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Insel oder Festland?

Immer noch keine Antwort auf diese so lebenswichtige Frage! Das vermeintliche Meer hatte sich als Binnensee entpuppt, aber deshalb konnte es immer noch möglich sein, daß die Sloughi mit ihrer Besatzung auf einer Insel gestrandet war. Der See mußte eine beträchtliche Ausdehnung haben, und das wiederum ließ auf Festland schließen.

»Weiß der Geier. Also ist das doch Amerika?«

»Hab ich ja immer gesagt.«

»Aber das mit der Wasserlinie stimmte!«

»Aber ein Meer war es eben nicht, mein Lieber!«

Sowohl Briant wie Doniphan hatten recht, doch war damit nichts gewonnen. Die Frage blieb offen: Insel oder Festland? Man entschied sich nach reiflicher Überlegung für Festland, allerdings mit kleinen Vorbehalten; Genaues wußte niemand. Es mußten irgendwann weitere Reisen unternommen werden. Es war jetzt Anfang April, der Winter stand vor der Tür. Man durfte nicht mehr allzulange an der von Stürmen gepeitschten Bai bleiben, noch vor Ende dieses Monats mußten die Kinder die Sloughi verlassen haben. Aber wohin? War man den damit verbundenen Anstrengungen gewachsen? Und wie lange mußte man nach einer Grotte oder einer Hütte suchen? Obwohl sich Gordon Sorgen machen würde, beschlossen Briant und Doniphan, in der Umgebung des Sees nachzuforschen, ob sich hier eine Möglichkeit bot, die schlechte Jahreszeit geschützt und halbwegs komfortabel zu verbringen. Ihr Proviant würde noch 48 Stunden lang ausreichen, ein Wetterumschwung war nicht zu befürchten. Ohne Zweifel war dieser Teil des Landes bewohnt oder mindestens bewohnt worden; der durch den Creek gelegte Plattengang, die Ajoupa und die gefundene Tonscherbe deuteten darauf hin, daß hier Eingeborene oder — auch das war ja möglich — Schiffbrüchige gelebt hatten. Sollten Briant und Doniphan nach Süden oder nach Norden ziehen? Sie entschieden sich für die südliche Richtung, weil sie sich auf diesem Weg der Sloughi näherten. Später konnte man immer noch nach Norden marschieren. Gegen 10.30 Uhr machten sich die 4 Kinder auf den Weg. Phann sprang voraus und jagte ganze Scharen von Tinamus auf, die in den Mastyxbüschen und den Farnsträuchern nisteten. Doniphan war vernünftig genug, nicht zu schießen. Jetzt war höchste Vorsicht geboten, wollte man keinem Eingeborenen in die Hände laufen. Während des ganzen Tagesmarsches stießen die Kinder auf keine weitere Spur, nirgendwo entdeckten sie Rauchsäulen. Die Wasserfläche blieb auch weiterhin unübersehbar. Es schien allerdings, als umschlösse das Land im Süden den See. Auf Raubtiere oder Wiederkäuer stieß man nicht. Einige Male zeigten sich Vögel am Waldrand.

»Das sind Strauße!« rief Service.

»Aber dann sehr kleine Strauße«, sagte Doniphan. »Immerhin Strauße, und wenn wir auf dem Festland . . .«

»Zweifelst du noch, Briant?« fragte Doniphan.

»... so muß es Amerika sein, wo diese Tiere häufig vorkommen.«

Gegen 19 Uhr machten die Kinder Rast. Am nächsten Morgen wollte man, wenn nichts dazwischenkam, zur Sloughi-Bai, wie jener Uferteil nun getauft wurde, zurückkehren. Man konnte augenblicklich sowieso nicht weitergehen, weil im Süden ein Rio, der Abfluß des Sees, lag, den man wohl durchschwimmen mußte. Die Dunkelheit war schon zu groß, als daß man die Gegend noch heute abend hätte untersuchen können. Nach dem Abendessen waren alle müde, man legte sich unter freiem Himmel auf die mitgeführten Decken und schlief sofort ein. Am See wie am Strand war alles still. Manchmal heulten einige Schakale. Gegen 4 Uhr früh schlug plötzlich Phann an, er knurrte und schnupperte auf dem Boden, als suche er eine Fährte. Die Kinder aber erwachten erst gegen 7 Uhr. Sie waren sofort auf den Beinen und schauten sich um.

»Ein Glück, daß wir gestern abend vernünftig waren und nicht weitergegangen sind, wir wären in den schlimmsten Sumpf geraten.«

»Die Niederung erstreckt sich nach Süden zu, ohne daß man ihr Ende ausmachen könnte.«

»Hier wimmelt es ja von Enten und Bekassinen«, schwärmte Doniphan.

»Alles eßbares Wild! An dieser Stelle sollten wir hausen!«

Im Hintergrund erhob sich ein mächtiges Steilufer, das auf der anderen Seite schroff abzufallen schien. Von den beiden fast rechtwinklig zusammenstoßenden Schenkeln verlief der eine zum See hin, der andere bog mit einem kleinen Rio landeinwärts.

»Das ist interessant«, sagte Briant. »Ersteigen wir mal das Steilufer.«

Zuerst untersuchte man von hoch oben die Mündung des Flusses in den See.

