VI Seeklar

Thomas Herrick stützte die Ellbogen auf die polierte Tischplatte in der großen Achterkajüte der Benbow und überlas noch einmal seinen in wohlgesetzten Worten abgefaßten Bericht.

Eigentlich hätte er stolz sein können auf seinen Erfolg, denn sogar die zuversichtlichsten unter den Zimmerleuten und Schiffsausrüstern hatten ihm prophezeit, daß die Reparaturen an Benbow noch mindestens einen Monat in Anspruch nehmen würden. Morgen war nun der erste August, und die Benbow war fertig — viel früher, als er in seinen kühnsten Träumen zu hoffen gewagt hatte. So ungeduldig hatte er auf den Augenblick gewartet, in dem er die ersehnten Worte in den Bericht an Ihre Lordschaften schreiben konnte — Melde ergebenst, daß HMS Benbow seeklar ist und bereit, etc. -, und jetzt standen sie da, warteten nur noch auf seine Unterschrift. Dennoch empfand er keinerlei Frohlocken oder Begeisterung.

Das lag nicht etwa an schlechten Nachrichten; eher schon daran, daß überhaupt keine Nachrichten eingingen. Er hatte diese Unruhe zum erstenmal verspürt, als die von Schüssen durchlöcherte Fregatte Unrivalled, ein Schiff aus Bolithos Biskaya-Geschwader, in Plymouth vor Anker gegangen war; alle Pumpen an Bord arbeiteten fieberhaft, um die Fregatte noch so lange über Wasser zu halten, bis Hilfe eintraf. Und selbst das hätte Herrick nicht stärker belasten sollen als andere ähnliche Vorkommnisse, an die man sich im Krieg gewöhnen mußte. Er hatte schon so viele Schiffe verlorengehen gesehen, auch vor der Unrivalled hatte er oft genug beobachten müssen, wie Tote und Verwundete an Land geschafft wurden. Warum war er gerade jetzt so aufgewühlt?

Es mußte daran liegen, daß er sich von dem Tag an, seit Bolitho seine Flagge auf Styx setzte und auslief, Sorgen machte; denn seiner Ansicht nach segelte Bolitho in sehr dubioser Mission.

Als er dann Phalaropes Namen im Signalbuch entdeckte, zusammen mit der knappen Verlautbarung, daß sie Bolithos Oberkommando unterstellt wurde, hatten sich Herricks Ahnungen noch mehr verdüstert. Dulcie blieb im Golden Lion und tat ihr Bestes, um ihn aufzuheitern. Trotzdem, sein häusliches Glück machte ihn eher schuldbewußt. Dulcie verstand nichts von der See und der Kriegsmarine — und genauso sollte es bleiben, solange er dabei etwas zu sagen hatte.

In der Nachbarkajüte waren Schritte zu hören: Ozzard, Bolithos Steward, schlich wie ein Geist umher, seit sein Herr ohne ihn davongesegelt war. Solche wie ihn gab es noch mehr an Bord; zum Beispiel Yovell, Bolithos Schreiber, der jeden Bericht in seiner gerundeten Handschrift abgefaßt hatte.

Das Deck unter Herricks Füßen bewegte sich leicht, und er trat an die offenen Heckfenster. Mittlerweile lagen hier schon weniger Schiffe in Reparatur, das Getöse der Hämmer und das Quietschen der Flaschenzüge hatte nachgelassen.

