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Trotz seiner Zugehörigkeit zu einer den Jungen fremden Nationalität liebten sie Briant sehr. Nur Doniphan und dessen Freunde wollten Briants Fähigkeiten, besonders seinen Gerechtigkeitssinn und seine Loyalität, nicht anerkennen. Gordon sah zwar voraus, daß diese Wahl die ohnehin schon vorhandene Uneinigkeit unter den Kameraden noch vertiefen und dramatisieren würde, aber dennoch beglückwünschte er seinen Nachfolger herzlich und ohne jeden Anflug von Verärgerung über das für ihn so schlechte Ergebnis. Jacques wunderte sich etwas, daß sein Bruder die Wahl angenommen hatte.

»Du willst also wirklich .. .«, sagte er, ohne den Satz vollenden zu wollen.

»Ja, ich möchte endlich noch mehr tun können, um deine Schuld wenigstens etwas abzutragen.«

»Ich danke dir, Bruder und bitte, schone mich nicht, wenn es um besonders schwierige Arbeiten geht.«

Am nächsten morgen begann wieder der Alltag in French-den. Bald würde der arktische Winter über die Insel Chairman hereinbrechen, deshalb wollte Briant zuvor noch eine bestimmte Aufgabe erledigen. Auf dem Kamm des Auckland-hill wehte die Flagge Großbritanniens nur noch in Fetzen, der Seewind hatte zu stark gewütet. Es war also nötig, die Flagge durch ein anderes, den winterlichen Bedingungen angemesseneres Zeichen zu ersetzen. Auf Briants Vorschlag bastelte Baxter eine Art Ballon, hergestellt aus biegsamen Rohrzweigen, die in der Gegend der Schlammlache wuchsen, der schon deshalb haltbarer sein mußte, weil der Wind durch die Kugel hindurchpfeifen konnte, soviel er wollte.

Am 17. Juni strich Briant die Fahne Englands ein und hißte den Gertenballon, der zudem sichtbarer war für möglicherweise vorüberfahrende Schiffe.

Das Barometer stieg immer mehr an, es konnte nicht mehr lange dauern, bis man ganz in French- den eingeschlossen war. Briant ließ die Jolle an Land ziehen und mit einem geteerten Pfortsegel abdecken. Wilcox und Baxter überprüften noch einmal die Fangschlingen und die Gruben, außerdem hoben sie noch einige neue, näher an French-den liegende Gruben aus, damit bei Schnee der Weg zur Beute nicht so weit war. Auch die Luftnetze längs der Ufer des Rio Sealand wurden aufgespannt, für das Wasserwild, das regelmäßig bei Wintereinbruch ins Landesinnere flüchtete.

Während der ersten Julitage bedeckte sich der Rio mit einer Eisschicht, die sich zusehends verfestigte. Das 100teilige Thermometer zeigte bereits 12 Grad unter Null an, auch der See mußte bald zugefroren sein. Nach einigen stürmischen Böen sprang der Wind nach Südwesten um, der Himmel klärte sich auf, die Temperatur sank bis auf 20 Grad unter den Gefrierpunkt. Das von Gordon ausgearbeitete Programm wurde auch jetzt wieder in vollem Umfang aufgenommen. Briant hielt den Daumen darauf, daß keine Bummelei vorkam. Gordon erleichterte ihm seine Aufgabe dadurch, daß er selbst sich Briant vollkommen unterwarf und keine Privilegien für sich forderte. Doniphan hielt sich auffallend zurück, freilich immer in der von ihm befehligten Gruppe, von der man nie genau wußte, was sie ausheckte. Aber Briant hatte augenblicklich keinen Grund zur Klage. Er bemühte sich, gegen jedermann gerecht zu sein, die schwierigsten Arbeiten übernahm er meistens selbst, zuweilen holte er seinen Bruder dazu, der ihm mit Vergnügen half. Gordon bemerkte, wie sich Jacques Charakter nach und nach wieder veränderte, wie er immer mehr der alte Jacques, wie ihn alle in Auckland, in der Pension Chairman gekannt hatten, wurde. Auch Moko entging diese Veränderung nicht. Er hielt sein Wort und schwieg über die miterlebte Szene zwischen Briant und Jacques.

Briant dachte sehr oft über die Chancen einer Rückkehr nach Neuseeland nach. Das unterschied ihn von seinem Vorgänger im Amt des Oberhauptes Gordon, dem es hier in der Einöde ganz gut zu gefallen schien. Briant wollte seine Amtszeit vor allem durch Anstrengungen auszeichnen, die die Heimkehr der Jungen beschleunigen sollten. Aber wie? Welche Möglichkeiten gab es denn überhaupt?

»War der weißliche Punkt, den ich von der Deception-Bai aus gesehen habe, doch keine Täuschung?« fragte er sich immer wieder.