»Seht doch!« rief Wilcox. »Hier ist wieder so eine ähnliche Steinanhäufung wie damals.«

»Ja, jetzt kann es keinen Zweifel mehr geben.«

»Nein, unmöglich«, stimmte Doniphan zu, »da liegen sogar noch Holzreste herum.«

Diese Trümmer rührten ganz bestimmt von einem Boot her, das bewiesen die stark gekrümmten Holzstücke, ein Teil des Vorderstevens, an dem auch noch ein rostiger Eisenring hing. Alle 4 Kinder schauten intensiv die Umgebung ab, so als müsse der Mann, dem dieses Boot einmal gehört hatte, jeden Augenblick erscheinen. Aber natürlich tauchte niemand auf, viele Jahre waren verflossen, seit dies Boot am Ufer des Rio zurückgelassen wurde. Hatte der Besitzer, der ohne Zweifel hier gelebt haben mußte, die Insel oder das Festland hier wieder verlassen können? War er hier umgekommen? Die Kinder spürten in sich eine seltsame Erregung. Da bemerkten sie das auffallende Benehmen Phanns, der offenbar eine Fährte gefunden hatte.

»Phann hat etwas gewittert!«

Briant und seine Kameraden folgten dem Hund zu einer Baum-grupp'e, die am Fuß des Steilufers an der Seeseite wuchs. Ihr Herz stockte. In die

Rinde eines Baumes waren folgende Initialen geschnitzt:

F.B.

1807

Die Kinder standen regungslos davor. Da lief Phann zurück und verschwand hinter der Uferhöhe.

»Hierher, Phann!« rief Briant.

Der Hund folgte nicht, sondern bellte laut auf.

»Jetzt Achtung, bleiben wir beisammen! « flüsterte Briant. Die Gewehre wurden schußfertig gemacht, die Revolver geladen, man mußte zur Verteidigung bereit sein. Die Kinder drangen weiter vor. Als sie die Uferhöhe hinter sich hatten, glitten sie längs des schmalen Ufers am Rio vorwärts. Sie hatten noch keine 20 Schritte zurückgelegt, als Doniphan sich bückte und eine Schaufel amerikanischen oder europäischen Fabrikats vom Boden aufhob. Jedenfalls stammte dieses Werkzeug nicht von der Hand eines Eingeborenen. Die Schaufel mußte lange Zeit dagelegen haben, das Metall war stark oxydiert. Am unteren Steilufer entdeckten die Kinder weitere Spuren: einige regelmäßig angelegte Furchen und ein kleines Beet von verwilderten Ignamen. Plötzlich hörte man Phann wieder laut bellen.

»Schon wieder was gefunden?« fragte Briant ungläubig. »Lassen wir uns von ihm führen!«

10 Schritte weiter blieb Phann vor einer Sträucher- und Gebüschwucherung sitzen. Briant ging vorsichtig zu ihm hin. Da, als er das Gewirr der

Äste und Blätter etwas lüftete, bemerkte er eine enge Öffnung.

»Eine Höhle?« rief er und wich einige Schritte zurück. »Gut möglich. Aber was soll drin sein?«

»Das müssen wir noch herausfinden.«

Briant zerteilte die Zweige mit einigen Axthieben. Noch hörte man kein verdächtiges Geräusch aus der Höhle. Service wollte deshalb auch schon in den freigehauenen Eingang treten, doch Briant hielt ihn zurück. »Warten wir erst ab, was der Hund macht!« Phann knurrte dumpf. Wäre ein lebendes Wesen in der Höhle gewesen, es wäre sicherlich schon längst herausgekommen. Da die Luft im Innern vielleicht schädlich, weil unatembar sein konnte, warf Briant angezündetes Gras durch die Öffnung; die Halme brannten weiter, also konnte man die Luft atmen.

»Dann los!«

»Ja, gehen wir hinein!«

»Noch einen Augenblick«, sagte Briant, der wirklich an alles dachte, »ich will erst einen harzigen Fichtenzweig abschneiden und anzünden, damit wir drinnen auch was erkennen.«

Der Höhleneingang war 1,5 m hoch und 60 cm breit; die Höhle weitete sich jedoch rasch auf 3 m Höhe und 6 m Breite, der Boden war überall mit feinem, trockenen Sand bedeckt. Beim Eintreten stieß Wilcox auf einen Holzschemel, auf einem daneben stehenden Tisch lagen verschiedene Geschirrstücke. An einer Wand stand eine Art Koffer aus lose verbundenen Planken, der noch einzelne zerfetzte Kleider enthielt. Diese Höhle war also einmal bewohnt worden; aber zu welcher Zeit und von wem? Lag das Opfer irgendwo in einer Ecke? Im Hintergrund war eine erbärmliche Lagerstätte mit einer völlig zerrissenen Wolldecke darüber. Verhüllte die Decke den Leichnam des Höhlenbewohners?

Briant überwand seinen Widerwillen und riß sie herunter; aber das Lager war leer.

Kurz darauf waren wieder alle 4 Kinder bei Phann, der noch immer vor der Höhle auf und ab lief und bellte. 20 Schritte weiter, unten am Rio, blieben sie plötzlich wie gebannt stehen.

Auf dem Boden, zwischen den Wurzeln einer Buche, lagen Reste eines menschlichen Skeletts.

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