Kapitän John Neale von der Fregatte Styx beendete sein Morgengespräch mit dem Ersten Offizier und wartete ab, ob Bolitho von der Kajütstreppe auf ihn zukam. Es waren jetzt sieben Tage seit Plymouth, und Neale hörte nicht auf, sich über die scheinbar unerschöpfliche Energie seines Admirals zu wundern. Inzwischen hatte Bolitho sich einen gründlichen Überblipk verschafft — über die französische Küstenlinie ebenso wie über die ihm zur Verfügung stehenden Schiffe. Sie hatten eine schlimme Überraschung erlebt, als sie mit dem küstennahen Patrouillenschiff, der Fregatte Sparrowhawk, einen Tag nach Insichtkommen von Belle Ile Kontakt aufgenommen hatten. In Bolithos Einsatzgebiet operierte neben einer schnellen Brigg, die den passenden Namen Rapid trug, nur noch eine weitere Fregatte, die Unrivalled. Nein, sie hatte operiert. Neale verzog bitter den Mund. Ihr Kommandant hatte dicht unter der Küste gekreuzt und dabei einen fatalen Fehler begangen, indem er sich nicht genug Seeraum ließ, um notfalls schnell aufs offene Meer abdrehen zu können. Zwei gegnerische Schiffe hatten sich, vor dem Wind laufend, auf ihn gestürzt; nur mit knapper Not war er ihnen entkommen. Was aber Bolithos kleine Streitmacht betraf, so hätte Unrivalled ebensogut erbeutet oder versenkt sein können, denn sie hatte sich mit durchlöchertem Rumpf und unter Behelfsrigg absetzen müssen und hinkte jetzt nach Hause in die Sicherheit irgendeines Reparaturdocks.
Neale warf einen Blick hinauf zum Toppstander. Der Wind hatte schon wieder auf Nord gedreht, war frisch und böig. Hoffentlich erreichte der gerupfte Unglücksvogel den Hafen noch in einem Stück.
Bolitho nickte dankend, als Neale zum Gruß an seinen Hut tippte. Ganz gleich, wann er an Deck kam, Neale schien immer schon vor ihm da zu sein, und sei es vor Tagesanbruch. Wenn mit seinem Schiff irgend etwas nicht stimmte, dann wollte er es als erster erfahren und nicht von seinem Admiral hören; Neale machte seine Sache gut.
Während Allday ihm unten Kaffee servierte, hatte Bolitho über sein ausgedünntes Geschwader nachgedacht. Bis die versprochene Verstärkung eintraf, konnte er also nur auf zwei Fregatten zurückgreifen und auf die Brigg, die Verbindung mit den stärkeren Geschwadern nördlich und südlich von ihm halten mußte. Auf einer Wandkarte in Whitehall mochte sich das ja ganz passabel ausnehmen. Aber hier draußen in dieser Wasserwüste, wo das Morgengrauen einen ersten schmutziggelben Schimmer auf die endlosen Staffeln der weißen Wellenkämme warf, war es trostlos.
Immerhin sollten jetzt bald die Segel von Sparrowhawk querab in Sicht kommen, ihrer anderen Fregatte, die vor Belle Ile gekreuzt und auf den örtlichen Schiffsverkehr gelauert hatte, der sich dicht unter Land nach Nantes oder Lorient durchzuschlagen ve rsuchte.
Wie sie uns hassen müssen, dachte Bolitho. Uns und die zähen, sturmerprobten Schiffe, die mit jedem neuen Morgen wieder in Sicht kommen, stets bereit zum Angriff; sie warteten nur darauf, dem Feind eine Prise vor der Nase wegzuschnappen oder — wenn die französischen Admirale es wagten, ihnen die Stirn zu bieten — davonzujagen und die Hauptmacht der Blockadeflotte zu alarmieren.
So klein es war, sein Geschwader hatte Bolitho beeindruckt. Er hatte sowohl der Brigg wie auch der anderen Fregatte einen Besuch abgestattet, obwohl das hieß, bis auf die Haut naß zu werden, als er sich im schlingernden Boot übersetzen ließ. Aber sie mußten ihn kennenlernen, als sei er einer von ihnen und nicht ein ferner Flaggoffizier auf dem Achterdeck irgendeines pompösen Dreideckers. Nein, wenn es ums Letzte ging, mußten sie ihn als einen der Ihren sehen, der mitten im Gefecht stand.
Zu Neale meinte er:»Der Wind hat gedreht.»
Neale beobachtete seine Toppsgasten, die wieder einmal aufenterten, um die Bramsegel zu trimmen.
«Aye, Sir. Der Master ist überzeugt, daß er bis zum Abend noch weiter räumen wird.»
Bolitho lächelte. Dann würde es auch so kommen. Der Master und seinesgleichen durchschauten den Wind, noch ehe er selber wußte, was er wollte.
Sieben Tage seit Plymouth, das hallte wie ein Klagelied in seinem Kopf wider. Sieben Tage — und kaum Resultate. Selbst wenn sein ganzes Geschwader eintraf — was sollte er unternehmen oder anordnen?
Einer einzigen faulen Sache war er bisher auf die Spur gekommen. Alle beide Kommandanten, der derbe junge Duncan von Sparrowhawk ebenso wie der noch jüngere Lapish von Rapid, hatten die Leichtigkeit erwähnt, mit der die Franzosen die britischen Schiffsbewegungen konterkarierten. Im vergangenen Jahr hatten gut bestückte Linienschiffe immer wieder Häfen dieses Küstenabschnitts angegriffen, doch jedesmal waren die Franzosen darauf vorbereitet gewesen, hatten ihre eigenen Schiffe gefechtsbereit und die Küstenbatterien alarmiert; so war den Angriffen die Spitze genommen. Und das, obwohl die britischen Geschwader im Norden wie im Süden jedes angeblich neutrale Fahrzeug aufbrachten, durchsuchten und davonjagten, ehe es die wirkliche Stärke der Blockadeflotte erkunden konnte. Oder ihre Schwäche, dachte Bo-litho grimmig. Die Hände auf dem Rücken, ging er auf dem Achterdeck auf und ab, während er über diese minimale Erkenntnis nachdachte. Vielleicht kundschafteten die Franzosen nachts mit kleinen Fahrzeugen die Briten aus? Nein, die waren zu langsam und zu schwerfällig, um bei einer eventuellen Entdeckung zu entkommen. Eilkuriere, die mit einem Gewaltritt wie damals Browne die Nachricht zu den Befehlshabern entlang der Küste brachten? Möglich, aber unwahrscheinlich. Die schlechten Straßen und großen Entfernungen zwischen den einzelnen Küstenstädten hätten eine zu lange Verzögerung bedingt.
