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Zur Zeit unserer Geschichte war die Pension Chairman eine der angesehensten Schulen in Auckland, der Hauptstadt der englischen Kolonie Neuseeland. Etwa 100 Kinder aus den besten Familien des Landes wurden hier erzogen und ausgebildet. Für die Maoris, den Eingeborenenstamm der Inselgruppe, standen andere, weniger vornehme und gründliche Erziehungsanstalten bereit. Die Pension Chairman besuchten nur junge Engländer, Franzosen, Amerikaner und Deutsche, ausnahmslos Söhne reicher Plantagenbesitzer, Kaufleute, Rentiers oder Beamter. Am 15. Februar 1860 begannen in Auckland die Ferien: 2 Monate Unabhängigkeit, 2 Monate Freiheit! Eine kleine, ausgesuchte Zahl der Chairman-Zöglinge durfte sich jetzt auf eine Seereise, eine Umsegelung Neuseelands an Bord der luxuriösen Jacht Sloughi freuen. Der von den betreffenden Eltern gecharterte Schoner war für eine 6wöchige Reise ausgerüstet worden, er gehörte dem Vater von Garnett, M. William Garnett, ehemals Kapitän der Handelsflotte, einem erfahrenen Mann also, dem man sich anvertrauen konnte. Die Zöglinge, die an der Fahrt der Sloughi teilnehmen durften, gehörten verschiedenen Abteilungen der Pension Chairman an. Hier ihre Namen sowie Alter, Charakter und Gewohnheiten. Mit Ausnahme zweier Franzosen, der Brüder Briant, und des Amerikaners Gordon sind alle englischer Abkunft.

Doniphan und Croß stammen beide aus der Familie reicher Landeigentümer; 13 Jahre und wenige Monate alt, Vettern und zur Zeit Mitglieder der 5. Abteilung. Der elegante, strebsame und sehr auf seine äußere Erscheinung bedachte Doniphan ist ohne Zweifel der herausragende Zögling. Ein gewisser aristokratischer Stolz hat ihm den Spitznamen »Lord Doniphan« eingetragen. Er ist ehrgeizig und immer darauf erpicht, die Hauptrolle zu spielen, was nur noch zugenommen hat, seitdem Briants Einfluß auf seine Kameraden gewachsen ist. Croß, ein gewöhnlicher Durchschnittsschüler, durchdrungen von einer kritiklosen Bewunderung für alles, was sein Vetter denkt, spricht oder tut. Der verschlossene, fleißige Baxter, 13 Jahre alt, Sohn eines Kaufmannes in relativ bescheidenen Vermögensverhältnissen, kommt ebenfalls aus der 5. Abteilung der Pension. Er zeichnet sich vor allem durch eine verblüffende Erfindungsgabe und durch besondere Fingerfertigkeit aus.

Webb und Wilcox, beide zwölfeinhalb Jahre alt, Söhne reicher Beamtenfamilien, Zöglinge der 4. Abteilung, sind beide ziemlich eigenwillig und sehr streitsüchtig.

Garnett und Service, 12 Jahre alt, der eine Sohn des pensionierten Flottenkapitäns, der andere Sohn eines wohlhabenden Farmers, stammen aus der 3. Abteilung und sind unzertrennliche Freunde. Garnett ist träge, aber gutmütig, Service hingegen ausgelassen und träumerisch. Mit Vorliebe rezitiert er die Abenteuer des Robinson Crusoe aus dem Gedächtnis.

Jenkins, Sohn des Vorsitzenden der »New Seeland Royal Society« und Iverson, Sohn eines Pfarrers, sind beide 9 Jahre alt.

Dole, achteinhalb, und Costar, 8 Jahre alt, sind beide Söhne von Offizieren der englisch­neuseeländischen Armee. Der aus Boston gebürtige Amerikaner Gordon ist 14 Jahre alt. Sowohl seine Erscheinung wie auch seine Haltung verraten deutlich die rohe Urwüchsigkeit des Yankee. Obwohl linkisch und schwerfällig, ist er doch der bei weitem gesetzteste aller Chairman- Schüler; er wird von allen sehr geschätzt, weil er ein scharfes Urteilsvermögen und viel gesunden Menschenverstand besitzt. Gordon ist Vollwaise, sein Vormund ließ sich vor einiger Zeit in Neuseeland nieder und seitdem besucht Gordon die Pension.

