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Es war wieder Frühling. Eine leichte Brise kräuselte den See, über dem die letzten schwachen Sonnenstrahlen lagen.

6 Wochen nach jenen Ereignissen, am 10. Oktober gegen 17 Uhr, erreichten 4 der Jungen die südliche Spitze des Family-lake. Doniphan, Croß, Webb und Wilcox, die sich im Streit von ihren Kameraden getrennt hatten, saßen um ein kleines Lagerfeuer herum und grillten ein paar Enten zum Abendessen. Dann hüllten sie sich in ihre Decken und schliefen ein.

Während der ersten Wochen ihres zweiten arktischen Winters auf der Insel Chairman waren die Beziehungen zwischen Briant und Doniphan zusehends gespannter geworden. Die Streitereien häuften sich, weil Doniphan, ohnehin sauer über den Wahlausgang, sich den Befehlen und Anordnungen des jetzigen Oberhauptes nicht beugen wollte. Seit der Schlittschuhpartie auf dem zugefrorenen See, wo Doniphan die Ermahnung Briants in den Wind geschlagen hatte, wuchs dessen Verärgerung.

Bisher hatte Gordon von Briant verlangt, er solle sich so gut wie möglich zurückhalten und jedem Streit aus dem Weg gehen. Aber Briants Geduld war zu Ende. Sollte nicht die gesamte Kolonie von French-den darunter leiden, so mußten Doniphan und seine Gruppe entschiedener als je zuvor zur Ordnung gerufen werden. Vergebens hatte Gordon auch versucht, Doniphan ins Gewissen zu reden. Sein früherer Einfluß auf ihn war gänzlich geschwunden. Doniphan konnte ihm nicht verzeihen, daß er immer die Partei seines Gegners ergriffen hatte. Seine Interventionen waren zwecklos. Das Miteinander in French-den wurde immer peinlicher und gedrückter, natürlich merkten auch die anderen, was da vorging bzw. sich zusammenbraute.

Nur zu den Mahlzeiten trafen Doniphan und seine Leute mit der übrigen Truppe zusammen, sonst hielten sie sich abseits. War das Wetter zu schlecht für die Jagd, dann saßen sie in irgendeiner Ecke der Halle zusammen und tuschelten leise miteinander.

»Ohne Zweifel hecken sie einen Plan aus«, sagte Briant eines Tages zu Gordon.

»Doch nicht etwa gegen dich? Den Versuch, dir deine Stellung streitig zu machen, würde Doniphan nicht wagen. Er weiß zu gut, daß wir alle auf deiner Seite stehen.«

»Vielleicht denken sie daran, sich von uns zu trennen.«

»Schon möglich, wir hätten ja kein Recht, sie daran zu hindern.«

»Wollen sie sich an anderer Stelle der Insel Chairman niederlassen?«

»Daran denken sie vielleicht gar nicht, sie wollen wahrscheinlich nur, daß etwas geschieht, und zwar gegen dich, vielleicht auch gegen mich.«

»Natürlich denken sie daran, Gordon, ich habe gesehen, wie Wilcox eine Kopie der Karte Baudoins an sich genommen hat.«

»Wirklich?«

»Ja, mir scheint, wir sollten die Sache nicht auf die Spitze treiben. Ist es nicht das Gescheiteste, ich trete von meinem Posten zurück und mache einem anderen Platz? Das könnte einen offenen Eklat verhindern.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage. Du bist und bleibst so lange Oberhaupt, wie dein Mandat dauert. Du hast Pflichten, vor allem gegen die Kleinsten von uns, vergiß das nicht.«

In so gedrückter Stimmung verging der Winter. Mit den ersten Oktobertagen hörte die Kälte auf, der Family-lake und der Rio Sealand wurden langsam wieder eisfrei. Da, am Abend des 9. Oktober, trat Doniphan offen mit seinem lange geplanten Entschluß hervor, zusammen mit Wilcox, Croß und Webb French-den zu verlassen.

»Ist das euer Ernst?« fragte Gordon ruhig.

»Wir wollen euch nicht verlassen, sondern lediglich eine andere Höhle bewohnen, deshalb gehen wir weg.«

»Warum?«

»Ganz einfach, wir wollen uns nichts mehr vorschreiben lassen wie bisher, es paßt mir nicht, nach Befehl Briants zu handeln!«

»Was hast du mir denn vorzuwerfen?« fragte ihn Briant.

»Daß du das Oberhaupt unserer Kolonie bist. Zuerst war es ein Amerikaner, jetzt ein Franzose, der nächste, der drankommt, wird wahrscheinlich Moko, der Neger, sein!«

»Das kannst du nicht ernst meinen, Doniphan!« sagte Gordon.