Obwohl er auf der Hut war, merkte Bolitho, daß seine Gedanken doch wieder nach Falmouth abirrten. Inzwischen mußte Belinda zu Hause sein. Zurückgekehrt in ein leeres Haus, wo sein einarmiger Diener Ferguson ihr nach besten Kräften Erklärungen und Trost offerieren würde. Was mochte sie von ihm halten? Sie, die nicht wußte, wozu die Kriegsmarine fähig war?
Belinda war jetzt vierunddreißig und damit zehn Jahre jünger als er. Man konnte nicht verlangen, daß sie auf ihn wartete, daß sie wieder wie in ihrer ersten Ehe Qualen ausstand.
Bolitho blieb stehen und umklammerte den Handlauf der Finknetze. Vielleicht gehörte sie schon jetzt, in diesem Augenblick, einem anderen. Einem Jüngeren vielleicht, der mit beiden Beinen fest an Land verwurzelt war.
Browne trat heran und wünschte ihm mit angegriffener Stimme einen guten Morgen.
Seit Plymouth hatte man Bolithos Adjutanten kaum an Deck gesehen. Aber selbst die älteren Seeleute erzählten mit genüßlichem Schauder, welche Rekorde Browne beim Fischefüttern aufstellte. Doch heute sah er schon etwas besser aus, dachte Bolitho. Ihm kam es vor wie Hohn, daß er selbst sich trotz seiner privaten und dienstlichen Sorgen gesundheitlich nie wohler gefühlt hatte. Das Leben an Bord und das ständige Kommen und Gehen von Männern, deren Gesichter ihm allmählich vertraut waren, erinnerten ihn ständig an seine Jugend als Fregattenkapitän. Er fühlte, daß er körperlich und geistig so fit war wie kaum jemals auf einem viel gewaltigeren Linienschiff.
«Wir müssen heute Kontakt mit Rapid aufnehmen, Mr. Browne«, sagte er.»Ich will sie dichter unter Land stationieren — es sei denn, der Master irrt sich mit seiner Wettervorhersage.»
Browne musterte Bolitho nachdenklich. Wie schaffte der Mann das bloß? Visitierte die anderen Schiffe des Geschwaders, besprach mit Neale jede Einzelheit der Küstenhandelsschiffahrt und des örtlichen Schiffsverkehrs und schien niemals müde zu werden.
Vielleicht setzte er sich selbst nur so unter Druck, um nicht ins Grübeln über andere, private Probleme zu geraten. Browne hatte Bolitho inzwischen doch durchschauen gelernt.
«An Deck!»
Browne blickte nach oben und verzog schmerzlich das Gesicht, als er die winzige Gestalt erblickte, die hoch über Deck gefährlich auf der Saling balancierte.
«Segel Steuerbord achteraus!«meldete der Ausguck.
Neale eilte herzu und rief auf ein kurzes Nicken Bolithos:»Alle Mann an Deck, Mr. Pickthorn! Wir gehen sofort über Stag und so hoch an den Wind wie möglich.»
Noch bevor der Erste Offizier sein Sprachrohr angesetzt hatte oder die Bootsmannsmaaten mit schrillenden Pfeifen durchs Mannschaftslogis rannten, stellte Neale schon seine Berechnungen an, obwohl er den Neuankömmling noch gar nicht sehen konnte.
Bolitho beobachtete, wie die Seeleute und Soldaten durch die Luken hasteten und auf beiden Seitendecks entlangrannten, bis sie von den Decksoffizieren und Steuerleuten auf ihre Stationen eingewiesen wurden.
«Es wird schon heller, Sir«, sagte Neale.»Bald werden Sie…»
«Bemannt die Brassen! Klar zur Wende!»
«Hartruder!»
Mit wild schlagenden Rahen und Segeln, mit Blöcken, in deren Scheiben die Taue kreischten wie Vögel in Todesnot, drehte Styx schwerfällig durch die Seen, wobei Spritzwasser bis zu den Seitendecks einstieg und die an den Brassen ziehenden Seeleute wie mit Schrotkörnern beharkte.
«Voll und bei, Sir! Kurs Südwest zu West!»
Unter Neales wachsamen Blicken wurde das Schiff wieder unter Kontrolle gebracht; es krängte so stark, daß die Stückpforten an der Leeseite fast eintauchten.
«Hinauf mit Ihnen, Mr. Kilburne, und nehmen Sie ein Fernrohr mit«, befahl Neale. Und fügte hinzu, ans Achterdeck im allgemeinen gewandt:»Wenn's ein Franzose ist, erledigen wir ihn, ehe er sich an der Küste verkriechen kann.»
«Große Worte«, murmelte Browne.
Bolitho spürte, daß Allday neben ihm wartete, und hob die Arme, damit der stämmige Bootsführer ihm den Säbel an den Gürtel schnallen konnte. Allday schien plötzlich gealtert zu sein, obwohl er gleich alt war wie Bolitho. Aber die unteren Decks hatten an Komfort nicht viel zu bieten. Selbst für den Bootsführer des Ad-mirals konnte das Leben nicht immer leicht sein dort unten; aber Allday hätte das als erster eifrig abgestritten, genauso wie er verletzt und wütend reagiert hätte, wenn Bolitho ihn nach Falmouth abkommandiert hätte, wo ihn wohlverdiente Bequemlichkeit und Sicherheit erwarteten.
