22

Das Leben der jungen Kolonisten in French-den verlief eintönig wie immer. Briant machte sich schwere Vorwürfe, daß gerade unter seiner Regentschaft diese schmerzliche und vielleicht tragische Trennung der Gruppe erfolgen mußte. Mehr als einmal versuchte Gordon, seinen Kameraden zu trösten.

»Sie werden zurückkommen, ich bin sicher, daß sie dieses Abenteuer nicht lange durchhalten werden. Die Verhältnisse sind stärker als der Starrsinn Doniphans. Ich wette, vor Winterbeginn sind sie wieder hier!«

Briant schüttelte nur den Kopf, er glaubte nicht recht daran! Und wenn sie zurückkamen, waren dann die Schwierigkeiten aus der Welt geschafft? Die Streitereien würden sich vielleicht noch heftiger fortsetzen.

»Vor Winterbeginn sind sie wieder hier!« hatte Gordon gesagt. Rechnete er denn fest damit, noch einen weiteren Winter hier in dieser verdammten Einöde zu verbringen? Wollte er denn überhaupt nicht mehr zurück nach Neuseeland? Wann endlich kam ein Schiff vorbei und entdeckte das Ballonsignal am Gipfel des Auckland-hill?

Die Bemühungen, ein Boot zu entwerfen, mit dem man über das Meer hätte fahren können, scheiterten immer wieder. Da entschloß sich Briant, nach einigen Gesprächen mit Baxter, einen weithin sichtbaren Drachen zu konstruieren, der das Ballonsignal ablösen sollte.

»Wir haben Leinwand und Hanfschnüre, wenn wir ihn stabil bauen, können wir ihn sehr, sehr hoch steigen lassen. Das erhöht unsere Chancen auf Rettung!«

»Was ist, wenn einige Tage nicht genügend Wind weht?« »Das ist selten der Fall! Und wenn, dann ziehen wir ihn eben ein.«

»Gut, Briant, versuchen wir es wenigstens, wenn ich auch sehr skeptisch bin.«

»Tagsüber kann er 90 km weit sichtbar sein, nachts hängen wir einfach eine unserer Signallaternen dran!«

»Mal sehen, 90 km scheinen mir etwas hochgegriffen, aber egal!«

Als das Vorhaben Briants und Baxters publik wurde, freuten sich vor allem Iverson, Jenkins, Dole und Costar; sie wollten mit diesem Drachen spielen, was ja für sie eine schöne Abwechslung gewesen wäre. Leider mußte ihnen Briant diese Illusion rauben.

»Doniphan und die anderen werden staunen, wenn sie plötzlich unseren Drachen am Himmel sehen«, sagte Service und lachte laut heraus.

»Kann man ihn denn von allen Punkten der Insel aus sehen?« fragte Garnett.

»Natürlich, bis weit draußen vom Meer sogar!«

»Auch in Auckland?« fragte der kleine Costar aufgeregt.

»Das leider nicht. Wenn ihn aber Doniphan sieht, kommt er mit seinen Leuten vielleicht wieder zurück.«

Briant konnte sich von dem Gedanken nicht freimachen, daß es ihm gelingen müsse, die Spaltung der Kolonie wieder zu kitten.

Während der nächsten Tage bauten Baxter und Briant am Drachen. Das Gerippe wurde aus zähen Rohren hergestellt. Auf dieses elastische Gestell ließ Briant dann ein mit Kautschuk durchtränktes Segel spannen, das vorher einmal zur Abdeckung der Oberlichtluken auf der Sloughi gedient hatte. Als Leine wurde eine hart gedrehte Schnur aus Hanf und Leinwand verwendet, die genügend strapazierfähig war. Sie sollte aus Sicherheitsgründen über eine sogenannte Bratspille des Schoners gewickelt werden, damit sich genügend Widerstand ergab. Für die Kleinen wurde dem Drachen ein bunter Schwanz angehängt.

Am 15. war die Arbeit beendet. Aufsteigen sollte er am Nachmittag des nächsten Tages.

Doch während der nächsten Tage wehte ein derartiger Sturm, daß es unmöglich war, den Drachen zu erproben. Es war derselbe Sturm, den Doniphan und seine Kameraden am Ufer der Nordküste erlebten.

