren gab als Doniphan.

Am Nachmittag des 10. Juni sollte der Wahlgang stattfinden. Jedes der Kinder schrieb einen Namen auf einen Zettel; die Majorität sollte den Ausschlag geben. Da die Kolonie 15 Mitglieder zählte, mußte eine Zahl über 8 zur Wahl des Oberhauptes genügen.

Als die Stimmzettel geöffnet wurden, ergab sich folgendes Resultat:

Briant - 9 Stimmen

Doniphan - 3 Stimmen

Gordon - 1 Stimme

Weder Gordon noch Doniphan hatten sich an der Wahl beteiligen wollen, Briant hatte seine Stimme Gordon gegeben. Doniphan war sauer, als er das Endergebnis erfuhr. »Nimmst du die Wahl an?« fragte ihn Gordon.

»Ich nehme die Wahl an«, sagte Briant.

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