Den Hut fest unter einen Arm geklemmt, betrat der Ehrenwerte Leutnant Oliver Browne die große Achterkajüte und blieb wartend stehen, bis Bolitho von seinen Papieren aufblickte.
«Ja?»
Brownes weltläufige Züge blieben unbewegt, als er meldete:»Segel in Nordwest gesichtet, Sir. «Aus Erfahrung wußte er, daß Bolitho den Ruf aus dem Ausguck längst gehört hatte.
«Danke.»
Bolitho rieb sich die müden Augen. Sie hatten über eine Woche gebraucht, um den Treffpunkt mit dem Rest des Geschwaders zu erreichen. Zwei schnellen Segeltagen mit frischem achterlichem
Wind waren schlechtere Tage gefolgt, in denen immer wieder Segel und Rahen neu getrimmt werden mußten, weil der Wind umsprang; unzählige Male mußten die müden Toppsgasten aufentern, um in einer plötzlichen Sturmbö die Segel zu kürzen, und kaum waren sie unten an Deck, hieß es wieder aufentern zum Ausreffen, weil der Wind nachgelassen hatte.
Ihr Kurs hatte sie erst nach Westen auf den Atlantik hinaus geführt und dann nach Norden, an der Küste Portugals entlang. Ab und zu hatten sie ein fremdes Schiff gesichtet, aber wegen der Schwerfälligkeit der beiden großen Linienschiffe und wegen der großen Entfernung war nähere Rekognoszierung unterblieben. Jetzt warf Bolitho seinen Stechzirkel aus Messing auf die Seekarte und erhob sich.»Was für ein Schiff könnte das sein?»
Und welche Neuigkeiten würden ihn bei seinem kleinen Geschwader erwarten? Ganymede sollte inzwischen mit jedem der patrouillierenden Schiffe Kontakt aufgenommen und angekündigt haben, daß die Flagge des Konteradmirals bald wieder über dem Geschwader wehen würde.
«Angeblich eine Fregatte, Sir«, antwortete Browne.
Ihre Blicke trafen sich. Das ließ auf Phalarope schließen, es sei denn, sie hatten ein französisches Schiff vor sich, das unbemerkt durch die Blockade geschlüpft war.
«Darf ich mich erkundigen, welches Ihre Pläne sind, Sir?«forschte Browne.
«Zuerst werde ich mit Emes sprechen.»
Im Geist hörte er noch Herricks Worte: >Überlassen Sie ihn, mir, Sir. Ich erledige ihn ein für allemal.< Herrick war zwar loyal, aber voreingenommen. Und wie mochte Adam die Sache beurteilen? Schon zweimal hätte er beinahe einen frühen Tod gefunden, weil er den guten Namen seines Onkels verteidigte. Aber nein, Emes dünkte Bolitho nicht der Mann, der Adams Karriere opfern würde, um seinen eigenen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Vor einem Kriegsgericht allerdings waren schon die unvermutetsten Wendungen eingetreten.
Draußen hörte er Herricks Schritte näher kommen; Ozzard beeilte sich, ihm die Lamellentür zu öffnen, und Bolitho bat Browne, sie allein zu lassen.
Herrick stürzte in die Kajüte und nahm kaum wahr, daß der Flaggleutnant an ihm vorbei hinauseilte.
«Nehmen Sie Platz, Thomas«, wies Bolitho ihn an.»Und beruhigen Sie sich.»
Noch geblendet vom gleißenden Sonnenlicht, sah Herrick sich nervös in der Kajüte um.
«Ich mich beruhigen, Sir? Das ist viel verlangt. «Er verzog das Gesicht.»Es ist doch tatsächlich Phalarope.«Fragend hob er die Augenbrauen.»Das überrascht Sie nicht, Sir?»
«Nein. Während unserer Abwesenheit hatte Kapitän Emes hier das Kommando. Er ist ein erfahrener Kommandant. Wäre da nicht sein früheres Mißgeschick, hätte sein Verhalten bei der Ile d'Yeu kaum Kritik ausgelöst. Nicht einmal von Ihnen, Thomas.»
Herrick rutschte auf seinem Stuhl herum.»Das bezweifle ich.»
Bolitho trat zu den Heckfenstern und beobachtete die Möwen, die über dem Kielwasser kreisten; der Koch hatte wahrscheinlich Abfälle über Bord geworden.
«Ich brauche jeden erfahrenen Offizier, Thomas. Wenn einer davon versagt, dann trifft seinen Kommandanten die Schuld. Und wenn ein Kommandant sich als zu schwach erweist, dann liegt die Verantwortung dafür beim Admiral. «Er lächelte säuerlich.»In Emes' Fall also bei mir. «Erhob die Hand.»Nein, lassen Sie mich ausreden, Thomas. Viele Offiziere meines Geschwaders sind noch unerfahren. Wenn sie bisher auf zornigen Widerspruch stießen, dann kam er von keinem höheren als dem Master oder dem Ersten Offizier. Habe ich recht?»
«Kann schon sein, Sir.»
Bolitho lächelte.»Das ist nicht gerade eine begeisterte Zustimmung, Thomas, aber für den Anfang reicht's. Wenn wir, wie es meine Absicht ist, diese französischen Schiffe angreifen und vernichten wollen, werde ich von meinen Kommandanten das Äußerste verlangen müssen. Inzwischen steht fest, daß wir auf Verstärkung nicht hoffen können, auch Sir John Studdart hatte keine Anweisung, eines seiner eigenen Schiffe zu unserer Unterstützung abzustellen. «Bolitho bemühte sich gar nicht erst, die Verbitterung in seinem Ton zu verbergen.»Nicht mal ein armseliges Mörserboot!»
Oben an Deck erklang Wolfes durch den Schalltrichter verstärkte Stimme, gefolgt vom Klappern der Blöcke und Knirschen der Fallen, als die Männer seinen Befehlen nachkamen.