»Wenn der Fleck Land war, dann ist es doch möglich, mit einem Floß oder einem Boot dorthin zu fahren!«

Sprach er über dieses Problem mit Baxter, so zuckte dieser nur mit den Achseln.

»Viel zu schwer für uns, ein seetüchtiges Boot zu bauen!«

»Warum sind wir nur Jungen«, klagte Briant, »warum nur Jungen und keine Männer!« Das war und blieb sein größter Kummer!

Während der langen Winternächte kam es, obwohl French-den selbst ungefährdet schien, manchmal zu kleinen Störungen. Phann schlug wiederholt an, wenn Schakale die Einfriedung umschwärmten. Dann schossen Doniphan und Wilcox einige gezielte Kugeln ab, was die Tiere sofort vertrieb. Ein paarmal zeigten sich auch Jaguare und Cuguare in der Nähe von French-den, ohne aber so nahe wie die Schakale heranzukommen. Die erste Hälfte des August brachte 4 außergewöhnlich strenge Frosttage. Das Thermometer sank bis auf 30 Grad unter Null. Briant befahl, die Türen dicht verschlossen zu halten und stärker denn je durchzuheizen, damit keinerlei Erkältungskrankheiten auftreten konnten. Auch in den Stallungen mußte mehr als gewöhnlich geheizt werden.

Am 6. August schlug der Wind plötzlich um, die bittere Kälte ließ nach. Die Sloughi-Bai und das Ufergelände der Wrack-coast wurden jetzt von heftigen, langanhaltenden und orkanhaften Stürmen heimgesucht, die unaufhörlich über die Höhenzüge des Auckland-hill pfiffen. Die Temperatur sank weiter bis stellenweise 7 oder 8 Grad unter Null. In der zweiten Augusthälfte konnten die Arbeiten im Freien wieder aufgenommen werden, die Fallen, Schlingen und Netze wurden untersucht, die Beute nach French- den gebracht. Zwischendurch wollte Briant den Kameraden einen besonderen Spaß erlauben. Da der See noch fest zugefroren war, schlug er eine Schlittschuhpartie vor. Mit einem länglichen Holzklötzchen und einer eisernen Klinge gelang es dem enorm fingerfertigen Baxter mehrere Paare Schlittschuhe herzustellen. Die Jungen-kannten diesen Sport von Neuseeland her und freuten sich riesig darauf. Am 25. August gegen 11 Uhr verließen Briant, Gordon, Doniphan, Webb, Croß, Wilcox, Baxter, Service, Jenkins und Jacques French-den, während Moko die - Zurückgebliebenen, Iverson, Dole und Costar überwachte. Briant hatte vom Schoner ein Nebelhorn mitgenommen, um seine kleine Truppe zusammenrufen zu können, wenn sich der eine oder andere zu weit auf den See hinauswagen sollte. Alle hatten gefrühstückt, bis zum Mittagessen wollten sie wieder zurück sein. Selbstverständlich, wie konnte es auch anders sein, hatten Doniphan und Wilcox ihre Gewehre mitgenommen, um bei dieser Gelegenheit gleich etwas Wild zu erlegen. Briant und Gordon selbst beteiligten sich nicht, sie wollten nur dabeisein um aufzupassen. Doniphan, Croß und Jacques waren die bei weitem besten Läufer der Kolonie. Was sie zeigten, grenzte schon an Eiskunstlauf. Bevor jeder tun und lassen konnte was er wollte, ermahnte Briant zu größter Vorsicht.

»Aufpassen, daß sich keiner zu weit von hier weg entfernt! Macht keine zu argen Faxen auf dem Eis, denn wie leicht hat man sich das Bein oder den Arm gebrochen. Gordon und ich erwarten euch an dieser Stelle, wenn ich ein Signal mit dem Horn gegeben habe.«

Danach schweiften die Schlittschuhläufer in langen Bögen hinaus auf den See.

»He, Croß, da draußen sehe ich ein paar Enten«, rief Doniphan.

»Ja, ich erkenne sie!«

»Hast du deine Flinte, wir jagen sie!«

»Briant hat aber untersagt. .. «

»Laß mich doch zufrieden! Vorwärts!«

»Wohin wollen sie?« fragte der am Ufer stehende Briant Gordon.

»Sie werden da draußen Enten jagen, das hättest du dir ja denken können.«

»Immer dieser Doniphan, der nicht hören kann, was man ihm sagt!«

»Aber laß doch, dabei passiert schon nichts.«

»Wer weiß, Gordon! Sich zu weit hinauszuwagen, ist immer gefährlich!«

Doniphan und Croß waren jetzt nur noch 2 sich schnell entfernende Punkte am Horizont.

»So ein Dreck!« fluchte Briant plötzlich. »Jetzt zieht auch noch Nebel auf.«

Sehr schnell war der See von einer dichten Nebelwand verhüllt.