Allday bemerkte Bolithos prüfenden Blick und grinste träge.»Ich kann diesen Milchbärten immer noch das Zittern beibringen,
Sir!»
Bolitho nickte bedächtig. Er wußte, wenn es einmal soweit sein würde, dann an einem Tag wie diesem, wenn Allday wie schon so oft die alte Familienwaffe brachte und einen dummen Witz dabei machte, den Neale als Außenseiter nicht mit ihnen belächeln konnte.
Bolitho hob den Blick zum Besanmasttopp, wo seine Flagge so steif auswehte, als sei sie aus bunt bemaltem Metall.
Schließlich riß er sich ärgerlich zusammen. Wenn Beauchamp einen anderen Admiral als ihn mit diesem Auftrag betraut hätte, wäre es ihm auch nicht recht gewesen.
Allday spürte Bolithos Stimmungsumschwung und zog sich beruhigt zurück.
Auf dem Achterdeck hoben sich mehrere Teleskope wie kleine Kanonenrohre, als Kilburnes Stimme hoch und dünn aus dem Masttopp erklang:»An Deck! Es ist ein britisches Schiff, Sir!«Dann eine kleine Pause, während der Midshipman oben wohl mit einer Hand das Signalbuch aufschlug.»Und zwar Phalarope, 32 Geschütze, unter Kapitän Emes, Sir!»
«Herr im Himmel«, murmelte Allday.
Mit verschränkten Armen wartete Bolitho, bis sich Styx wieder auf einen Wellenkamm hob und er die ferne Segelpyramide auf konvergierendem Kurs sehen konnte. Er hatte gewußt, daß sie an diesem Tag eintreffen würde; als die Leute vorhin an Brassen und Schoten geeilt waren, hatte er den Anlaß dafür vorausgeahnt.
Neale ließ den Blick nicht von ihm.»Ihre Befehle, Sir?»
Bolitho wandte sich um und sah die bunten Flaggen sich an der Signalrah entfalten: Die beiden Schiffe tauschten ihre KennNummern aus, nachdem sie einander auf den Punkt getroffen hatten. Für fast alle in der Mannschaft bedeutete dies eine willkommene Ablenkung, Unterstützung durch zusätzliche Feuerkraft.
«Bitte drehen Sie bei, sobald es Ihnen paßt«, wies Bolitho seinen Flaggkapitän an.»Und signalisieren Sie an — «, der Name wollte ihm nicht so leicht über die Zunge,»- an Phalarope, daß ich umgehend an Bord komme.»
«Aye, Sir.»
Bolitho ließ sich vom Midshipman der Wache ein Teleskop geben und ging zur Luvseite des Achterdecks hinüber. Dabei war er sich jeder seiner Bewegungen bewußt, als sei er ein Schauspieler auf der Bühne.
Mit angehaltenem Atem wartete er, bis das Schiff unter ihm vorübergehend ruhig lag. Und da war sie. Ihre Rahen schwangen schon herum, die Bramsegel und das Großsegel wurden mit Gewalt gebändigt, bis sie sich folgsam auf dem neuen Bug überlegte. Bolitho bewegte das Fernrohr um ein winziges Stück und erkannte — ehe der Bugspriet drüben wieder in einer Wolke von Gischt verschwand — die vertraute Galionsfigur: den vergoldeten Vogel auf dem Delpin.
Sie war noch die alte, und trotzdem stimmte etwas nicht mit ihr. Stirnrunzelnd bewegte Bolitho das Teleskop, bis er die Seeleute drüben wie Ameisen auf den Webeleinen und Seitendecks Laufplanken ausschwärmen sah, das Blau-Weiß der Offiziersuniformen neben dem Ruder erkannte.
Veraltet, das war's, was ihn an ihr störte. Wäßriges Sonnenlicht glänzte auf der hohen Kampanje der Fregatte, und Bolitho sah im Geiste wieder das feine, vergoldete Schnitzwerk vor sich, geschaffen von Meistern ihres Fachs. Ornamente aus einem anderen Jahrhundert. Neubauten wie Styx prunkten heutzutage nicht mehr mit solchen pompösen Accessoires, sie waren auch äußerlich zweckmäßiger und nüchterner, ganz auf die Erfordernisse der Seeschlacht oder einer Verfolgungsjagd konstruiert.
Neale ließ sein Fernrohr sinken und sagte heiser:»Alle Teufel der Hölle, Sir, aber mir kommt es vor wie gestern. Als würde man sich selbst zuschauen.»
Bolitho sah zu Allday hinüber, der an den Finknetzen stand, die Fäuste geballt, und der schnell segelnden Fregatte entgegenstarrte, bis ihm der Wind die Tränen in die Augen trieb.
Trotzdem zwang sich Bolitho, wieder hinüberzusehen. Für ihr Alter war sie noch recht flott, reagierte auf den Anblick des Flaggschiffs genauso prompt wie damals, als sie unter Bolithos Kommando nach Antigua gesegelt war.
Neale rief:»Lassen Sie beidrehen, Mr. Pickthorn! Und die Gig aussetzen!»
Browne erkundigte sich:»Werde ich benötigt, Sir?»
«Kommen Sie nur mit, wenn Sie sicher sind, daß Ihnen unterwegs nicht schlecht wird«, antwortete Bolitho.
Allday schritt zur Schanzkleidpforte und wartete, bis die Gig verholt und an den Großrüsten festgemacht war. Neales Bootsführer nickte ihm zu und überließ ihm wortlos seinen Platz an der Pinne. Bolitho sah das alles, ohne es wirklich zu registrieren. Also war die Neuigkeit schon auf dem ganzen Schiff bekannt, wahrscheinlich sogar auf allen Schiffen seines Geschwaders. Er grüßte die Offiziere und Seesoldaten an der Pforte mit einem Griff zum Hut und sagte leise zu Neale an seiner Seite:»Ich werde für uns alle die Bekanntschaft erneuern.»