Herrick erhob sich.»Wir gehen auf den anderen Bug, Sir.»
«Lassen Sie sich nicht aufhalten, Thomas. Wenn Sie so weit sind, drehen Sie bitte bei und rufen Sie Kapitän Emes an Bord. Er wird schon damit rechnen.»
«Trotzdem glaube ich. «Herrick verschluckte den Rest und grinste bedauernd.»Aye, aye, Sir.»
Kurz darauf erschien Browne wieder in der Kajüte und meldete:»Wir signalisieren Phalarope, daß der Kommandant an Bord des Flaggschiffs erwartet wird. «Seine Stimme klang verwundert.»Ich hätte gedacht, daß Sie auch Ihren Neffen kommen lassen, Sir?»
«Ich möchte ihn sehr gern sehen. «Bolitho blickte zu den Decksbalken auf, als oben nackte Füße über die Planken hasteten.»Und ich komme mir schäbig vor, weil ich mich seiner bediene.»
«Inwiefern bedienen Sie sich Pascoes, Sir?»
«Emes ist Kommandant der Phalarope und kann entscheiden, ob er als freundliche Geste mir gegenüber seinen Ersten Offizier mitbringt oder nicht. Tut er es nicht, beherrscht er das Feld allein und hat keinen Widerspruch zu befürchten, zumal er der erste Kommandant ist, den ich hier anhöre. Andererseits — wenn er meinen Neffen mitbringt, riskiert er, daß Adam gegen ihn spricht.»
Brownes Gesicht hellte sich auf.»Das ist ein kluger Schachzug,
Sir.»
«Man lernt dazu, Oliver. Auch wenn's schwerfällt.»
Das Deck krängte stark und die Rahen ächzten, als die Benbow schwerfällig beidrehte. Achteraus sah Bolitho die Nicator Segel kürzen und etwas zurückfallen, um besser über ihre Begleitschiffe wachen zu können.
Browne meldete sich ab.»Ich gehe an Deck, Sir.»
«Ja. Halten Sie mich auf dem laufenden.»
Mit der Hand schon auf der Klinke, sagte Browne zögernd:»Und wenn Kapitän Emes Sie enttäuscht, Sir…»
«Dann expediere ich ihn mit dem nächsten Schiff vors Kriegsgericht. Wie ich schon zu Kapitän Herrick sagte, brauche ich dringend jeden guten Offizier, aber ich schicke Phalarope lieber unter dem Kommando eines Kadetten gegen den Feind, als noch mehr Menschenleben zu opfern, weil ich den guten Onkel spielen will!»
Browne nickte zufrieden und trollte sich.
Als er blinzelnd ins Sonnenlicht trat, fiel Herrick über ihn her:»Und womit vertreiben Sie sich die Zeit, Mr. Browne?»
«Ich war beim Admiral, Sir. Er hat mir seine Einschätzung der Lage dargelegt, Punkt für Punkt, wie ein Maler ein Bild komponiert.»
«Hm. «Herrick wandte sich der alten Fregatte zu, die jetzt mit backstehenden Segeln in den Wind drehte, um ein Boot auszusetzen.»Hoffen wir, daß niemand den Rahmen zerbricht, ehe das Bild fertig ist«, fügte er trocken hinzu, und als er Brownes überraschtes Gesicht gewahrte:»O ja, Mr. Browne mit e, auch andere Leute haben Grips im Kopf, müssen Sie wissen.»
Browne verkniff sich ein Grinsen und ging nach Lee hinüber, als Major Clinton, dessen Gesicht fast so rot war wie sein Uniformrock, auf Herrick zumarschiert kam und fragte:»Ehrenwache,
Sir?»
«Ja. Lassen Sie sie an der Pforte antreten, immerhin ist er Kapitän. «Er wandte sich ab und murmelte wie zu sich selbst:»Jedenfalls noch.»
Der Midshipman der Wache rief:»Boot hat abgelegt, Sir!»
Browne hastete in die Poop und fand Bolitho an den Kajütfenstern stehen, als hätte er sich die ganze Zeit nicht bewegt.
«Die Gig der Phalarope legt gleich an, Sir. «Er sah, daß Bo-lithos auf dem Rücken verschränkte Hände sich verkrampften. Leise setzte er hinzu:»Kapitän Emes wird von Ihrem Neffen begleitet, Sir.»
Er hatte irgendeine Reaktion erwartet, aber Bolitho antwortete scheinbar zusammenhanglos:»Für mich waren Stabsoffiziere früher so etwas wie halbe Götter. Sie schufen Sachlagen und trafen Entscheidungen, während wir als Wesen niedrigerer Ordnung lediglich zu gehorchen hatten. Aber jetzt weiß ich es besser. Vielleicht hatte Vizeadmiral Studdart doch recht.»
«Sir?»
«Ach, nichts. Ozzard soll meinen Rock bringen. Wenn ich mich schon mit mir selbst im Widerstreit befinde, wird es Emes bestimmt noch sehr viel schlimmer ergangen sein. Also wollen wir es hinter uns bringen, ja?»
Das Schrillen der Pfeifen, das Stampfen der Ehrenwache an der Schanzkleidpforte drang in die Kajüte.
Als Ozzard ihm in den schweren Galarock half, fiel Bolitho plötzlich wieder das erste Schiff ein, das er befehligt hatte: wie klein, eng und intim war dort alles an Bord! Aber schon damals war er der Meinung gewesen — und daran hatte sich nichts geändert — , daß es die kostbarste Gabe war, die einem Menschen jemals zuteil werden konnte, wenn er ein Schiff anvertraut bekam.
Aber jetzt wurden die Schiffe von anderen befehligt, und er mußte sie alle führen und über ihr Geschick bestimmen. Was auch geschehen mochte, er wollte niemals vergessen, was sein erstes Schiff für ihn bedeutet hatte.