»Das habe ich befürchtet, als ich sie ermahnte, nicht von hier wegzufahren!«

»Gib doch ein Hornsignal, damit sie zurückkommen!«

Dreimal blies Briant in sein Horn. Aber kein Flintenschuß gab Antwort. Der Nebel hatte sich merklich verdichtet. Wer sich in Sichtweite befand, wurde an Land gerufen.

»Was nun?« fragte Gordon.

»Wir müssen alles versuchen, um sie so schnell wie möglich zurückzuholen. In diesem englischen Nebel kann man sich ja kaum noch zurechtfinden, und sie haben ja keinen Kompaß dabei.«

»Ich werde sie suchen!« meldete sich Baxter.

»Kommt nicht in Frage, ich werde selbst hinausfahren«, erwiderte Briant.

»Nein, Bruder, laß mich fahren«, sagte Jacques ruhig, »ich finde sie sicher sofort.«

»Also gut! Und achte darauf, ob du einen Schuß hörst. Hier, nimm das Signalhorn mit!«

Einen Augenblick später war Jacques mit weiten Zügen im Nebel verschwunden. Eine halbe Stunde später war weder von Jacques noch von den beiden anderen etwas zu sehen.

»Wenn wir nur Waffen da hätten, dann könnten wir Zeichen geben«, klagte Service.

»Schußwaffen? Wir haben doch welche in French-den. Los, laßt uns keine Minute verlieren!«

Briant, Gordon und die anderen rannten zur Höhle und kamen nach 30 Minuten mit einigen Flinten und Revolvern wieder zum See. Wilcox und Baxter luden durch und schossen zweimal in die Luft.

Keine Antwort! Kein Schuß vom See her!

»Holt die Kanone!« rief Briant aufgeregt.

Die kleine Bordkanone der Sloughi wurde zur Sport-terrace geschleppt und nach Nordosten gerichtet. Man lud sie mit einer Platzpatrone und wollte schon abfeuern, als Moko einen Vorschlag machte :

»Stopfen wir etwas eingefettetes Gras ins Rohr, das erhöht den Knall!«

Der Schuß krachte hinaus in den Nebel. Dann spitzten alle die Ohren. Aber wieder kam keine Reaktion aus dem dichten Nebel über dem Family- lake.

»Weiter feuern, bis sich die 3 melden!« befahl Briant. Endlich, kurz vor 17 Uhr, es war mittlerweile schon recht duster geworden, hörten die Kinder 2 Flintenschüsse.

»Das sind sie!« rief Service freudestrahlend. Sofort antwortete Baxter mit einem neuen Schuß, der weithin hallte. Einige Minuten später wurden 2 Schattengestalten im Nebel erkenntlich, die schnell näher kamen. Es waren Doniphan und Croß. Jacques blieb verschwunden. Briants Bruder hatte die beiden nicht finden können, sie hatten auch keine Hornsignale gehört. Als Jacques nach Osten gefahren war, befanden sich die beiden Jäger bereits im südlichen Teil des Sees. Briant machte sich jetzt bittere Vorwürfe, nicht selbst hinausgefahren zu sein.

»So lange weiter feuern, bis Jacques auftaucht!« befahl er. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Über dem See lag undurchdringliche Finsternis.

»Entzünden wir ein großes Feuer, vielleicht hilft das!«

Das Fernrohr vor den Augen, starrte Gordon unbeweglich hinaus. Plötzlich zuckte er zusammen.

Er glaubt, einen Punkt wahrgenommen zu haben. Jetzt griff Briant nach dem Fernrohr.

»Ja, das muß er sein!« Der Punkt bewegte sich rasch dem Ufer zu.

»Was ist das?« fragte Briant aufgeregt.

»Hinter ihm bewegt sich etwas. Wird er etwa verfolgt?«

»Ja, es sieht tatsächlich aus, als käme er nicht allein.«

»Könnt ihr erkennen, ob es Menschen sind?« fragte Baxter Gordon und Briant.

»Ich würde die Punkte eher für Tiere halten.«

»Raubtiere?« fragte Doniphan.

Sofort zog er seine Schlittschuhe wieder an und eilte Jacques mit der Flinte im Anschlag entgegen. Niemand konnte ihn zurückhalten. Die am Ufer stehenden Kinder hörten kurz darauf 2 Schüsse. Einige Zeit später tauchten Doniphan und Jacques auf.

»2 Bären«, sagte Doniphan trocken und nicht ohne Stolz. »Das ist ja ganz neu! Komisch, daß wir von ihnen bisher keine Spuren entdecken konnten!«

»Jedenfalls zeigt das mal wieder, wie wenig wir doch über unsere Insel wissen. Sicher gibt es hier noch ganz andere Geheimnisse«, orakelte Doniphan.

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