Dort drüben schwojte Keens mit 74 Kanonen bestückte Nicator an ihrer Ankertrosse, hatte Sonnen- und Windsegel ausgebracht, um den Aufenthalt an und unter Deck bei dieser drückenden Hitze so angenehm wie möglich zu machen. Und daneben Indomitable, ihr anderer Zweidecker, unter dem neuen Kommandanten Kapitän Henry Veriker, der innerhalb des kleinen Geschwaders schon eine gewisse Berühmtheit errungen hatte: Seit der Schlacht bei Abukir war er fast taub, eine Verletzung, die nach stundenlangem, ununterbrochenem Kanonenfeuer oft auftrat. Aber Verikers Taubheit kam und ging, war manchmal schwächer, manchmal stärker, so daß sich nie genau sagen ließ, was er nun gehört hatte oder was er mißverstand. Für seine Offiziere mußte es die Hölle sein, überlegte Herrick. Schon die kleine Kostprobe an dem Abend, als sie zusammen gespeist hatten, hatte ihm gereicht. Er beugte sich hinaus, um die neue Fregatte zu mustern, die er damals kurz nach ihrem Stapellauf gesehen hatte, als er auf sein eigenes Schiff zurückgekehrt war. Jetzt lag sie schon tiefer im Wasser, hinter jeder offenen Stückpforte lauerte eine schwarze Mündung, und alle drei Masten standen, waren verstagt und getakelt. Lange brauchte diese Schönheit nun nicht mehr zu warten. Herrick fragte sich, wer wohl ihr glücklicher Kommandant sein würde.

Der Anblick der neuen Fregatte erinnerte ihn an Adam Pascoe. Der junge Teufel hatte die Kommandierung auf Phalarope akzeptiert, ohne einen Gedanken an mögliche Konsequenzen zu verschwenden. Bolitho hatte aus ihr wieder ein kampftüchtiges Schiff gemacht, hatte der Mannschaft Zuversicht eingeflößt. Herrick erinnerte sich nur zu gut daran, wie die Stimmung gewesen war, als er, der jüngste ihrer Offiziere, zum erstenmal an Bord kam: verbittert und verzweifelt, kurz vor der Meuterei gegen einen Kommandanten, der jede menschliche Regung als Todsünde verabscheute.

Herrick hörte die gedämpfte Meldung der Türwache draußen und wandte sich um. Der Ankömmling war sein Erster Offizier, der den rothaarigen Kopf tief unter die niedrigen Decksbalken beugen mußte.

«Was gibt's, Mr. Wolfe?»

Wolfes tiefliegende Augen erfaßten den schriftlichen Bericht auf dem Schreibtisch, dann kehrten sie zum Kommandanten zurück. Er hatte härter als die meisten anderen an der Wiederherstellung des Schiffes gearbeitet und zwischendurch trotzdem Zeit gefunden, seine jungen und weitgehend ahnungslosen Offiziere zu schulen.

«Meldung vom Offizier der Wache, Sir: Sie können den Hafen-admiral in etwa einer halben Stunde an Bord erwarten. «Wolfe grinste mit seinem unregelmäßigen Gebiß.»Ich habe schon alles veranlaßt, Sir. Am Fallreep werden Empfangskomitee und Ehrenwache bereitstehen.»

Herrick bedachte die Neuigkeit. Der Hafenadmiral war ein seltener Gast an Bord, aber kein unebener Kerl; ein behäbiger, gemütlicher Mann, der mittlerweile mit Dockarbeitern und Händlern besser umzugehen verstand als mit einer Flotte auf hoher See.

«Sehr gut«, sagte Herrick deshalb zu Wolfe.»Ich glaube, wir haben nichts zu befürchten. Wir sind sogar früher mit den Reparaturen fertig geworden als Kapitän Keens Nicator, wie?»

«Ob er uns neue Befehle bringt, Sir?»

Der Gedanke bereitete Herrick Unbehagen. Er hatte noch nicht einmal Zeit gefunden, sich einen Flaggkapitän auszusuchen; aber brauchen würde er einen, ganz gleich, wie kurzfristig sein Kommodorewimpel auf Benbow auch wehen mochte. Vielleicht scheute er die Endgültigkeit des Schritts, überlegte er, denn damit würde er das letzte Bindeglied zu seinem Freund und Konteradmiral durchtrennen, obwohl er immer noch nicht wußte, was in der Biskaya geschehen war.

Draußen waren eilige Schritte zu hören, und nach der Ankündigung des wachestehenden Seesoldaten trat der Fünfte Offizier schneidig durch die Tür, seinen Hut unter den Arm geklemmt.

Wolfe funkelte ihn so gereizt an, daß der junge Mann zurückfuhr. In Wirklichkeit war der Erste mit dem jungen Offizier ganz zufrieden, aber es war noch viel zu früh, ihn das merken zu lassen. Erst abwarten, bis wir auf See sind, pflegte er zu sagen.