An wen dachte er dabei? An Allday und Neale, an Herrick daheim in Plymouth, auch an seinen Steward Ferguson, der in der Schlacht bei den Saintes einen Arm verloren hatte. Oder sprach er auch für die anderen, die nie mehr zurückkehren würden?
Dann saß er im Heck der Gig, und die Riemen schlug bereits in die hochgehenden Seen, um das Boot gut frei zu halten von der Bordwand der Fregatte. Allday gab die Kommandos.»Alle Mann — zugleich!«Bolitho sah zu ihm auf, aber Allday hielt den Blick aufs Schiff gerichtet. Sie hatten beide gewußt, daß es so kommen konnte, aber jetzt waren sie befangen.
Bolitho hakte den Halsverschluß seines Bootsmantels auf und schlug ihn so zurück, daß die Goldepauletten mit ihrem neuen silbernen Stern sichtbar wurden.
Die Phalarope war nichts weiter als ein Schiff, das sein mageres Geschwader verstärken sollte, sagte er sich. Aber dann gewahrte er Alldays verkrampfte Schulterhaltung und wußte, er machte sich etwas vor.
Nach dem Knarren der Riemen und dem Klatschen des Spritzwassers kam es Bolitho an Deck der Phalarope seltsam still vor. Er rückte seinen Hut wieder zurecht und nickte kurz dem Offizier der Marineinfanterie zu, der seine Männer zum Empfang des Ad-mirals in zwei scharlachroten Reihen aufgestellt hatte.
«Kapitän Emes?«Bolitho reichte dem schlanken, mittelgroßen Mann, der auf ihn zutrat, die Hand; sein erster Eindruck war der von mißtrauischer Wachsamkeit, ein jugendliches Gesicht, dessen Mund schon harte, von Autorität geprägte Linien aufwies.
Emes sagte:»Es ist mir eine Ehre, Sie an Bord begrüßen zu dürfen, Sir. «Auch in der Stimme lag Wachsamkeit und Schärfe, als hätte er die Worte für diesen Anlaß vorher eingeübt.»Obwohl ich annehme, daß Sie Phalarope besser kennen als ich. «Hinter den gelassenen Augen schien sich ein Schleier herabzusenken, als bedaure er, schon zuviel gesagt zu haben. Er wandte sich halb zu seinen Offizieren, um sie Bolitho vorzustellen, aber sein Blick irrte schon weiter, suchte Fehler oder Mängel, irgend etwas, das seiner Schiffsführung ein schlechtes Zeugnis ausstellen mochte.
Bolitho konnte verstehen, daß ein Kommandant auf seinen neuen Admiral den besten Eindruck machen wollte, hing doch vielleicht sein Wohl und Wehe in der Zukunft davon ab. Aber er erriet, daß bei Emes noch mehr dahintersteckte. Daß er mit 29 Jahren schon Kapitän war und ein eigenes Schiff kommandierte, hätte ihn mit Stolz und mehr Selbstvertrauen erfüllen müssen.
Kurz und sachlich fuhr Emes fort:»Und auch meinen Ersten dürften Sie besser kennen als ich, Sir. «Er machte einen Schritt zur Seite, als wollte er Bolithos Reaktion beobachten.
Bolitho rief:»Adam! Das ist eine Überraschung.»
Leutnant Adam Pascoe wirkte in seiner Freude und Verlegenheit noch jünger als einundzwanzig.»Ich — tut mir leid, Onk… Sir«, stammelte er errötend.»Ich hatte keine Gelegenheit mehr, dich zu benachrichtigen. Meine Ernennung kam völlig überraschend, und ich mußte mit der ersten Post nach Irland aufbrechen.»
Sie musterten einander prüfend, als wären sie Brüder, nicht Onkel und Neffe.
Verlegen fügte Pascoe hinzu:»Sobald ich gehört hatte, auf welchem Schiff ich Dienst tun sollte, konnte ich kaum noch an anderes denken, muß ich gestehen.»
Bolitho schritt weiter und begrüßte den Zweiten und Dritten Offizier, den Master, den Schiffsarzt und den Hauptmann der Seesoldaten. Hinter ihnen standen die Midshipmen und viele Decksoffiziere, umgeben von den dichtgedrängten Reihen neugieriger Matrosen, alle so überrascht über den unerwarteten honen Besuch gleich bei ihrem ersten Einsatz, daß ihnen die private Wiedersehensszene an der Schanzkleidpforte entging.
Bolitho ließ den Blick übers obere Batteriedeck wandern, bemerkte die sauber aufgeschossenen Leinen und das straffe Rigg. Er erinnerte sich an das Gefühl, als er zum erstenmal den Fuß an Bord dieses Schiffes gesetzt hatte.
Schließlich räusperte er sich.»Lassen Sie die Männer wegtreten, Kapitän Emes, und gehen Sie in Luv von Styx auf Position. «Die Überraschung in Emes' Augen entging ihm.»Allday«, fuhr er fort,»schick die Gig zurück. Du selbst bleibst bei mir.»
Die Menge der Umstehenden löste sich in ein systematisches Chaos auf, als die Pfeifen das Signal zum Wegtreten gaben. Innerhalb von fünf Minuten hatte Emes die Untersegel und Bramsegel wieder anbrassen lassen; obwohl einige Seeleute auf die Kommandos noch langsam und sogar ungeschickt reagierten, war doch nicht zu übersehen, daß an Bord offensichtlich hart exerziert worden war, seit die Phalarope ihren Heimathafen verlassen hatte.
«Prächtiges Schiff, Sir«, meinte Browne mit einem Blick auf die hart in die Brassen einfallenden Seeleute.
Bolitho schritt das Luv-Seitendeck hinunter, wobei er weder die neugierigen Blicke der Seeleute rundum bemerkte noch Emes' Schatten hinter ihm.