Browne meldete:»Kapitän Emes von der Phalarope, Sir.»
Bolitho trat hinter seinen Schreibtisch.»Ich brauche Sie nicht mehr, Oliver.»
Hätte Bolitho Kapitän Emes an Land oder in anderer Umgebung wiedergesehen, er hätte ihn wahrscheinlich nicht erkannt. Emes hielt sich immer noch sehr gerade, als er jetzt vor dem Tisch stand, den Hut unter den Arm geklemmt, eine Hand fest — zu fest — um den Säbelgriff gekrampft. Aber trotz der langen Wochen vor Belle Ile, bei schönstem Wetter, war Emes leichenblaß. In dem vom Wasser reflektierten Sonnenlicht leuchtete seine Haut wächsern. Er zählte erst 29 Jahre, sah aber um zehn Jahre älter aus.
«Nehmen Sie Platz, Kapitän Emes«, begann Bolitho.»Dies ist ein informelles Gespräch, ich muß Sie aber darüber informieren, daß Sie im günstigsten Falle eine Untersuchung zu erwarten haben, im schlimmsten Falle…«Er hob die Schultern.»Jedenfalls würde ich dann eher als Zeuge auszusagen haben denn als Ihr Vorgesetzter oder als Beisitzer.»
Emes ließ sich vorsichtig auf die Stuhlkante nieder.»Jawohl, Sir. Ich verstehe.»
«Das möchte ich bezweifeln. Aber bevor ich etwas unternehme, muß ich Ihre eigene Version der Ereignisse am Morgen des 21. Juli erfahren, als Styx unterging.»
Emes gab seine Erklärung langsam und überlegt ab, als hätte er für diesen Augenblick schon oft geprobt.»Ich fand mich mit meinem Schiff in der günstigen Lage, einerseits die von See herankommenden französischen Einheiten sehen zu können, andererseits auch die Streitmacht, die Sie mit Styx unter Beschuß nehmen wollten. Da der Feind den Windvorteil hatte, kam ich zu dem Ergebnis, daß uns nicht genug Zeit blieb, zunächst die französischen Landungsboote zu vernichten und uns anschließend rechtzeitig freizukreuzen. Wie befohlen, hielt ich mein Schiff deshalb in Luv, um notfalls.»
Bolitho beobachtete Emes ohne jede Regung. Es würde nicht schwer sein, ihn als Feigling abzustempeln, aber ebenso leicht überkam ihn Mitleid für den Mann.
Er unterbrach Emes mit einer Zwischenfrage:»Als Styx mit dem Wrack kollidierte, wie verhielten Sie sich?»
Emes sah sich um wie ein Tier in der Falle. »Styx hatte keine Überlebenschance. Ich sah sie in voller Fahrt auflaufen, ihre Masten kamen von oben, sie reagierte nicht mehr aufs Ruder. Sie war vom ersten Augenblick an, wie klar ersichtlich, ein Totalverlust. Ich — ich wollte zuerst alle Boote aussetzen und retten, was es noch zu retten gab. Es fällt schwer zuzusehen, wie Menschen sterben.»
«Aber genau das haben Sie getan. «Bolitho war selber überrascht, wie neutral seine Stimme klang; weder Hoffnung noch
Mitleid lag darin.
Emes' Blick zuckte zu ihm hinüber, bevor er wieder gehetzt durch die Kajüte wanderte.
Gepreßt sagte er:»Ich war der ranghöchste Kommandant auf dem Schauplatz, Sir. Da ich nur Rapid mit lediglich vierzehn Kanonen zur Unterstützung hatte, sah ich für ein Rettungsmanöver keine vernünftige Chance. Die feindlichen Schiffe, die unter vollen Segeln mit achterlichem Wind heranstürmten — ein Linienschiff und zwei Fregatten — , hätten Phalarope mit Sicherheit überwältigt. Was hätte ein so altes Schiff wie sie erreichen können? Es wäre ein sinnloses, blutiges Opfer gewesen. Und Rapid wäre ebenfalls dem Feind in die Hände gefallen.»
Bolitho sah an Emes' gequälten Zügen, daß er seine Entscheidung von damals mit all ihren Emotionen noch einmal durchlebte.
«Als ranghöchster Offizier hatte ich auch Verpflichtungen gegenüber Kapitän Duncan von Sparrowhawk. Er war über das Geschehen nicht im Bilde. Auf sich allein gestellt, wäre er als nächster Beute der Franzosen geworden. Das ganze Teilgeschwader wäre ve rnichtet worden, und der Hintereingang zur französischen Küste hätte eine Zeitlang weit offengestanden. «Er blickte auf seinen Hut hinab, den er so fest gegen seine Knie preßte, als könne er Kraft daraus ziehen.»Deshalb beschloß ich, mich aus dem Gefecht zu lösen, und befahl Rapid das gleiche. Danach habe ich den Patrouillendienst und die Blockade der französischen Häfen wie befohlen fortgesetzt. Nachdem Ganymede zu uns gestoßen war, konnte ich die Lücke schließen, die der Verlust von Kapitän Nea-les Schiff hinterlassen hatte. «Mit gramvollen Augen blickte er auf.»Sein Tod hat mich sehr betroffen gemacht.»
Damit ließ er wieder den Kopf sinken und schloß:»Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe, Sir.»
Bolitho lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Emes nachdenklich. Der Mann hatte weder um Milde gebeten noch um Entschuldigung für sein Verhalten.
«Und nun, Kapitän Emes: Bedauern Sie diese Entscheidung?»