«Ein — ein Brief, Sir«, meldete der Fünfte.»Kam mit der Kutsche aus Falmouth.»

Herrick riß ihm den Brief fast aus der Hand.»Danke. Machen Sie weiter, Mr. Nash.»

Während der Leutnant schleunigst verschwand und Wolfe sich auf einen Stuhl sinken ließ, schlitzte Herrick den Umschlag auf. Er kannte die Handschrift; obwohl er den Brief erwartet hatte, fürchtete er sich vor dem, was sie ihm sagen würde.

Wolfe beobachtete ihn neugierig. Zwar wußte er das meiste schon und konnte den Rest leicht erraten, trotzdem blieb ihm die seltsam enge Bindung des Kommandanten an Richard Bolitho unerklärlich. Für Wolfe war ein Freund auf See am ehesten noch mit einem Schiff zu vergleichen: Man setzte sich füreinander ein, aber wenn die Wege sich trennten, vergaß man den anderen am besten und kehrte nie zurück.

Langsam ließ Herrick den Brief sinken und sah dabei die Schreiberin im Geiste vor sich, das kastanienbraune Haar in die Stirn fallend, während sie über das Papier gebeugt saß.

Er riß sich zusammen.»Mrs. Belinda Laidlaw kommt nach Ply-mouth«, sagte er.»Meine Frau wird sich während der Dauer ihres Besuches um sie kümmern.»

Irgendwie war Wolfe enttäuscht.»Das ist alles, Sir?»

Herrick starrte seinen Ersten an. Eigentlich hatte er recht. Belinda sandte ihm und Dulcie die herzlichsten Grüße, aber mehr auch nicht. Immerhin war es ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn sie erst einmal hier sein würde in Bolithos Welt, würde sie bestimmt offener sprechen, Herrick vielleicht sogar um seinen Rat ersuchen.

Draußen an der Bordwand erklangen Stimmen, Wolfe schnappte sich seinen Hut und fuhr auf:»Der Admiral, Sir! Den haben wir ganz vergessen!»

Schwer atmend hasteten der stämmige Kommandant und sein schlaksiger Erster Offizier, beide die Säbel fest an die Seite gepreßt, damit sie nicht darüber stolperten, hinaus aufs Achterdeck.

Admiral Sir Cornelius Hoskyn, Ritter des Bathordens, hievte sich das Fallreep hinauf und durch die Schanzkleidpforte; trotz seiner Leibesfülle ging sein Atem nicht schwerer, als er grüßend den Hut zum Achterdeck lüftete und geduldig abwartete, bis die Querpfeifen mit dem Lied» Hearts of Oak«- Herzen aus Eiche — fertig waren. Herrick mochte seine warme, volltönende Stimme und rosige Gesichtsfarbe, vor allem aber seine Gewohnheit, sich für jeden Kommandanten, der durch Plymouth kam, ausgiebig Zeit zu nehmen und ihm nach besten Kräften behilflich zu sein.

Der Admiral blickte zum knatternden Kommodorewimpel auf und sagte:»Hat mich gefreut, als ich davon erfuhr. «Dann nickte er den versammelten Offizieren zu und fuhr fort:»Ihr Schiff macht Ihnen alle Ehre. Sie sind bald seeklar, wie?»

Herrick wollte erwidern, daß die Meldung über ihre Einsatzbereitschaft nur noch auf seine Unterschrift wartete, aber der Admi-ral war schon weitergeschritten, dem willkommenen Schatten unter dem Hüttenaufbau zu.

Hinter ihm her marschierten sein Flaggleutnant, sein Sekretär und zwei Stewards, die eine Kiste mit Wein trugen.

In der großen Achterkajüte ließ sich der Admiral bedachtsam auf einen Stuhl nieder, während sein Stab sich unter der Anleitung von Herricks Steward mit Weingläsern und — kühler zu schaffen machte.