Aber plötzlich blieb er stehen und deutete auf eine Stelle unterhalb der gegenüberliegenden Laufplanke. Kein Wunder, daß ihm das Schiff verändert schien: Statt der gewohnten Zwölfpfünder standen gedrungene Karronaden an den Stückpforten. Zwar wurden Karronaden oder» Zerschmetterer«, wie sie von den Seeleuten respektvoll genannt wurden, fast auf jedem Kriegsschiff gefahren, gewöhnlich vorn am Bug auf jeder Seite eine. Sie wurden mit bis zu 68 Pfund schweren Kartätschenkugeln geladen, die beim Aufprall zerplatzten und den Feind mit einem mörderischen Eisenhagel überschütteten, beispielsweise bei einem Schuß in das ungeschützte Heck. Aber eine ganze Schiffsbatterie nur aus Karronaden? Niemals! Zwar hatte man vor kurzem auf einer anderen Fregatte, der Rainbow, einen entsprechenden Versuch unternommen, aber es war ein Mißerfolg gewesen und im Nahkampf sogar ausgesprochen gefährlich für die eigenen Leute.
Emes beeilte sich zu erläutern:»Sie waren schon montiert, bevor ich die Aufsicht über die Wiederausrüstung des Schiffes erhielt, Sir. Wie ich hörte, entschloß man sich für Karronaden, als Phalarope für diesen Sektor hier bestimmt wurde. «Er machte eine Geste zum Achterdeck hin.»Aber ich habe immer noch acht Neunpfünder, Sir.»
Bolitho war Emes' defensiver Ton nicht entgangen. Er bemerkte nur:»Admiral Sir George Beauchamp muß gründlicher vorausgeplant haben, als ich vermutete. «Als Emes darauf nicht mit der Wimper zuckte, schloß Bolitho, daß er von ihren Einsatzbefehlen noch nichts wußte.
Ein Midshipman rief: «Styx signalisiert, Sir.»
Emes blaffte:»Komme sofort. «Aber es klang Erleichterung durch.»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, Sir?»
Bolitho nickte und schritt weiter das Seitendeck hinunter, hörte im Geist für immer verstummte Stimmen, sah fast schon vergessene Gesichter wieder vor sich.
Ein sauberes, diszipliniertes Schiff mit einem Kommandanten, der keinerlei Mätzchen duldete. Immer noch konnte er es kaum glauben, daß Pascoe hier Erster war. Als hätte er das alte Schiff von ihm geerbt. Jedenfalls war sein sehnlichster Wunsch damit fast verwirklicht, sagte sich Bolitho. Ihm selbst wäre es in dem Alter nicht anders gegangen.
Allday hinter ihm murmelte:»All diese Karronaden, Sir — wenn sie eine Breitseite abfeuern muß, zerreißt es ihr den Bauch.»
An der Back verhielt Bolitho, eine Hand auf einem abgewetzten Handlauf.»Hier hast du gestanden, Allday, damals bei den Sain-tes.»
Allday sah sich auf dem schrägliegenden Deck um.»Aye, Sir. Ich und ein paar andere. «Aber dann riß er sich aus seiner Melancholie.»Gott, haben uns die Franzosen an dem Tag eingeheizt, das muß der Neid ihnen lassen! Ich sah den Ersten fallen und kurz darauf den Zweiten. Mr. Herrick, jung, wie er damals war, mußte ihren Platz einnehmen, und ich selbst dachte mehr als einmal, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. «Er schaute in Bolithos überschattetes Gesicht.»Ich sah auch Ihren Bootsführer sterben, den alten Stockdale. Als er Ihnen den Rücken deckte, vor dem Feuer der französischen Scharfschützen.»
Bolitho nickte schmerzlich. Er hatte nicht einmal bemerkt, daß Stockdale sich für ihn geopfert hatte.
Allday rang sich ein trauriges Grinsen ab.»Damals schwor ich mir, Sir, wenn Sie am nächsten Tag noch lebten, dann wollte ich Stockdales Stelle bei Ihnen einnehmen. Seitdem habe ich das zwar mehr als einmal bedauert, Sir, aber trotzdem…»
Pascoe kam die Leiter vom Batteriedeck heraufgeklettert.»Kapitän Emes hat mich abgestellt, Sir, Sie durchs Schiff zu führen. «Verlegen lächelnd blickte er sich um.»Ich nehme an, sie hat sich ziemlich verändert?»
Bolitho warf einen Blick nach achtern und sah Emes' Gestalt sich dunkel vom blauen Himmel abheben. Wahrscheinlich beobachtete er sie und fragte sich, welche Vertraulichkeiten sie austauschten, an denen er nie teilhaben würde. Bolitho kam sich schäbig vor, aber er mußte einfach fragen.
«Hast du Mrs. Laidlaw gesehen, Adam?»
«Nein, Sir. Ich mußte noch vor ihrer Rückkehr aufbrechen. Aber natürlich habe ich einen Brief für sie hinterlassen.«»Danke.»
Nun war er doch froh, daß er Pascoe von seinem Vater erzählt hatte. Andernfalls.
Als könne er Gedanken lesen, sagte sein Neffe:»Als Vater während der amerikanischen Revolution gegen uns kämpfte, hat er doch auch dieses Schiff hier angegriffen. Ich habe lange darüber nachgedacht und nachzuempfinden versucht, was das für euch beide bedeutet hat.«Ängstlich starrte er Bolitho an, dann sprudelte er hervor:»Egal, ich wollte unbedingt an Bord, Onkel. Notfalls auch als rangniedrigster Offizier.»
Bolitho ergriff seinen Arm.»Das freut mich — für dich und für das Schiff.»
Ein Midshipman kam nach vorn gerannt und griff grüßend zum Hut.»Empfehlung des Kommandanten, Sir, es liegt eine Nachricht für Sie vor.»
Auf dem Achterdeck schien Emes von den Neuigkeiten nicht weiter aus der Ruhe gebracht. »Styx hat eine Brigg gesichtet, Sir, im Süden von uns.«Ärgerlich blickte er nach oben, als sein eigener Ausguckposten das fremde Segel meldete.»Der da muß blind geworden sein.»