»Heute ist der 17. Oktober. Ich möchte jetzt nicht mehr länger warten, lassen wir den Drachen endlich steigen.«

Nach dem Frühstück gingen alle zur Sport- terrace, von dort sollte der Drachen gestartet werden. Es war jetzt 1.30 Uhr. Briant wollte gerade das Startzeichen geben, als er durch Phann abgelenkt wurde, der plötzlich mit lautem Gebell zum Wald hetzte.

»Was hat er?«

»Hat er ein Raubtier gewittert?«

»Nein, da würde er ganz anders anschlagen.«

»Sehen wir nach!«

»Halt! Erst die Waffen holen!«

Jacques und Service rannten nach French-den zurück und holten einige geladene Gewehre.

»Auf geht's!« befahl Briant.

Briant, Jacques, Gordon und Service gingen zum Rand der Traps-woods. Phann saß vor einem Baum und knurrte leise. Die Kinder kamen näher und sahen eine menschliche Gestalt zwischen den Baumwurzeln liegen. Es war eine Frau, die wie tot dalag. Ihr Gesicht ließ Spuren schwerer Strapazen erkennen.

»Sie atmet, sie atmet«, flüsterte Gordon erregt. Jacques rannte sofort nach French-den zurück, um etwas Schiffs-zwieback und eine Flasche Brandy zu holen. Briant beugte sich über die Frau und flößte ihr einige Tropfen Brandy ein. Die Frau machte eine leichte Bewegung, dann öffnete sie langsam die Augen. Sie nahm das ihr von Jacques angebotene Stück Zwieback und aß es. Dann setzte sie sich vorsichtig auf und sagte in einwandfreiem Englisch: »Ich danke euch, vielen Dank!«

Eine halbe Stunde später hatte man die Frau nach French-den geschafft und in der Halle auf eine Matratze gelegt. Nachdem sie sich etwas erholt hatte, erzählte sie den um sie herumstehenden Kindern ihr Geschichte.

Sie war Amerikanerin, hieß Katherine Ready, kurz Kate, seit 20 Jahren als Hausangestellte der Familie William R. Penfield in Albany, der Hauptstadt des Staates New York, tätig. Vor einem Monat war sie zusammen mit der Familie Penfield nach San Franzisko gefahren, um sich von dort nach Chile einzuschiffen. John F. Turner war der Kapitän des Kauffahrteischiffes Severn, dessen Ziel Valparaiso hieß. 8 Schurken, die sich als Matrosen hatten anheuern lassen, zettelten eine Meuterei an und töteten den Kapitän, den Obersteuermann und Mr. und Mrs. Penfield. Die Schurken wollten das Schiff in ihre Hand bekommen, um in den Sklavenhandel einsteigen zu können, der in einigen Ländern Südamerikas florierte. Nur 2 Personen an Bord wurden von Walston und seinen Spießgesellen Brandt, Rock, Henley, Cork, Forbes, Cope und Pike verschont, nämlich Kate, für die sich Forbes, einer der harmloseren Burschen, eingesetzt hatte und noch ein Steuermann der Severn, ein 30jähriger Mann namens Evans, den sie wegen der Steuerung des Schiffes nicht entbehren konnten. Diese so unheimlichen Szenen hatten sich am 7. und 8. Oktober abgespielt, 300 sm vor der chilenischen Küste. Unter Todesandrohung wurde Evans gezwungen, Kurs auf Kap Hoorn zu halten, um an die Westküste Afrikas zu gelangen. Einige Tage später brach aus bisher unbekannten Gründen an Bord ein Feuer aus. Walston und seine Genossen versuchten, den Brand einzudämmen, aber vergebens. Henley fand sogar den Tod. In einer Schaluppe verließen sie das Wrack der Severn. Da brach ein fürchterlicher Sturm los, der sie zuletzt an diese Insel spülte. Evans und Kate lagen neben dem geborstenen Boot am Strand und glaubten bereits, daß die Schurken allesamt ersoffen wären. Aber diese Freude war zu früh. Plötzlich hörten sie Schritte. Es waren Walston, Brandt und Rock, die sich hatten retten können. Etwas weiter entfernt fanden sie noch Pike und Forbes. Auch Cope und Cork tauchten nach einer Weile auf. In der allgemeinen Verwirrung konnte Kate sich am Strand verstecken. Sie hörte folgendes Gespräch mit an.

»Verdammt! Wo sind wir?« fragte Rock.