«Ist dies Ihr Bericht?«Der Admiral zog ein Lorgnon aus seinem schweren Uniformrock und studierte das Papier.»Unterschreiben Sie ihn jetzt, wenn ich bitten darf. «Fast im selben Augenblick fügte er hinzu:»Prächtig, prächtig — ich hoffe nur, das Glas ist kalt, Mann. «Damit nahm er von einem Steward das erste Glas Wein entgegen.

Herrick nahm erst Platz, nachdem der Leutnant und der Sekretär die Kajüte verlassen hatten, wobei letzterer Herricks versiegelte Bereitschaftsmeldung wie einen Talisman an die Brust gepreßt trug.

«Also. «Sir Cornelius Hoskyn betrachtete Herrick forschend über den Rand seines Lorgnons.»Sie erhalten umgehend Ihre Befehle, wahrscheinlich noch heute abend. Sowie ich von Bord bin, rufen Sie Ihre Kommandanten zu einer Einsatzbesprechung zusammen und bereiten sie ohne weitere Verzögerung auf ihre Aufgabe vor. Ob sie unterbemannt, leck oder sonstwas sind, schert mich einen Dreck; es ist nicht mein Problem, sondern ihres. Manche Leute glauben zwar, daß demnächst der Friede ausbricht — wollte Gott, sie behielten recht — , aber bis man mich vom Gegenteil überzeugt, befinden wir uns im Kriegszustand. «Obwohl er nicht die Stimme gehoben hatte, hallten seine Worte wie Pistolenschüsse in der sonnendurchfluteten Kajüte.

«Halten zu Gnaden, Sir Cornelius…«Herrick fühlte sich zwar hoffnungslos ins Hintertreffen geraten, blieb aber eisern.»Meine Schiffe unterstehen nach wie vor dem Oberkommando von Konteradmiral Richard Bolitho, und es wird Ihnen doch klar sein, daß… »

Der Admiral musterte ihn ernst und füllte zunächst sorgfältig ihre Gläser nach, ehe er antwortete.

«Ich hege großen Respekt vor Ihnen, Herrick, deshalb komme ich persönlich einer Aufgabe nach, die mir so verhaßt ist wie bisher selten eine. «Er milderte seinen Ton.»Bitte, trinken Sie noch einen Schluck. Der Wein kommt aus meinem eigenen Keller.»

Herrick schluckte Wein, ohne ihn zu schmecken; ebensogut hätte er auch Bilgenwasser trinken können.

«Sir?»

«Ich habe gerade durch einen Sonderkurier Nachricht erhalten und muß Ihnen folgendes mitteilen: Vor zehn Tagen, offenbar bei dem Versuch, feindliche Schiffe südlich der Loiremündung zu vernichten, erlitt die Fregatte Seiner Majestät Styx Schiffbruch. Es war ein Totalverlust. Das Unglück geschah sehr schnell und bei auffrischendem Wind. «Der Hafenadmiral machte eine Pause, ohne den Blick von Herricks Gesicht zu wenden.»Und da gleichzeitig mehrere feindliche Schiffe am Schauplatz erschienen, unter ihnen ein Linienschiff, wurde das Gefecht abgebrochen.»

Leise fragte Herrick:»Unsere anderen Schiffe haben sich zurückgezogen, Sir?»

«Es handelte sich nur um ein einziges Schiff von Bedeutung, und ihr Kommandant, der ranghöchste anwesende Offizier, traf diese Entscheidung. Ich bedaure zutiefst, daß ich Ihnen die Nachricht überbringen muß, denn ich weiß, was die Freundschaft Richard Bolithos Ihnen bedeutet hat.»

Herrick erhob sich taumelnd, als sei er geschlagen worden. »Bedeutet hat! Sie meinen…»

«Es kann nicht viele Überlebende gegeben haben. Dennoch darf man nie aufhören zu hoffen.»

Herrick ballte die Fäuste und wandte sich den Heckfenstern zu, ohne sie zu sehen.»Er hat oft vorausgesagt, daß es einmal so kommen würde. «Mit rauher Stimme fügte er hinzu:»Wer war der andere Kommandant, Sir, der die Entscheidung zum Rückzug traf?«Aber insgeheim wußte er es schon.»Emes von der Phalarope.»