Die Brüder Briant sind die Söhne des berühmten Ingenieurs, der vor Jahren nach Neuseeland kam, um die umfangreichen und beschwerlichen Arbeiten der Sumpftrockenlegung im Inneren Ika- Na-Mawis zu leiten. Der ältere ist 13 Jahre alt, erwiesenermaßen hochintelligent und von ungewöhnlichem Gedächtnis, aber trotz dieser guten Anlagen nicht besonders fleißig. Zwischen ihm und Doniphan hat es schon immer Reibereien gegeben. Briant ist von der Zehe bis zum Haar ein echter Franzose, unternehmungslustig, kühn und etwas lässig gekleidet. Unter seinen Kameraden ist er außerordentlich beliebt. Als die Sloughi in Seenot geriet, zögerten nur einige wenige, eben jene Gruppen um Doniphan, ihm das Kommando zu überlassen.

Jacques, sein jüngerer Bruder, war bisher stets ein verrückter Spaßvogel, vielleicht sogar der lustigste der ganzen Pension. Er ersann immer neue Possen und Streiche, für die er dann anschließend lächelnd und irgendwie selbstbewußt die Strafe kassierte. Seit der Abfahrt des Schiffes jedoch hat er sich höchst auffallend verändert; keiner konnte sich diese Wandlung erklären.

Das also war die Kindergesellschaft, welche von einem fürchterlichen Sturm an ein ihnen unbekanntes Gestade des Stillen Ozeans geworfen worden war.

Eigentlich sollte die Sloughi während der Umsegelung Neuseelands von Garnetts Vater befehligt werden. Die Besatzung bestand aus einem Obersteuermann, 6 Matrosen, einem Koch und einem Schiffsjungen, jenem Moko, dessen Familie bei einem Ansiedler von Neuseeland beschäftigt war. Und nicht zu vergessen: Phann, den schönen Jagdhund Gordons. Als Abfahrtstag war der 15. Februar bestimmt worden. Die Sloughi lag, von dicken Sorrtauen gehalten, am äußersten Ende der Commercial-Pier, nahe der Seeseite des Hafens. Die Besatzung war nicht an Bord, als sich die jungen Passagiere am Abend des 14. Februar einschifften. Kapitän Garnett sollte erst eintreffen, wenn alles an Bord erledigt war. Nur der Obersteuermann und der Schiffsjunge empfingen Gordon und seine Kameraden, die übrige Mannschaft saß noch bei einem Glas Whisky in der Hafenbar. Nachdem alle Kinder untergebracht waren, ging auch der Obersteuermann noch kurz einen heben. Schiffsjunge Moko legte sich schlafen.

Was sich anschließend zugetragen hat, wird wohl nie ganz geklärt werden. Sicher ist nur, daß sich die Taue entweder von selbst gelöst hatten oder daß sie von dritter Hand losgemacht wurden. An Bord hatte keiner etwas Verdächtiges bemerkt. Die Nacht lag tief und dunkel über dem Hafen und dem Golf Hauraki, vom Land her wehte ein ziemlich starker Wind, der Schoner wurde mit der rückströmenden Ebbe in die offene See hinausgetrieben. Als der Schiffsjunge erwachte, stampfte das Schiff, als werde es von schweren Wogen hin und her geworfen. Moko sprang mit einem Satz an Deck, aber zu spät: die Jacht trieb steuerlos dem offenen Meere zu, Mokos entsetzliche Angstschreie weckten einige der Zöglinge, sie kamen an Deck und riefen wie aus einem Mund um Hilfe. Umsonst. Von der Stadt und dem Hafen waren nicht einmal mehr die Lichter zu sehen, der Schoner war bereits mitten im Golf, 3 sm vom rettenden Ufer entfernt. Die Kinder versuchten unter Anleitung Mokos, ein Segel beizusetzen, um durch einige geschickte Kreuzmanöver in den Hafen zurückzugelangen, aber ihre Kraft reichte nicht aus, unter einem scharfen Westwind wurden sie nur noch weiter hinausgetrieben. Die Sloughi umschiffte Cap Colville, danach die Meerenge, vor ihr lag das offene Meer. Auf Hilfe vom Land konnten die Kinder jetzt nicht mehr rechnen, das wußten sie; in dieser Finsternis würde ein eventuell nachträglich vom Hafen ausgesandtes Schiff sie nur schwer, wahrscheinlich aber überhaupt nicht ausmachen können. Wenn der Wind nicht bald umschlug, bestand keine Hoffnung mehr, in den nächsten Tagen gefunden zu werden. Moko befestigte am Topp des Fockmastes eine Signallaterne, vielleicht begegneten sie einem vorüberfahrenden Schiff. Mehr konnte man augenblicklich nicht tun.