Emes zuckte die Achseln, eine Bewegung, die den ganzen schmächtigen Mann zu schütteln schien.»Um die Wahrheit zu sagen, Sir, das weiß ich nicht. Ich war mir bewußt, daß ich meinen vorgesetzten Stabsoffizier seinem Schicksal auslieferte, indem ich Styx und ihre Überlebenden sich selbst überließ. Eingedenk meiner problematischen Personalakte hätte ich vielleicht alle Vernunft über Bord werfen und kämpfend untergehen sollen. Seither bin ich Offizieren begegnet, die aus ihrer Mißbilligung meines Verhaltens kein Hehl machen. Auch als ich an Bord der Benbow kam, schlug mir Feindschaft entgegen, und es wird genug Kameraden geben, die mich vor Ihnen verdammen. Also ein Kriegsgericht?«Mit einem Anflug von Trotz hob er den Blick.»Ich nehme an, das war unvermeidbar.»
«Aber Sie sind der Ansicht, daß Ihre Lordschaften schlecht beraten wären, wenn Sie vor Gericht gestellt würden?»
Emes kämpfte mit seinem Gewissen, als sei es ein Wesen außerhalb seiner selbst.»Nichts wäre leichter, als an Ihre Gnade zu ap-pelieren, Sir. Schließlich hätten Sie schon in den ersten Minuten des Gefechts von einer verirrten Kugel getroffen werden können, dann wäre ich ohnehin der ranghöchste Offizier vor Ort gewesen. In diesem Falle hätte ich Neale befohlen, das Treffen abzubrechen und sich zurückzuziehen. Und wenn er mir nicht gehorcht hätte, würde nun ihm und nicht mir ein Gerichtsverfahren drohen.»
Bolitho stand auf und trat zu den Heckfenstern. Dort draußen, nur zwei Kabellängen entfernt, lag Phalarope beigedreht, und ihre vergoldeten Schnitzereien an der Heckgalerie glänzten in der Sonne. Was mochte sie von ihrem neuesten Kommandanten halten? Er sah Emes' Spiegelbild im Glas, seine straffe, aber irgendwie leblose Körperhaltung. Ein Mann, der die Umstände gegen sich wußte, aber dennoch nicht klein beigab.
Bolitho sagte:»Ich kannte John Neale gut. Er war Kadett auf meinem Schiff. Das gleiche gilt für Kapitän Keen von der Nicator, während Kapitän Inch, der sich uns mit seiner Odin in Kürze anschließen wird, früher einer meiner Leutnants war. Und es gibt noch viele Männer wie sie, die ich seit Jahren kenne, deren Entwicklung ich verfolgte und zusah, wie sie den Anforderungen der
Kriegsmarine entsprachen oder ihnen zum Opfer fielen.»
Emes murmelte heiser:»Dann sind Sie vom Glück begünstigt, Sir, und um diese Freunde und ihre Haltung zu beneiden.»
Bolitho wandte sich um und studierte Emes eingehend.»Und natürlich ist da auch mein Neffe und Erbe. Ehemals Midshipman und jetzt Ihr Erster Offizier.»
Emes nickte.»Ich bin mir völlig klar darüber, daß er mir zürnt,
Sir.»
Bolitho setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und blickte auf den Stoß Papiere hinunter, die ihn nach dem Gespräch mit Emes in Anspruch nehmen würden. Nichts leichter, als Emes zu suspendieren, auch wenn kein geeigneter Ersatz für ihn aus England eintraf. Ein dienstälterer Leutnant, zum Beispiel einer wie Wolfe, konnte das Kommando bis auf weiteres übernehmen.
Und doch. Diese beiden Worte hingen fest wie Widerhaken.
«Für mich sind sie alle eine Stütze«, fuhr er fort,»während sie für Sie Hürden auf dem Weg nach oben bedeuten. Ihre Loyalität mir gegenüber bringt sie dazu, Sie zu verachten. Sogar mein Freund Kommodore Herrick, ein integrer und mutiger Mann, hat aus seinem Zorn von Anfang an kein Hehl gemacht. Immerhin hat er seine Beförderung, möglicherweise sogar sein Schiff auf den vagen Verdacht hin riskiert, daß er etwas über mein Schicksal erfahren könnte. Sie müssen also begreifen, daß Ihre anscheinend logische Verhaltensweise von anderen, die an diesem schrecklichen Morgen nicht einmal anwesend waren, sehr viel kritischer beurteilt wird.»
Nach einer Pause sagte Emes dumpf:»Dann gibt es keine Hoffnung mehr für mich, Sir.»
Wie still das Schiff schien, dachte Bolitho. Als ob alles den Atem anhielte. Er kannte solche Augenblicke aus Erfahrung, beispielsweise von der furchtbaren Meuterei im Spithead und der Nore. Ein einzelner Kanonenschuß oder die Kriegsgerichtsflagge waren dann Zeichen dafür, daß es um manchen tüchtigen Offizier genauso geschehen war, als hätte man ihn an der Großrah gehenkt oder durch die Flotte gepeitscht.
«Hoffnung gibt es immer, Kapitän Emes. «Bolitho erhob sich, und Emes sprang auf wie zur Urteilsverkündung. Er fuhr fort:»Ich jedenfalls halte Ihre Entscheidung für richtig, und immerhin war ich am Schauplatz des Geschehens.»
«Sir?«Emes schien zu schwanken und legte den Kopf schräg, als hätte ihn sein Gehör plötzlich in Stich gelassen.»Inzwischen weiß ich, daß die drei französischen Schiffe gezielt herbeigerufen waren. Damals ahnte das jedoch keiner von uns. An Ihrer Stelle hätte ich mich genauso verhalten müssen wie Sie. In diesem Sinne werde ich meinen Bericht an Ihre Lordschaften abfassen.»
Emes konnte sekundenlang nicht den Blick von ihm wenden.»Ich danke Ihnen, Sir. Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Ich wollte mich wie ein Ehrenmann verhalten, aber dem stand alles entgegen, was ich wußte. Meine Dankbarkeit ist größer, als ich sagen kann. Sie ahnen nicht, was mir Ihr Wort bedeutet. Was die anderen von mir denken oder sagen, kann ich ertragen, sie sind mir nicht wichtig. Aber Sie. «Er hob verlegen die Schultern.»Ich kann nur hoffen, ich hätte mich ebenso menschlich verhalten, wenn unsere Rollen vertauscht gewesen wären.»