Immer noch konnte Herrick den Hafenadmiral nicht anblicken. Der junge Pascoe mußte alles mit angesehen haben, hatte nichts dagegen unternehmen können, daß dieser elende Feigling Emes den Schwanz einkniff und floh.

Aber dann kam ihm ein neuer Gedanke, so daß er ausrief:»Mein Gott, Sir, und sie kommt nach Plymouth! Ich meine die Frau, die er in Falmouth heiraten wollte! Was soll ich ihr nur sagen?»

Der Admiral erhob sich.»Ich halte es für das beste, wenn Sie sich auf Ihre Pflicht konzentrieren. Nur so können Sie sich ablenken. Verluste sind nur zu alltäglich geworden in diesem Krieg, der offenbar nie zu Ende gehen will. Trotzdem gewöhnt man sich nicht daran. Ich will Ihnen auch keinen billigen Trost zusprechen, weil ich weiß, daß es Trost für Sie nicht gibt. Wenn ich Näheres erfahre, lasse ich es Sie so schnell wie möglich wissen.»

Herrick folgte dem Hafenadmiral hinaus auf das breite Batteriedeck und verabschiedete ihn, ohne sich ganz bewußt zu werden, was er tat.

Als er seine Umgebung schließlich wieder wahrnahm, hatte die Schaluppe des Hafenadmirals bereits abgelegt, und Wolfe erbat Erlaubnis, die Ehrenwache wegtreten zu lassen.»Darf ich fragen, was geschehen ist, Sir?«Wolfes knappe, sachliche Stimme riß Herrick aus seiner Erstarrung.»Richard Bolitho und Styx — wir haben sie verloren. «Wolfe stellte sich schnell so, daß er Herrick vor den Blicken der anderen abschirmte.»Beeilung, ihr Trantüten! An die Arbeit, oder ich lasse den Bootsmann eure faulen Häute klopfen, bis ihr springt!»

Herrick kehrte in seine Kajüte zurück und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Nichts war mehr wichtig für ihn, weder das Schiff, noch sein Kommodorewimpel, nicht einmal sein junges privates Glück.

Wolfe erschien in der Tür.»Haben Sie Befehle Sir?«»Doch, ja, die habe ich, Mr. Wolfe. Lassen Sie an Mcator und Indomitable signalisieren, daß ich die Kommandanten zu mir an Bord bitte. «Aber dann schüttelte Herrick mutlos den Kopf.»Lassen Sie, das kann noch warten. Setzen Sie sich und versuchen Sie den Wein, den der Admiral mitgebracht hat. Er soll sehr gut sein.«»Gern, Sir«, antwortete Wolfe,»aber später. Im Augenblick bin ich an Deck noch nicht entbehrlich. Das Signal heiße ich um acht Glasen,[11] Sir, dann bleibt noch reichlich Zeit.»

Vor der Kajüte wäre Wolfe fast über die winzige Gestalt von Ozzard gestolpert. Mein Gott, der Mann weinte ja! Offenbar wußte an Bord schon jeder Bescheid. Es war doch immer dasselbe: Bei der Navy ließ sich nichts geheimhalten.

Draußen im Sonnenschein verhielt Wolfe und atmete ein paarmal tief durch. An Deck warteten keine sonderlich dringenden Aufgaben; er hatte sie nur vorgeschützt, weil er um nichts in der Welt hätte dasitzen können und Herricks Qual mitansehen. Daß er nichts tun konnte, um diesem Mann zu helfen, den er schätzen gelernt hatte, deprimierte Wolfe zutiefst; noch nie war er sich so überflüssig vorgekommen.

In der Kajüte goß Herrick sich ein neues Glas Wein ein. Und danach noch eins. Das machte es zwar nicht leichter, aber es gab seinen Händen wenigstens etwas zu tun.

Beim dritten Glas blieb seine Hand in der Luft hängen, weil sein Blick auf den Prunksäbel an der Wand fiel, den Bolitho hier zurückgelassen hatte, als er auf Styx umgezogen war.