»Blöde Frage, wie soll ich das wissen?« gab Walston zurück. »Gehen wir erst mal nach Osten. Morgen werden wir schon sehen, wie wir uns aus dieser Schlinge befreien können.«

»Und die Waffen?« fragte Forbes.

»Gerettet, ebenso die Munition.«

»Viel zu wenig, um sich eine Weile über Wasser halten zu können«, brummte Rock.

»Wo ist denn Evans?«

»Wird bewacht!«

»Und dieses Weibsbild?«

»Kate?« sagte Walston. »Ich habe sie über Bord gehen sehen, die ruht zwischen Korallen und kleinen Tierchen auf dem Meeresboden.«

»Das beruhigt mich, sie wußte von uns doch ein bißchen zuviel!«

»Stände sie noch hier, ich würde sie gleich abknallen!«

Kate hatte all dies mitangehört. Sie durfte jetzt nicht entdeckt werden, sonst war sie verloren.

Schon nach wenigen Minuten entfernten sich die Schurken, um vor dem Wüten des Sturmes im Wald Deckung zu suchen.

»Ich bin dann vom Strand fortgeschlichen und schließlich vor Erschöpfung dort am Baum, wo ihr mich gefunden habt, zusammengebrochen«, schloß Kate ihren Bericht. Die Kinder schwiegen lange.

»Bisher war hier alles still und friedlich«, sagte Briant nach einer langen Pause, »aber von jetzt an ist höchste Vorsicht geboten. 7 schwerbewaffnete Verbrecher sind auf der Insel Chairman. Sie werden nicht zögern, uns alle umzulegen, wenn sie uns erst entdecken. Irgendwann wird es zu einem Kampf zwischen ihnen und uns kommen, machen wir uns auf das Schlimmste gefaßt.«

»Und gerade jetzt sind Doniphan, Wilcox, Webb und Croß nicht da«, sagte Gordon. »Sie wissen nichts von diesen Schurken und werden ihnen geradewegs in die Hände laufen, dann allerdings kommen sie auch sehr rasch hierher nach French- den.«

»Ein Flintenschuß genügt, um sie auf uns aufmerksam zu machen!«

»Diese Burschen werden kein Mitleid mit uns haben, das ist nach Kates Bericht klar!«

»Wir müssen Doniphan und den anderen zu Hilfe eilen, bevor alles zu spät ist«, schlug Briant vor.

»Ja, wir müssen jetzt eine Einheit bilden!«

»Ich hole sie«, sagte Briant.

»Du, Briant?« »Ich, Gordon!«

»Und wie?«

»Ich werde mich mit Moko auf der Jolle einschiffen und den East-river runtersegeln. Doniphan sagte ja, daß sie sich an der dortigen Küste ansiedeln wollten.«

»Wann willst du abfahren?«

»Noch heute abend, während der Dunkelheit ist es ungefährlicher, über den See zu setzen.«

»Soll ich dich begleiten, Bruder?« fragte Jacques.

»Nein, es ist ja kein Platz da, wenn wir die anderen mitbringen wollen.«

»Noch eins: den Drachen dürfen wir jetzt unter keinen Umständen steigen lassen, das würde unsere Höhle sofort verraten.«

»Da fällt mir ein«, beeilte sich Gordon hinzuzufügen, »auch den Signalballon müssen wir einholen, auch der ist ein Zeichen, daß hier Menschen leben.«

Bis zum Abend hielten sich alle in der Halle auf. Die Türen waren fest verriegelt. Kate hörte nun die Geschichte ihrer Abenteuer. Sie staunte nicht schlecht, wie gemütlich die Jungen sich in dieser Einöde eingerichtet hatten. Fortan wollte sie bei ihnen bleiben und für sie sorgen.