Bolitho wandte sich ab, um sein Lächeln zu verbergen. Denn er wußte, daß Neale den Ausguck gehenden Midshipman im Topp oft mit einem starken Teleskop versah, wenn die Sicht so gut war, daß es sich lohnte.
Emes hatte seinen Ärger schnell wieder unter Kontrolle.»Darf ich Sie jetzt zu einem Glas Wein in die Kajüte einladen, Sir?»
Wieder mußte Bolitho den Mann ansehen. Er spürte, daß Emes sich vor ihm fürchtete; zumindest fühlte er sich sehr unbehaglich.
«Ja, danke. Signalisieren Sie Styx, sie soll Näheres auskundschaften, während wir uns diesen Schluck gönnen.»
Die Kajüte war so sauber und ordentlich wie das ganze Schiff, nichts lag herum, was über die Persönlichkeit ihres Bewohners Aufschluß gegeben hätte.
Emes füllte zwei Weingläser, während Bolitho durch die salzverkrusteten Heckfenster starrte und der auf ihn einstürmenden Erinnerungen Herr zu werden versuchte.
«Mr. Pascoe hält sich gut, Sir, so jung er auch ist.»
Bolitho musterte Emes über den Rand seines Weinglases.»Und wenn es anders wäre, würde ich keinerlei Nachsicht erwarten, Kapitän Emes.»
Diese unverblümte Antwort verunsicherte Emes.»Aha, verstehe, Sir. Aber man weiß ja, was die Leute so denken.«»Ja? Und was denke ich, Kapitän?»
Emes schritt in der Kajüte auf und ab.»Die Flotte hat so wenig erfahrene Offiziere, Sir, und ausgerechnet mir hat man das Kommando über dieses alte Schiff gegeben. «Er wartete auf ein Zeichen Bolithos, ob er zu weit gegangen war, aber als keines kam, fuhr er entschlossen fort:»Sie war einmal ein feines Schiff, Sir, und unter Ihrem Kommando wurde sie sogar berühmt. Aber jetzt«, wie ein gefangenes Tier blickte er sich gehetzt um,»jetzt ist sie veraltet, die Spanten und Planken sind morsch vom Hafenliegen. Trotzdem bin ich froh, daß ich sie bekommen habe. «Er blickte Bolitho direkt ins Gesicht. »Dankbar wäre der treffendere Ausdruck.»
Langsam stellte Bolitho sein Weinglas auf den Tisch zurück.»Jetzt erinnere ich mich.»
Er hatte nur an seine eigenen Probleme gedacht, an das unvermutete Auftauchen seines alten Schiffes, so daß er an seinen neuen Kommandanten kaum einen Gedanken verschwendet hatte. Aber jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich, er hatte Kapitän Daniel Emes von der Fregatte Abdiel vor sich, der vor etwa einem Jahr als Angeklagter einem Kriegsgericht gegenübergestanden hatte. Wie konnte ihm das entfallen sein? Nur wenige Meilen von ihrem augenblicklichen Standort entfernt hatte Emes das Gefecht mit einem überlegenen Feind abgebrochen und damit zugelassen, daß ein anderes britisches Schiff erbeutet wurde. Gerüchteweise war verlautet, daß nur die frühe Beförderung zum Kapitän und seine bisher makellose Führung Emes vor der unehrenhaften Entlassung bewahrt hatten.
Es klopfte, und Browne spähte mit unschuldigem Gesicht herein.»Bitte um Vergebung, Sir, aber Styx signalisiert, daß sie mit der Brigg Kontakt hat. Sie kommt mit Depeschen vom SüdGeschwader. «Kurz streifte sein Blick Emes' angespanntes Gesicht.»Der Brigg ist offenbar sehr daran gelegen, baldmöglichst in Kontakt mit Ihnen zu kommen.»
«Ich kehre gleich auf Styx zurück. «Und nachdem Browne sich eilig zurückgezogen hatte, fügte Bolitho, an Emes gewandt, hinzu:»Als ich damals hier das Kommando übernahm, war Phalarope zwar ein viel jüngeres Schiff, aber auch ein sehr viel schlechteres als heute. Vielleicht scheint sie Ihnen zu alt für die Aufgabe, die man uns gestellt hat. Vielleicht glauben Sie außerdem, daß sie für einen Offizier von Ihrer Erfahrung und Tüchtigkeit bei weitem nicht gut genug ist. «Er griff nach seinem Hut und schritt zur Tür.»Zu dem ersten Vorbehalt kann ich mich nicht äußern, aber zum letzteren werde ich mir ganz bestimmt meine eigene Meinung bilden. Und was mich betrifft, sind Sie einer meiner Kommandanten, sonst nichts. «Er sah Emes offen ins Gesicht.»Die Vergangenheit lassen wir ruhen.»
Die Wände der Kajüte schienen ihm seine letzten Worte höhnisch an den Kopf zu werfen. Aber er mußte Emes vertrauen, mußte ihn dazu bringen, sein Vertrauen auch zu erwidern.
Heiser sagte Emes:»Danke für dieses Wort, Sir.»
«Noch eine Frage, bevor wir zu den anderen gehen, Kapitän Emes. Wenn Sie sich morgen in der gleichen Lage wiederfänden, die Sie damals vors Kriegsgericht gebracht hat — wie würden Sie sich diesmal entscheiden?»
Unschlüssig hob Emes die Schultern.»Das habe ich mich schon tausendmal gefragt, Sir. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.»
Bolitho berührte seinen Arm, fühlte die Verkrampfung und Wachsamkeit, die von den Goldtressen nur äußerlich kaschiert wurde.
Er lächelte.»Wäre Ihre Antwort anders ausgefallen, hätte ich wahrscheinlich mit der nächsten Kurierbrigg eine Ablösung für Sie angefordert.»
Später, als die beiden Fregatten dichter nebeneinander kreuzten und die ferne Brigg mehr Segel setzte, um schneller zu ihnen aufzuschließen, stand Bolitho an der Querreling des Achterdecks und blickte über das Schiff hinweg nach vorn. Er hörte Emes hinter sich auf seine gewohnt knappe Art Befehle bellen. Ein schwieriger Mann, der aber auch eine schwere Last mit sich herumtrug.