Ein wundervolles Stück Handwerksarbeit, dachte Herrick. Aber wenn es das einzige war, was von Bolitho blieb, dann war es verdammt wenig.

Herrick sprang aus der grüngestrichenen Barkasse der Benbow auf die Pier und wartete darauf, daß sein Bootsführer ihm folgte. Dabei hatte er sich schon verspätet, hatte ursprünglich viel früher an Land sein wollen. Jetzt lag schon mattrotes Abendlicht über Sund und Reede und den Schiffen, die sich friedlich im glatten Wasser spiegelten.

Herrick hatte seiner Frau eine Nachricht gesandt, in der er nur so viel andeutete, wie sie unbedingt wissen mußte. Dulcie war eine vernünftige Frau und verlor bestimmt nicht die Beherrschung. Aber Herrick hatte eigentlich schon bei ihr sein wollen, wenn die Postkutsche aus Falmouth vor die Herberge rollte.

«Fahr zurück an Bord, Tuck«, sagte er zu seinem Bootsführer.»Ich nehme mir nachher eine Mietjolle. Mr. Wolfe weiß, wo ich zu erreichen bin.»

Der Bootsführer tippte an seinen Hut.»Aye, aye, Sir. «Er wußte längst, was geschehen war, dachte dabei aber mehr an Allday als an Bolitho. Beide Bootsführer ihrer Kommandanten, hatten sie einander respektieren gelernt und waren gut miteinander ausgekommen.»Und, Tuck, wenn die Leute zu munkeln anfangen…»

Der Bootsführer nickte.»Aye, Sir, bin im Bilde. Dann komme ich so schnell zurück, daß der Kiel gär nicht erst naß wird.»

Herrick schritt die Pier hinunter; auf den runden, abgewetzten Kieselsteinen, über die schon Legionen von Seefahrern bis zurück zu Drake gegangen waren, klickten seine Schuhe so laut, daß er meinte, es müßte bis zur Herberge zu hören sein.

Als er den Golden Lion mit seinen in der Abendsonne rotglühenden Fensterscheiben vor sich sah, verließ ihn der Mut, und er hielt inne. Im Hof stand eine leere Kutsche, die Pferde waren schon ausgespannt, nur zwei Diener luden Reisetaschen auf das Dach, wohl für die nächste Etappe nach Exeter.

Alles war schon schlimm genug, aber daß die elende Kutsche auch noch pünktlich eingetroffen war, ausgerechnet an diesem Abend, das machte es für Herrick noch schwerer.

Neben dem Hoftor blies ein einbeiniger Krüppel, mühsam auf einer primitiven Krücke balancierend, zum Vergnügen einiger Straßenjungen und Passanten eine Melodie auf seiner Querpfeife. Er trug den roten Rock der Seesoldaten, und der dunklere Fleck auf dem abgewetzten Ärmel, wo einst der Winkel aufgenäht gewesen war, verriet Herrick, daß er einen alten Sergeanten vor sich hatte.

Er tastete nach ein paar Münzen in der Rocktasche und warf sie dem Krüppel in die Mütze, beschämt, peinlich berührt und vor allem wütend darüber, daß solch ein Mann so elend dahinvegetierte. Aber bis es endlich zum Friedensschluß kommen würde, mußten bestimmt noch viel mehr Rotröcke verkrüppelt in den Straßen betteln.

Doch der Mann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Breit grinsend hob er die Hand an die Stirn und salutierte spöttisch.

«Sergeant Tolcher, Sir. So geht's einem im Leben, wie, Kapitän?»

Herrick nickte bedrückt.»Von welchem Schiff?»

«Mein letztes, Sir? Das war die alte Culloden, unter Käpt'n Troubridge. War'n richtiger Gentleman, unser Käpt'n, jedenfalls für einen Seeoffizier.»

Herrick hätte längst bei Dulcie sein müssen, aber irgend etwas hielt ihn hier zurück. Dieser unbekannte Marinesoldat hatte an der Schlacht von Abukir teilgenommen, hatte wie er selbst und Bolitho vor der Nilmündung gekämpft. Auf einem anderen Schiff zwar, aber immerhin.