«Also gut. Geben Sie mir einen ausführlichen Bericht über die Beobachtungen auf Ihren Patrouillen während meiner — äh — Abwesenheit, und wenn Sie Rapid sichten, signalisieren Sie ihr, daß sie so schnell wie möglich mit mir Fühlung aufnehmen soll.»
Emes befeuchtete sich die Lippen.»Jawohl, Sir. «Er wandte sich zum Gehen, zögerte aber noch.
«Na los, Kapitän Emes, heraus damit! Wir werden bald viel zu beschäftigt sein für Gegenargumente.»
«Nur noch eines, Sir. Sie sagten eben: >Ich hätte mich genauso verhalten müssen.<»
Bolitho runzelte die Stirn.»Sagte ich das?»
«Jawohl, Sir. Und ich danke Ihnen für dieses Wort. Aber da ich nun weiß, wie gut das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihren Männern ist, fiel mir auf, daß >müssen< das Schlüsselwort war. Sie sagten nicht: >Ich hätte mich genauso verhalten<. Da ich vorher noch nicht das Glück hatte, unter Ihnen zu dienen, hat mir dieser feine Unterschied die Augen geöffnet.»
«Aber jetzt dienen Sie unter mir, Kapitän Emes«, antwortete Bolitho,»also lassen Sie es dabei bewenden.»
Als Emes ging, trat Browne lautlos und mit neugierig funkelnden Augen in die Kajüte.
Bedrückt sagte Bolitho:»Emes sollte hier Admiral sein, Oliver, nicht ich. «Dann schüttelte er sich und sah der Wahrheit ins Gesicht. Emes hatte recht gehabt. Vielleicht hatte er sich mit dem Wort >müssen< unbeabsichtigt verraten. Denn insgeheim wußte er, daß er an Emes' Stelle ohne Rücksicht auf Vernunft der sinkenden Styx zu Hilfe geeilt wäre. Aber daß Emes sich richtig verhalten hatte, war ebenso wahr.
Browne räusperte sich diskret.»Ich merke schon, Sir, daß Sie einiges zu erklären haben werden.»
Er hielt die Tür für Bolitho auf, und in diesem Augenblick kam Pascoe im Sturmschritt durch den Vorraum geeilt.
Einige Augenblicke standen Onkel und Neffe sich nur wortlos gegenüber, dann brach es aus Pascoe hervor:»Ich kann dir gar nicht sagen, Onkel, mit welchen Gefühlen ich die gute Nachricht aufgenommen habe. Ich dachte. Als wir nichts hörten. Wir alle dachten.»
Bolitho legte dem jungen Leutnant den Arm um die Schultern und führte ihn zu den Heckfenstern. Vor ihnen lag die leere See, da Phalarope schon abgefallen war und die Kimm freigegeben hatte.
Auch die Rangabzeichen eines Leutnants konnten nicht verhindern, daß Bolitho in Adam den jungen Midshipman wiedererkannte, der einst auf seiner alten Hyperion den Dienst bei der Kriegsmarine angetreten hatte. Sein schwarzes Haar, das er neumodisch kurz geschnitten trug, war noch immer so störrisch wie damals, und seih Körper fühlte sich so mager an, als brauche er sechs Monate der guten Küche von Falmouth, um wieder etwas Fleisch anzusetzen.
«Adam, du mußt wissen, daß ich von deiner Versetzung auf die Phalarope nicht gerade beglückt war«, begann Bolitho.»Obwohl ich zugebe, daß die Chance, mit einundzwanzig Jahren Erster Offizier zu werden, auch einen Heiligen in Versuchung führen könnte. Und ein Heiliger bist du wahrhaftig nicht. Kapitän Emes hat mir von Fortschritten deinerseits nichts berichtet, aber ich hege keinen Zweifel, daß. «Er brach ab, weil Pascoe herumfuhr und ihn ungläubig anstarrte.
«Aber, Onkel! Hast du ihn etwa nicht abgesetzt?»
Bolitho hob die Hand.»Du bist mein Neffe, und wenn man mir die Pistole auf die Brust setzt, gebe ich zu, daß ich dich gerne mag.»
Aber so leicht kam er diesmal nicht davon. Pascoe ballte die Fäuste, seine dunklen Augen blitzten, als er ausrief:»Er hat dich dem sicheren Tod ausgeliefert! Zuerst konnte ich es gar nicht glauben! Ich habe ihn angefleht, ich wäre vor ihm fast auf die Knie gefallen!«Heftig schüttelte er den Kopf.»Nein, Emes taugt nichts, weder für deine Phalarope noch für ein anderes Schiff!»
«Wie hat die Crew der Phalarope reagiert, als Kapitän Emes ihr befahl, auf den anderen Bug zu gehen und vom Feind weg zu laufen?»
Die Frage brachte Pascoe aus dem Konzept.»Sie gehorchten natürlich. «Er hob den Blick.»Einerlei! Sie kannten dich eben nicht so, wie ich dich kenne, Onkel.»
Bolitho packte den Jungen an der Schulter und schüttelte ihn sanft, aber eindringlich.
«Was du da sagst, macht dich mir noch lieber, Adam, aber du begreifst doch, daß es meinen Standpunkt rechtfertigt? Ganz genauso habe ich es gerade deinem Kommandanten erklärt.»
«Aber.»