Unvermutet meldete Allday sich zu Wort.»Na und, Sir, was halten Sie davon?»
Bolitho lächelte ihn an.»Ich bin froh, daß sie wieder da ist, Allday. Hier und heute gibt es viel zu wenig Veteranen.»
Bolitho wartete so lange, bis die Gläser alle gefüllt waren und seine Erregung sich etwas gelegt hatte. Die Achterkajüte der Styx lag gemütlich im Schein der Deckenlampen, und obwohl das Schiff nach wie vor schwer arbeitete, spürte Bolitho doch, daß die See sich etwas beruhigt hatte; genau wie der Master prophezeit hatte, war der Wind auf Nordwest umgesprungen,
Er warf einen Blick in die Runde. Trotz der Dunkelheit vor den Heckfenstern konnte er sich vorstellen, wie die anderen Schiffe Styx in Kiellinie folgten, während ihre Kommandanten hier an Bord ihrem Admiral Bescheid taten. Nur der junge Kommandant von Rapid fehlte, weil er irgendwo im Nordosten wachsam auf und ab stand, jederzeit bereit, mit halbem Wind herbeizueilen und sein Geschwader zu alarmieren, sollten die Franzosen im Schutz der Dunkelheit einen Ausbruchsversuch wagen.
Was würden die Familien dazu sagen, wenn sie ihre Söhne an diesem Abend hier so sehen könnten? fragte sich Bolitho. Zum Beispiel den derben, rotwangigen Kapitän Duncan, Kommandant der Sparrowhawk, der gerade mit viel Elan und zu Neales offensichtlicher Erheiterung von seiner jüngsten Affäre mit der Frau eines Richters in Bristol erzählte. Oder Emes von der Phalarope, wachsam und sehr beherrscht, der nur beobachtete und zuhörte. Browne, der sich auf die breiten Schultern von Neales Diener stützte und seine gemurmelten Kommentare abgab.
An Bord der drei Schiffe, die Bolithos kleinem Geschwader angehörten, würden sich die Ersten Offiziere jetzt den Kopf darüber zerbrechen, was bei diesem Kommandantentreffen wohl beschlossen werden mochte. Wie würde das Ergebnis ihr Schicksal beeinflussen? Es konnte Beförderung bedeuten oder Tod, vielleicht sogar den Befehl über das Schiff, wenn ihr Vorgesetzter fallen sollte.
Der Diener hatte allen eingeschenkt, richtete sich auf und verschwand leise aus dem Raum.
Bolitho lauschte kurz auf das Gurgeln des Wassers am Ruder, auf das leise Schlagen der Heißleinen und den ruhelosen Schritt des Wachhabenden über ihren Köpfen. Solch ein Schiff war wie ein lebendes Wesen.»Gentlemen — auf Ihr Wohl!»
Damit ließ er sich wieder am Tisch nieder und drehte eine Seekarte herum. Seine drei Schiffe hielten im Augenblick auf die Küste zu, genauer gesagt auf die Loire-Mündung, aber das war nicht weiter ungewöhnlich. Unzählige britische Schiffe vor ihm hatten das gleiche getan, entweder im Verband oder einzeln, um die französische Flotte in Atem zu halten und ihre wichtigen Ver-sorgungs- und Verbindungswege zu blockieren.
Die am Tage eingetroffene Kurierbrigg war inzwischen schon wieder unterwegs, Kurs Nord und heim nach England. Sie hatte Depeschen vom Befehlshaber des Süd-Geschwaders an Bord, Berichte und Informationen, die eines Tages für die Lagebeurteilung durch die Admiralität bedeutsam werden mochten.
Aber dem üblichen Marinebrauch entsprechend hatte der Kommandant der Brigg Anweisung gehabt, mit jedem ranghöheren Offizier Kontakt aufzunehmen, dessen Schiff er unterwegs begegnete. Und ein scharfäugiger Ausguckposten hatte dafür gesorgt, daß dieser Offizier Bolitho war.
Er sagte nun:»Inzwischen kennen Sie alle in groben Zügen unseren Einsatzbefehl und damit den wahren Grund für unsere Anwesenheit in diesem Sektor.»
Er musterte die gespannten Gesichter; alle waren so jung und ernst, dachten wohl jeder an die angeblich geheimen Friedensverhandlungen, deren erfolgreicher Ausgang für sie jede Aussicht auf baldige Beförderung zunichte machen konnte. Bolitho verstand das recht gut. Zwischen den beiden Kriegen war er selbst einer der wenigen Glückspilze gewesen, denen man ein Schiff überantwortet hatte, während die meisten Offiziere verarmt und von niemandem gebraucht an Land versauerten.
«Vor einer Woche stießen unsere Patrouillen im Süden auf ein spanisches Handelsschiff und wollten es aufbringen. Da es schon fast dunkel war, suchte der Spanier sein Heil in der Flucht. Aber er hatte mehrere Einschußlöcher im Rumpf, außerdem ging seine
Ladung über, deshalb begann er zu kentern. Unsere Entermannschaft kam gerade noch rechtzeitig, um die Schiffspapiere an sich zu nehmen und zu entdecken, daß die Ladung aus Bausteinen bestand. Mit etwas Nachhilfe gestand der spanische Kapitän schließlich, daß seine Ladung für diesen Sektor bestimmt war. «Bolithos Finger pochten auf eine Stelle der Seekarte.»Er liegt vierzig Seemeilen südlich von unserem jetzigen Standort: die Ile d'Yeu.»
Wie er erwartet hatte, war ihre Erregung allmählich der Enttäuschung gewichen, deshalb beschloß er, sie nicht länger auf die Folter zu spannen.