«Viel Glück, Kamerad. «Mit diesen Worten wandte Herrick sich ab und eilte zum Eingang.

Der Marinesoldat schob die Münzen in die Tasche und grämte sich, daß er einen guten Zuhörer verloren hatte. Aber dieser stämmige Kapitän mit den auffallend blauen Augen hatte ihn für manches entschädigt.

Außerdem hatte er jetzt genug beisammen für ein paar Krüge Bier mit den alten Kumpels unten im Volunteer. Der Ex-Sergeant der Culloden humpelte davon, wobei seine Krücke laut über das Steinpflaster kratzte.

Als Herrick das Zimmer betrat, standen beide Frauen da und warteten, der Tür zugekehrt, als hätten sie seit Stunden auf demselben Fleck verharrt.

Er wandte sich zunächst an Dulcie.»Tut mir leid, Liebste, aber ich wurde aufgehalten. Neue Befehle.»

Die plötzlich in den Augen seiner Frau aufsteigende Furcht sah er nicht mehr, weil sich seine Aufmerksamkeit jetzt auf Belinda konzentrierte, die neben dem kalten Kamin stand.

Herrgott, wie schön sie ist, dachte er. Sie trug ein flaschengrünes Reisekleid und hatte das volle, kastanienbraune Haar mit einem passenden Band im Nacken zusammengebunden. Aber sie war blaß, die großen braunen Augen schienen das ganze Gesicht zu beherrschen, als sie fragte:»Gibt es Neuigkeiten, Thomas?»

Herrick war gerührt von so viel Selbstbeherrschung und auch davon, daß sie ihn so selbstverständlich mit seinem Vornamen ansprach.

«Nein, noch nicht«, antwortete er. Er ging zu einem kleinen Tisch, nahm ein Glas auf, stellte es wieder hin.»Aber Neuigkeiten brauchen eben ihre Zeit, bis sie eintreffen. Gute Neuigkeiten, meine ich.»

Endlich konnte er auf sie zugehen und ihre Hände in seine nehmen. In seinen harten Seemannspranken fühlten sie sich sehr weich an — und sehr hilflos.

Leise sagte Belinda:»Dulcie hat mir berichtet, was Sie ihr geschrieben haben. Und einige Offiziere in der Gaststube unten haben davon gesprochen, daß ein Schiff untergegangen sei. Besteht noch Hoffnung?»

Sie hob den Blick zu ihm, so flehend, daß ihre äußere Ruhe Lügen gestraft wurde.

Herrick seufzte.»Im Augenblick wissen wir noch viel zu wenig. Die Küste dort ist ziemlich gefährlich; soweit ich in Erfahrung bringen konnte, war es eine Kollision, möglicherweise mit einem Wrack, wonach Styx wegsackte und ziemlich schnell unterging.»

Inzwischen hatte Herrick die Szene im Geiste hundertmal nacherlebt, sogar bei der Kommandantenbesprechung, als er seinen Untergebenen die neuen Befehle erläutert hatte. Er wußte nur zu gut, wie das Unglück abgelaufen sein mußte, schließlich hatte auch er schon ein Schiff verloren. Die Schreie, dazu das Krachen und

Knallen der brechenden Takelage gellten ihm noch im Ohr, er sah sie immer wieder vor sich, die Ertrinkenden: Manche starben lautlos, andere verfluchten Gott und die Welt und selbst den Namen ihrer Mutter, ehe die See ihnen den Mund verschloß.

«Aber Ihr Richard hatte tüchtige Männer um sich«, fuhr er fort, um Belinda etwas zu beruhigen.»Allday wich bestimmt nicht von seiner Seite, und der junge Neale war ein erstklassiger Kapitän.»

Belinda warf Dulcie einen schnellen Blick zu.»Wer wird es seinem Neffen sagen?»

Sehr sanft ließ Herrick ihre Hände los.»Das ist nicht notwendig. Adam war selbst dort. An Bord des Schiffes, das. «Gerade noch rechtzeitig verschluckte er den Rest des Satzes.»Adam war auf Phalarope, die das Flaggschiff begleitete.»