Bolitho ließ Pascoe los und lächelte bedauernd.»Und jetzt spreche ich nicht als Onkel zum Neffen, sondern als Konteradmiral, der dieses Geschwader befehligt, zu einem meiner Offiziere, der noch dazu ziemlich vorlaut ist. Emes hat sich nach bestem Wissen verhalten. Er ließ sich von seiner Beurteilung der Lage auch nicht durch die Überlegung abbringen, daß die Leute ihn verdammen würden. Wir können den Charakter des Mannes an der Spitze nicht immer kennen und mögen, genausowenig wie ich noch den Vorzug genieße, das Gesicht jedes Seemanns oder Soldaten unter meinem Kommando zu kennen.«»Das leuchtet mir ein.»
Bolitho nickte.»Gut. Ich habe genug Probleme, auch ohne daß du einen Privatkrieg mit deinem Kommandanten führst.»
Pascoe lächelte.»Das kommt schon in Ordnung, Onkel, ich verspreche es dir.»
Aber Bolitho war noch nicht zufrieden.»Ich meine es ernst, Adam. Emes ist dein Vorgesetzter, und du bist es ihm schuldig, dich mit ganzer Kraft und nach bestem Wissen für das Wohl des Schiffes einzusetzen. Solltest du fallen, darf zwischen der Besatzung und dem Kommandanten keine Kluft entstehen. Ein Erster Offizier hat die Brücke zu schlagen zwischen dem Achterschiff und dem Mannschaftslogis, und diese Brücke muß so fest sein, daß sie ihn überdauert. Sollte Emes fallen, muß die Besatzung dich als ihren Anführer akzeptieren und respektieren und nicht irgendwelche kleinlichen Streitereien aus der Zeit davor im Gedächtnis haben. Was ich sage, stimmt, Adam.»
«Sicherlich, Onkel. Trotzdem.»
«Herrgott, du wirst noch genauso stur wie Herrick. Und jetzt fort mit dir, zurück auf dein Schiff, und der Himmel sei dir gnädig, wenn ich drüben bei euch irgendwelche Laxheiten entdecke. Denn ich weiß nur zu gut, an wen ich mich dafür zu halten hätte!»
Diesmal grinste Pascoe übers ganze Gesicht.
«Danke, Onkel.»
Gemeinsam gingen sie aufs Achterdeck hinaus, wo Herrick in unbehaglichem Schweigen neben Kapitän Emes wartete.
«Der Wind frischt auf, Sir«, berichtete Herrick.»Darf ich vorschlagen, daß die Gig von Phalarope längsseits gerufen wird?«Er warf Emes einen schrägen Seitenblick zu.»Sollte mich nicht wundern, wenn ihr Kommandant so bald wie möglich auf sein Schiff zurückkehren möchte.»
Pascoes Blick glitt einmal zwischen den beiden hin und her, dann trat er forsch auf seinen Kommandanten zu.
«Vielen Dank, daß ich Sie begleiten durfte, Sir.»
Emes musterte ihn argwöhnisch.»Das war doch eine Selbstverständlichkeit, Mr. Pascoe.»
Bolitho wollte die enge Vertrautheit mit seinem Neffen noch einen Augenblick länger genießen.
«In Gibraltar habe ich Belinda Laidlaw getroffen«, berichtete er und spürte, wie ihm unter Pascoes überraschtem Blick das Blut ins Gesicht schoß.»Sie ist jetzt auf der Heimreise nach England.»
Pascoe lächelte.»Verstehe, Onkel — äh, Sir. Das wußte ich nicht. Es war sicher ein sehr erfreuliches Wiedersehen. «Sein Blick wanderte vergnügt von Bolitho zu Herrick.
Die Offiziere tippten zum Abschied grüßend an ihre Hüte, dann stieg Emes hinter Pascoe in die wartende Gig hinunter.
Wütend flüsterte Herrick ihnen nach:»Unverschämter junger Lümmel!»
Mit ernstem Gesicht wandte sich Bolitho ihm zu.»Weshalb, Thomas? Ist mir etwas entgangen?»
«Tja, äh, Sir, ich wollte sagen. «Herrick verstummte verwirrt.
Über ihnen beugte sich Wolfes mächtige Gestalt vor.»Gestatten Sie, daß wir das Schiff wieder in Fahrt bringen, Sir?»
Bolitho nickte knapp.»Gestattet. Ich fürchte, dem Kommodore hat es die Sprache verschlagen.»
Damit schritt er nach Luv hinüber, während die Deckswache wieder einmal an die Brassen und Schoten eilte.
Bewölkung war aufgezogen, es herrschte ein kurzer, steiler Seegang. Möglicherweise braute sich Schlechtwetter zusammen.
Bolitho sah der Gig nach, die gerade ihr Anlegemanöver am Mutterschiff fuhr, und ließ Pascoes Worte in sich nachklingen: >Ein sehr erfreuliches Wiedersehen.< Erriet er den wahren Sachverhalt, oder hatte er ihn nur necken wollen?
Eines stand jedenfalls fest: Pascoe freute sich für sie beide, und das machte die Dinge sehr viel leichter.
Die freudige Erregung, mit der Bolitho seine kleine Streitmacht wieder vereint hatte, wich allmählich nervtötender Langeweile, als die Tage sich zu Wochen dehnten, ohne daß etwas geschah. Durch Bolithos Anwesenheit wurde der Blockadedienst nicht kurzweiliger. Die öde Monotonie, mit der sie vor der feindlichen Küste auf und ab segelten, und das bei jedem Wetter, brachte es unausweichlich mit sich, daß Schlamperei und Aufsässigkeit einrissen; dies wiederum fiatte häufigere Disziplinarmaßnahmen zur Folge.
Zweifellos beobachtete der französische Admiral von einem sicheren Aussichtspunkt an der Küste das Auftauchen und Verschwinden ihrer Segel an der Kimm, während er sich reichlich Zeit nahm, seine wachsende Invasionsflotte für ihren letzten und entscheidenden Durchbruch zum Ärmelkanal vorzubereiten.