«Der spanische Kapitän berichtete, daß er schon mehrmals bei der Insel gewesen war und dort jedesmal eine Ladung Steine gelöscht hatte. «Bolitho nahm den Stechzirkel auf und ließ ihn über die Karte wandern.»Außerdem informierte er uns, daß der Ankerplatz voll kleiner Fahrzeuge liege, die alle neu und frisch ausgerüstet seien. Ihren Verwendungszweck konnte er uns nicht nennen — bis man ihm Zeichnungen vorlegte, welche französische Landungsboote zeigten, wie sie jetzt in den Kanalhäfen zusammengezogen werden. «Zufrieden registrierte Bolitho das plötzlich wiedererwachte Interesse der Tischrunde.»Sie waren absolut identisch. Während wir also Belle Ile und Lorient überwachen, kann der französische Admiral seine Flottillen von Landungs- und Mörserbooten jederzeit nach Norden in Marsch setzen, wenn er weiß, daß die Luft rein ist.»
Duncan öffnete den Mund, schloß ihn aber gleich wieder.
«Kapitän Duncan«, sagte Bolitho,»Sie haben eine Frage?»
«Die Bausteine, Sir. Ihr Zweck leuchtet mir nicht ein. Selbst für Schiffsneubauten braucht man nicht solche Mengen Ballast, und wenn, müßten sie doch leicht in der näheren Umgebung der Werften zu finden sein.»
«Vielleicht nehmen sie die Steine nur vorübergehend als Ballast auf, und zwar bis zur endgültigen Indienststellung in Lorient oder Brest. Dort könnten die Steinladungen dann gelöscht und zur Verstärkung der Festungswälle und Landbatterien verwendet werden. Das wäre zweckmäßig und würde sehr viel weniger Aufmerksamkeit erregen als ein Transport auf größeren Schiffen. Wie dem auch sei, meine Herren, wir haben die ganze Zeit das falsche Gebiet überwacht. Aber jetzt sind wir klüger, und ich beabsichtige, aufgrund dieser Informationen zu handeln.»
Neale und Duncan grinsten einander an, als wären sie Verbündete in einer Schlacht, die bereits geschlagen und gewonnen war.
Emes dagegen wandte ein:»Aber ohne Verstärkung wird das eine harte Nuß für uns, Sir. Ich kenne die Ile d'Yeu und das schmale Fahrwasser zwischen ihr und der Küste. Eine Reede, die leicht verteidigt, aber schwer angegriffen werden kann. «Sein Gesicht erstarrte wieder zur Maske, weil ihn die anderen so anfunkelten, als hätte er einen unerhörten Fauxpas begangen.
«Gut gesagt. «Bolitho legte beide Hände flach auf die Seekarte.»Deshalb starten wir auch ein Ablenkungsmanöver. Die Franzosen bekommen uns dort zu sehen, wo sie uns erwarten, und werden deshalb nicht mit einem Überfall in so engen Gewässern rechnen. «Er drehte sich zu Browne um, der schon seit einigen Minuten seine Aufmerksamkeit zu erregen versuchte.»Ja?»
«Sir, wenn wir warten, bis Verstärkung eintrifft — was ja auch Sir George Beauchamps ursprünglichem Plan entspräche — , dann hätten wir doch gewiß bessere Erfolgsaussichten? Andererseits, wenn die Kurierbrigg mit neuen Befehlen zurückkehrt, die unseren jetzigen Auftrag widerrufen, dann hätten wir verfrüht gehandelt und besser nichts getan.»
«Nichts tun, Mann?«explodierte Duncan.»Was reden Sie da?»
Aber Bolitho lächelte.»Ich verstehe, was Sie damit sagen wollen, Browne.»
Wie Herrick und Allday, so versuchte auch Browne nur, ihn zu schützen. Wenn sein Angriff mißlang, würde die Friedenspartei seinen Kopf fordern. Wenn er sich andererseits jetzt still verhielt, konnte niemand ihm daraus einen Vorwurf machen. Aber Beau-champs Vertrauen wäre damit bitter enttäuscht.
Deshalb sagte er ruhig:»Wenn es zum Friedensschluß kommt, dann soll das unter gleichen und fairen Bedingungen geschehen, nicht unter der Drohung einer Invasion. Und wenn der Krieg später wieder ausbricht, müssen wir schon heute sicherstellen, daß unsere Leute nicht von dem Augenblick an, da der Friedensvertrag zerrissen wird, auf verlorenem Posten kämpfen. Ich wüßte also nicht, was mir anderes übrigbliebe.»
Duncan und Neale nickten eifrig, aber Emes wischte sich nur mit ausdruckslosem Gesicht ein loses Fädchen vom Ärmel. In der Stille hörte Bolitho Smiths Feder über das Papier kratzen.
Er fügte hinzu:»Ich habe schon zu viele Schiffe verlorengehen sehen, zu viele Menschen sterben, als daß ich eine Chance ignorieren könnte, die für unsere Zukunft wichtig, ja entscheidend ist. Also schlage ich vor, meine Herren, daß Sie an Bord zurückkehren und Ihre Pflicht tun, genau wie ich hier.»
Als die drei Kommandanten die Kajüte verlassen hatten, sagte Bolitho zu Browne:»Dank für Ihre Sorge um mich, Oliver. Aber ich hatte von Anfang an keine andere Wahl. Auch ohne diese neuen Informationen hätte ich jetzt losschlagen müssen. Zumindest weiß ich nun, wo. Nur das Wie herauszufinden, dauert immer ein bißchen länger.»
Browne lächelte gerührt, weil Bolitho seinen Vornamen benutzt und ihm seine Überlegungen anvertraut hatte. Doch als der Admiral fortfuhr, war sein Ton wieder distanziert, als sei er in Gedanken bereits woanders.
«Aber etwas geht mir nicht aus dem Kopf.. «Er dachte an den verbitterten und reservierten Emes, an seinen wunschlos glücklichen Neffen Adam, an die junge Frau in Falmouth.»Wenn ich wüßte, was das ist, wäre mir schon sehr viel wohler.»
Falls es nicht schon zu spät ist, dachte er insgeheim.