»Nennen wir Kate Freitagine«, schlug Service vor, der sofort an seine Lieblingslektüre denken mußte. »Jene Schurken entsprechen völlig den Wilden der Robinsone. Aber wir werden sie ebenso erledigen wie damals Robinson.«

»Hoffentlich täuschst du dich nicht ebenso wie seinerzeit mit deinem flotten Renner!«

Um 20 Uhr waren die Vorbereitungen für die schwierige Expedition beendet. Moko und Briant schifften sich ein. Jeder hatte einen Revolver und ein Jagdmesser bei sich. Mit Sonnenuntergang hatte sich eine steife Brise erhoben, die die Fahrt wesentlich erleichterte. Nach 2 Stunden landete die Jolle an der gleichen Stelle wie damals, man mußte jetzt nur noch an der Seeküste entlangrudern, um zur Riomündung zu kommen. Plötzlich packte Briant Moko am Arm. Wenige 100 Schritte vom rechten Ufer des East-river schimmerte ein Feuer durch die Dunkelheit. War das Walston oder Doniphan? »Setze mich aus, Moko«, sagte Briant leise. »Soll ich dich nicht begleiten, Briant?« »Laß nur, ich gehe allein!«

Die Jolle legte am Ufer an, Briant sprang an Land. Das Jagdmesser in der Hand, den Revolver im Gürtel, schlich er vorsichtig über die Uferböschung in den Wald. Da hörte er plötzlich ein Geräusch, im gleichen Augenblick brüllte ein ausgewachsener Jaguar. »Zu Hilfe! Hierher!«

Briant erkannte Doniphans Stimme. Die anderen waren am Lagerfeuer geblieben. Doniphan wurde von dem Raubtier umgeworfen. Da tauchte Wilcox im Dickicht auf, das Gewehr im Anschlag und bereit, Feuer zu geben.

»Nicht schießen!« schrie Briant.

Noch ehe Wilcox ihn richtig erkennen konnte, stürzte sich Briant auf die Bestie und hieb mit aller Kraft sein Messer hinein. Der Jaguar stürzte zu Boden und verendete in seinem Blut. Jetzt waren auch Croß und Webb am Tatort erschienen. Sie erkannten Briant, der von einem Tatzenschlag an der Schulter verletzt war.

»Wie kommst du denn hierher?« fragte Wilcox.

»Erzähl ich euch später. Kommt!«

»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte Doniphan und schüttelte Briant die Hand.

»Nicht der Rede wert, du hättest an meiner Stelle ebenso gehandelt!«

Während Wilcox die Schulterwunde mit einem Taschentuch provisorisch verband, berichtete Briant seinen Kameraden, was in French-den vorgefallen war.

»Also sind jene Männer, die wir für Leichen hielten, noch am Leben und irren jetzt auf der Insel herum«, sagte Doniphan.

»Aus mit unserer Sicherheit!« brummte Wilcox.

»Aah, jetzt verstehe ich erst: deshalb hast du Wilcox befohlen, nicht zu schießen, den Schuß hätte man hören können!«

»Ja, ich mußte wohl oder übel mein Jagdmesser benutzen, sonst hätten wir die Schurken der Severn auf dem Hals.«

»Ach, Briant, du bist so viel besser als ich«, sagte Doniphan aufrichtig und mit Tränen in den Augen.

»Bitte, Doniphan, versprich mir, wieder mit zurück nach French-den zu kommen, wir brauchen jetzt dich und alle anderen!«

»Rechne auf mich. In Zukunft werde ich mich keinem deiner Befehle mehr widersetzen.«

»Wann gehen wir zurück?«

»Sofort«, schlug Briant vor, »wir müssen unbedingt die Dunkelheit ausnützen.«

»Aber wie denn?«

»Moko wartet am Ufer mit der Jolle. Wir wollten gerade den East-river hinunterfahren, als ich den schwachen Schein eures Feuers wahrnahm. Aber da wußte ich noch nicht, ob Walston oder Doniphan.«

»Du kamst gerade zur rechten Zeit!«

»Richtig, um dich und die anderen nach French- den zurückzuholen, denn ab jetzt herrscht höchste Alarmstufe. Walston und seine Kumpane schrecken vor nichts zurück, das haben wir von Kate gehört. Sie machen gnadenlos von ihren Schußwaffen Gebrauch.«

»Na, Gott sei Dank schieße ich auch nicht schlecht. Soll mir einer nur vor die Kanone laufen.«

»Sag, Doniphan, warum habt ihr eigentlich hier und nicht an der Mündung des East-river übernachtet?«

»Nachdem wir an den Severn-shores übernachtet hatten, waren wir zum Hafen des Bear- rock zurückgegangen. Am nächsten Morgen sind wir dann, wie abgemacht, zum See hinaufmarschiert, von wo wir dann zu euch zurückkommen wollten.«

»Auf gehts, fahren wir mit der Jolle über den See, damit wir zu Hause sind, bevor etwas passiert.«


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