Die Kleinen, welche nicht aufgewacht waren, ließ man weiterschlafen; ihr Schrecken hätte an Bord nur unnötige Unruhe verursacht.

Plötzlich tauchte 2 bis 3 sm vor ihnen ein schwacher Lichtschein auf, bald darauf konnte man auch 2 Positionslampen erkennen. Beide Lichter, das grüne wie das rote, waren gleichzeitig sichtbar, und das bedeutete, daß ein Dampfer direkt auf die Sloughi zuhielt. Vergeblich riefen und schrien die Kinder um Hilfe, das Klatschen und Schlagen der Wogen erstickte ihre Schreie. Zu allem Unglück riß noch die Leine, an welcher die Laterne befestigt war, nun verriet nichts mehr die Schiffbrüchigen. Der Dampfer jagte auf die Sloughi zu. Da krachte es auch schon, die Jacht war gerammt worden, und sie wäre unweigerlich versenkt worden, hätte nicht eine Welle das Schiff noch rechtzeitig abgedreht. Wenige Minuten später war der Dampfer in der Dunkelheit wieder verschwunden, keiner der Matrosen hatte die Jacht gesehen, keiner den Stoß auf eine Kollision mit einem anderen Schiff bezogen.

Als der Tag graute, starrten sie über eine öde Wasserwüste. Tagsüber begegneten sie keinem weiteren Schiff. Die Hoffnung auf Rettung sank schnell. Wie lange sollte diese Fahrt in den sicheren Tod weitergehen? Wieder brach die Nacht herein. Man versuchte zwar, irgendwie zu manövrieren, aber man wußte ja überhaupt nicht, in welche Richtung man trieb. Um die schwereren Segel beizusetzen, fehlte den Kindern die Kraft. Sie mußten sich untätig dem Schicksal überlassen. Unterstützt von Moko, führte Briant in dieser aussichtslosen Lage das Kommando, auch Doniphan blieb vorerst nichts anderes übrig, als sich seinem Wort zu beugen. Briant schonte sich dabei keineswegs, Tag und Nacht hielt er mit dem Fernrohr Ausschau, er fertigte einige Notizen über den Verbleib der Sloughi an und übergab sie dem Meer als Flaschenpost, mehr war im Moment unmöglich. Inzwischen trieb der Westwind die Jacht immer weiter in den Stillen Ozean hinaus. Was sich weiter zutrug, wissen wir bereits.

In Auckland war das Verschwinden der Jacht noch in der Nacht vom 14. auf den 15. Februar bemerkt worden. Kapitän Garnett wurde zwar sofort benachrichtigt, aber auch er konnte nur entsetzt mit den Achseln zucken. 2 kleine Dampfer wurden unverzüglich auf die Reise geschickt, um den Golf abzusuchen. Die ganze Nacht kreuzten sie in den Küstengewässern, danach kehrten sie allein zurück. Die Sloughi blieb verschollen. Sie hatten nur einige Trümmer aufgefischt, die nach der Kollision mit dem peruanischen Dampfer Quito abgesprengt worden waren, auf diesen Bruchstücken waren noch 3 bis 4 Buchstaben des Namens Sloughi deutlich zu lesen. Es bestand demnach in Auckland kein Zweifel darüber, daß die Jacht gesunken war.

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