»Mir paßt die ganze Sache nicht, damit basta!«

»Wie ihr wollt; ihr seid frei, niemand wird euch daran hindern, von uns wegzugehen; ihr erhaltet auch euren Anteil der Geräte und Nahrungsmittel.«

»Morgen verlassen wir French-den!«

»Hoffentlich müßt ihr euren Entschluß nicht bereuen.«

Doniphan hatte folgendes Projekt im Kopf: Briant hatte von seinem Ausflug zur Deceptions-Bai berichtet, daß man dort unter den Felsen sehr gut unterkommen könne. Die Wälder im Osten reichten bis an das Ufer des Family-lake. Der East-river lieferte Trinkwasser, außerdem gab es dort ebensoviel Wild wie hier. Die Entfernung zwischen French-den und der Küste betrug in gerader Linie nur 18 km, 9 km Fahrt über den See, 9 km entlang des East-river bis zur Küste. Im Notfall war die Verbindung also sehr schnell herzustellen.

Nach eindringlichen Erörterungen dieser Tatsachen hatte Doniphan die 3 anderen endlich überredet, mit ihm am anderen Ufer der Insel zu hausen. Allerdings schlug Doniphan nicht vor, mit der Jolle den Family-lake zu überqueren, so kühn war er nun doch nicht. Er wollte zur Südspitze des Sees wandern, dann nordwärts gehen bis zum East-river und von dort immer weiter bis zum Meer. Die ganze Strecke maß etwa 24 km, für die geübten Jäger eine nicht allzulange Strecke.

Zuerst wollten sie zur Deception-Bai wandern und dort an der Küste eine bewohnbare Höhle ausfindig machen. Danach wollten sie nach French- den zurückkehren und das genau aufgeteilte Material wie Geräte, Proviant, Werkzeuge, Kleider, Planen, Decken, Fernrohre, Waffen und Munition abholen und auf dem gebastelten Wagen zu ihrem neuen Lagerplatz schaffen. Doniphan dachte daran, das zusammenklappbare Halkett-boat mitzunehmen, um damit verschiedene Flußläufe genauer untersuchen zu können.

Am folgenden Morgen bei Sonnenaufgang verabschiedeten sich Doniphan und die anderen von ihren Kameraden. Keine der beiden Parteien ließ sich etwas von der sie beherrschenden Enttäuschung anmerken. Moko ruderte sie über den Rio Sealand, danach verschwanden sie schnell im Dickicht unter den Bäumen.

»Wenn die Entfernungen auf der Karte des Franzosen stimmen, müssen wir 10 km von hier auf den East-river stoßen. Das könnten wir bis heute abend geschafft haben.« »Warum den Weg nicht abkürzen und gleich nach Nordosten gehen?«

»Ja, das ist doch viel besser!«

»Sicher«, sagte Doniphan, »doch warum in das uns ganz unbekannte Sumpfgebiet marschieren, wer weiß, vielleicht müssen wir auf halbem Weg wieder umkehren. Gehen wir ruhig am Seeufer entlang, das ist bequemer und sicherer!«

»Außerdem lernen wir so auch den East-river einmal kennen.«

»Richtig, er ist ja die einzige Verbindungsstraße zwischen der Küste und dem Family-lake.«

Auf einem schmalen Fußpfad ging es zügig voran. Um 11 Uhr war Rast. Wilcox hatte ein Aguti erlegt, das Croß gezwungenermaßen zubereitete. Dann ging es weiter.

Gegen 18 Uhr hatten sie die Mündung des East- river in den Family-lake erreicht. Doniphan entdeckte noch Spuren von Asche, die von einem früheren Ausflug der Kolonisten stammten.

»Hier müssen Briant, Jacques und Moko übernachtet haben«, sagte Doniphan, »die Stelle ist gut, bleiben wir die Nacht über hier.«

Am anderen Morgen mußte der East-river überquert werden. »Machen wir es gleich hier und wandern dann bis heute abend zur Küste.«

»Auf der anderen Seite hat Moko auch die Zirbelnüsse gesammelt. Wir sollten ebenfalls einen kleinen Vorrat mitnehmen, wer weiß!«

Das Halkett-boat wurde auseinandergefaltet und zu Wasser gebracht. Doniphan ruderte als erster hinüber, danach kamen Wilcox, Croß und Webb. Sofort wurde das Boot wieder zusammengelegt, die Zeit drängte.

Der Tag wurde sehr anstrengend. Das üppig wuchernde Gras, die tief herabhängenden Äste, dazwischen kleinere Moraststellen, die man erst bemerkte, wenn man drin stand - das alles verzögerte das Lauftempo. Erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichten die Umsiedler das Ufervorland. Es war bereits zu finster, um noch etwas Genaueres erkennen zu können. Nur das Meer brandete unaufhörlich gegen den Strand.

»Übernachten wir heute unter freiem Himmel«, schlug Doniphan vor. Nach dem Abendessen schürten sie noch einmal kräftig das Lagerfeuer, danach legten sich Wilcox, Croß und Webb schlafen. Doniphan wollte wachen. Er hatte viel Mühe, gegen den Schlaf anzukämpfen, denn der Tag war ziemlich anstrengend gewesen. Schließlich nickte auch er ein.

Die Nacht verlief ohne jede Störung.

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