Ganymede war näher an die Küste befohlen worden, um nach verankerten Schiffen Ausschau zu halten, wurde aber von zwei feindlichen Fregatten sehr schnell verjagt, die auf dem Höhepunkt eines Gewitters über sie herfielen. Das engmaschige Nachrichtennetz der Semaphoren funktionierte also nach wie vor einwandfrei.
Aber bevor er sich auf die offene See zurückgezogen hatte, war dem Kommandanten der Ganymede der ungewöhnlich starke Fischereiverkehr aufgefallen.
Gegen Ende der dritten Woche sichteten die Ausguckposten die Linienschiffe Indomitable und Odin, die von Norden her zu ihrem Geschwader stießen. Bolitho atmete auf. Denn er hatte einen nachdrücklichen Rückruf erwartet oder einen Befehl Ihrer Lordschaften, Herrick den Oberbefehl abzutreten und sich selbst auf den Heimweg zu machen. Es hätte bedeutet, daß Beauchamps Pläne aufgegeben wurden und Styx umsonst geopfert worden war. Als die beiden Linienschiffe gravitätisch in Lee von Benbow ihre Stationen bezogen, säumten alle Männer der Freiwache die Reling und starrten neugierig hinüber, ob sie bekannte Gesichter entdeckten oder Neuigkeiten aus der Heimat erfuhren. Jede Kleinigkeit, die das traurige Einerlei des Blockadedienstes vertrieb, war hochwillkommen.
Bolitho stand mit Herrick an Deck, beobachtete den Austausch von Signalen und freute sich am vertrauten Anblick dieser stolzen Schiffe. Odin hatte er nicht mehr gesehen, seit sie vor Kopenhagen so grausam zusammengeschossen worden war; aber ohne Mühe konnte er sich das lange Pferdegesicht von Francis Inch, ihrem Kommandanten, vorstellen und wie er bei ihrem Wiedersehen vor Freude springen würde. Aber das mußte noch warten. Erst mußten Nachrichten ausgetauscht, Depeschen gelesen und beantwortet werden. Und außerdem hatte er gar keinen Anlaß, seine Kommandanten zusammenzurufen, dachte Bolitho, plötzlich ernüchtert.
Er nahm seinen gewohnten ungestörten Spaziergang auf dem Achterdeck wieder auf. Hin und her, hin und her marschierte er, und seine Füße stiegen dabei wie von selbst über Decksbeschläge und aufgeschossene Leinen hinweg.
Die Neuankömmlinge kürzten die Segel, und ein Beiboot mit einem dicken Postsack im Heck strebte auf die Benbow zu.
Als er sich genug Bewegung verschafft hatte, kehrte Bolitho in seine Kajüte zurück; ihm war seltsam melancholisch zumute, was vielleicht an der ersten Andeutung von Septemberfrost in der Luft lag oder auch an dem Mangel an Neuigkeiten. Bei rauhem Wetter war die Biskaya ein höllisches Seegebiet. Dann brauchte es mehr als tägliches Exerzieren, um die Besatzung alarm- und kampfbereit zu halten.
Also mußte bald etwas geschehen. Sonst hinderte der nahende Winter die Franzosen daran, ihre neue Invasionsflotte nach Norden zu verlegen. Aus demselben Grund mußten die Engländer dann ihre Blockadeschiffe von der gefährlichen Küste abziehen. Viel Zeit blieb nicht mehr.
Browne öffnete einen Briefumschlag nach dem anderen und stapelte die dienstlichen Schreiben auf der einen Seite, Bolithos private Post auf der anderen.
Schließlich faßte er zusammen:»Keine neuen Befehle, Sir.»
Das klang so heiter, daß Bolitho eine Zurechtweisung schon auf der Zunge lag. Aber er unterdrückte seinen Ärger. Es war nicht Brownes Schuld. Vielleicht hatte sein Geschwader von Anfang an nur Flagge zeigen sollen, weiter nichts.
Sein Blick blieb an einem Brief hängen, der auf dem Privatstapel ganz oben lag.
«Danke, Oliver.»
Er setzte sich und las ihren Brief ganz langsam, um nur ja nichts zu übersehen. Halb fürchtete er ein Wort des Bedauerns von ihr über das, was in Gibraltar zwischen ihnen geschehen war.
Aber ihre Worte streichelten ihn wie eine warme Sommerbrise. In Minutenfrist fühlte er sich seltsam erleichtert und entspannt, und sogar der alte Schmerz in seiner Schenkelwunde ließ nach.
Sie wartete auf ihn.
Entschlossen stand Bolitho auf.»Signal an Phalarope, Oliver, mit der Maßgabe, es an Rapid weiterzuleiten. «Belindas Brief in der Hand, schritt er ungeduldig in der Kajüte auf und ab.
Browne starrte ihn stumm an; dieser plötzliche Stimmungswechsel faszinierte ihn.
«Wachen Sie auf, Oliver!«schnappte Bolitho.»Sie wollten neue Befehle — gut, hier sind sie: Rapid wird angewiesen, die Umstände zu erkunden, unter denen ein Fischkutter gekapert werden könnte, und sofort Rückmeldung zu erstatten, wenn es soweit ist.»
Geistesabwesend hatte er sich mit dem Brief an die Lippen getippt und hob ihn jetzt an die Nase. Das war ihr Parfüm. Sie mußte ihn absichtlich parfümiert haben.
Browne, der hastig alles niedergeschrieben hatte, fragte:»Darf ich mich nach Ihren Absichten erkundigen, Sir?»
Bolitho grinste ihn an.»Tja, wenn sie nicht zu uns herauskommen wollen, müssen wir eben zu ihnen hinein!»
Browne erhob sich.»Ich lasse das Signal für Phalarope absetzen, Sir.»
Es würde ein großes Risiko bedeuten, einen dieser vielen Fischkutter abzufangen, die Ganymede beobachtet hatte. Aber wenigstens ließ sich das mit einer Handvoll Leute bewerkstelligen. Wenn sie entschlossen vorgingen und gut geführt wurden, mochten sie ihm den Schlüssel zu Konteradmiral Remonds Hintertür verschaffen.
Browne war bald wieder zurück, auf seinem Rock glänzten Wassertropfen.
«Der Wind frischt weiter auf, Sir«, sagte er.
«Gut. «Bolitho rieb sich die Hände. Im Geist sah er, wie sein Signal von Schiff zu Schiff weitergegeben wurde, ebenso schnell und zuverlässig wie über die Semaphorentürme des Feindes. Der junge Kommandant der Rapid, Jeremy Lapish, war gerade erst vom Leutnant zum Kapitän befördert worden. Er galt als kühn und tüchtig. Bolitho dachte auch an seinen Neffen, von dessen Schiff das Signal weitergegeben wurde; Adam mochte sich schon als Anführer des Überfalls sehen, mochte vom Hauen und Stechen des Nahkampfs träumen.
Browne setzte sich und blickte auf die mit dem rosa Band der Admiralität zusammengehaltenen Depeschen nieder.
«Noch vor kurzem«, sagte er ernst,»waren wir Gefangene, und ich muß oft daran denken, daß wir Neale unseren Zusammenhalt verdanken. Sein Zustand machte uns solche Sorgen, daß wir gar nicht dazu kamen, um unsere eigene Sicherheit zu fürchten. Ich denke noch oft an ihn.»
Bolitho nickte.»Ich auch. Hoffentlich können wir bald etwas tun, auf das er stolz wäre.»
Der Wind wurde stärker und sprang um, die Farbe der See wechselte von Blau zu Grau, und die ferne Küste verschwand in der Abenddämmerung; das Geschwader bezog Station für die Nacht.
Tief unten im Orlopdeck der Benbow saßen Allday und Tuck, der Bootsführer des Kommandanten, zwischen den ächzenden Planken gemütlich beisammen und teilten sich eine Flasche Rum. Sein starkes Aroma und das schwankende Licht der pendelnden Laternen vernebelten ihre Köpfe, trotzdem fühlten sich beide zufrieden.
«Glaubst du, daß dein Admiral kämpfen wird?«fragte Tuck scheinbar zusammenhanglos.
«Natürlich wird er das, Frank.»
Tuck verzog das Gesicht.»Wenn ich 'ne Frau hätte wie er, würd' ich um die Franzosen lieber einen großen Bogen machen. «Bewundernd sah er Allday an.»Und du wohnst bei ihnen im Haus, wenn du an Land bist?»
Alldays Kopf pendelte mit den Schiffsbewegungen hin und her. Er sah wieder die grauen Steinmauern vor sich, die grünen Hecken von Falmouth. Und das Mädchen aus dem George Inn, das ihm einoder zweimal zu Gefallen gewesen war. Aber dann wurde ihr Bild von Polly verdrängt, Mrs. Laidlaws neuer Zofe; die war nun mal ein besonders niedlicher Käfer, daran gab's keinen Zweifel.
Er antwortete:»Das stimmt, Frank. Ich gehöre zur Familie.»
Aber Tuck war schon eingeschlafen.
Allday lehnte sich an einen großen Spant und fragte sich, warum er sich so verändert hatte. Früher hatte er immer ein Eigenleben geführt, getrennt von dem, das Bolitho ihm in Falmouth anbot.
Dann dachte er an das bevorstehende Gefecht. Tuck hatte ja keine Ahnung, wenn er glaubte, Bolitho würde vor den Franzosen kneifen. Jetzt schon gar nicht, nachdem sie von ihnen so viel zu erdulden gehabt hatten.
Nein, sie würden kämpfen; aber Allday war beunruhigt, daß er sich deshalb solche Sorgen machte.
Tuck stöhnte im Schlaf und murmelte:»Wassis los?»
«Halt's Maul, du Idiot. «Allday kam taumelnd auf die Füße.»Komm, ich helf dir, deine Hängematte aufriggen.»
In etwa acht Meilen Entfernung war ebenfalls unter einer pendelnden Laterne von Kampf die Rede: Kapitän Lapish, Kommandant der Rapid, erklärte seinem Ersten Offizier, der ebenso jung war wie er selbst, was er vorhatte.
Die Brigg rollte stark im rauhen Seegang, der vom Ebbstrom noch aufgebaut wurde, aber weder Lapish noch sein Leutnant bemerkten es. Lapish sagte gerade:»Ihnen ist jetzt klar, Peter, was das Signal vom Flaggschiff bedeutet, und Sie wissen auch, wonach Sie Ausschau zu halten haben. Ich setze das Boot so dicht unter Land ab, wie ich kann, und warte dann, mich gut von der Küste freihaltend, auf Ihre Rückkehr — mit Fischkutter oder ohne. «Er grinste den Leutnant an.»Haben Sie Angst?»
«So wird man schneller befördert, Sir.»
Wieder beugten sich beide über die Seekarte und stellten ihre Berechnungen an.
Der Leutnant hatte seinen Admiral noch nie gesprochen, hatte ihn nur einige Male aus der Ferne gesehen. Aber was machte das aus? Schon morgen mochte ein neuer Admiral den Oberbefehl haben. Der Leutnant warf seinen Säbel auf die Bank, wo bereits seine beiden Pistolen lagen. Und schon morgen konnte er selbst tot sein.
Wichtig waren nur die nächsten paar Stunden.»Alles klar, Peter?«»Aye, Sir.»
Sie lauschten nach draußen, wo die Gischt aufs Deck krachte. Scheußliche Nacht für einen Bootsausflug, aber genau richtig für das, was sie vorhatten.
Aber wie dem auch sei: Sie hatten ihren Befehl vom Flaggschiff.