Dulcie Herrick griff sich an die Brust.»Gott helfe dem Jungen.»

«Aye. Es muß furchtbar für ihn sein.»

Belinda Laidlaw setzte sich — zum erstenmal, seit sie aus der Postkutsche gestiegen war.

«Kapitän Herrick. «Sie rang sich ein Lächeln ab.»Oder besser: Thomas. Denn Sie sind sein Freund und jetzt, so hoffe ich, auch meiner. Also, Thomas, was ist Ihrer Ansicht nach geschehen?»

Herrick spürte, daß seine Frau ihm ein Glas Wein in die Hand drückte, und warf ihr einen dankbaren Blick zu.

Dann sagte er:»Richard ist insgeheim immer ein Fregattenkapitän geblieben. Wenn es nur nach ihm ginge, würde er ohne großen Zeitverlust den Feind stellen und angreifen. Aber als kommandierender Konteradmiral hatte er andere Verpflichtungen. Er mußte Admiral Beauchamps Pläne in die Tat umsetzen und die wachsende Gefahr einer Invasion Englands abwenden. Nur das war seine Aufgabe. «Um Verständnis bittend sah er Belinda an.»Mein Gott, Ma'am, wenn Sie wüßten, wie er sich gegrämt hat, was es ihn gekostet hat, so schnell wieder in See zu stechen, ohne Sie auch nur gesehen zu haben, ohne Ihnen alles erklären zu können. Als wir uns das letztemal sahen, war sein größter Kummer das Leid, das er

Ihnen antun mußte. Aber wenn Sie Richard wirklich kennen«, sagte er abschließend und mit Nachdruck,»dann werden Sie verstehen, daß seine Ehre ihm genauso wichtig ist wie seine Liebe zu Ihnen.»

Sie nickte mit feuchten Augen.»Das weiß ich nur zu gut und möchte es auch gar nicht anders. Obwohl wir uns erst letztes Jahr kennengelernt haben. Und in der ganzen Zeit seither war ich immer nur wenige Tage mit ihm zusammen. Wie ich Sie beneide, Thomas, daß Sie so vieles gemeinsam mit ihm erleben durften, daß Sie so viele Erinnerungen teilen, die mir immer fremd bleiben werden. «Sie schüttelte den Kopf, wobei ihr das lange Haar über die Schulter fiel.»Nein, Thomas, ich werde ihn niemals aufgeben. Und jetzt schon gar nicht.»

Tränen rannen ihr über die Wangen, aber als Dulcie und Herrick tröstend auf sie zukamen, wehrte sie ab.»Nein, nein, danke, es ist schon gut. Ich werde nicht in Selbstmitleid schwelgen, wenn Richard mich braucht.»

Herrick konnte sie nur anstarren.»Ihre Worte wärmen mir das Herz, Ma'am. Aber erhoffen Sie sich nicht zuviel, versprechen Sie mir das. Sonst könnten Sie die Enttäuschung nicht ertragen.»

«Zuviel erhoffen?«Sie ging zu den offenen Fenstertüren hinüber, eine schmale Silhouette vor See und Himmel, und trat auf den Balkon hinaus.»Das wäre mir gar nicht möglich. Richard ist das einzige, wofür ich lebe. Alles andere ist mir unwichtig geworden, lieber Freund.»

Herrick spürte, daß Dulcie nach seiner Hand griff, und erwiderte den leichten Druck. Belinda mußte sich aus eigener Kraft wieder fangen, und ob sie es schaffen konnte, würde nur die Zeit erweisen.

Er sah auf seine Frau hinab, als sie flüsterte:»Du hast vorhin von neuen Befehlen gesprochen, Thomas?»

«Vergib mir, Liebste. Ich war in Gedanken ganz bei diesem Unglück hier. «Mit einem Blick auf Belinda, die ins Zimmer zurückkehrte, fuhr er fort:»Ich habe Befehl erhalten, einen Konvoi aus Handelsschiffen nach Gibraltar zu eskortieren. Soweit ich weiß, sind es Schiffe mit ziemlich wertvollen Ladungen, die auch in Friedenszeiten verlockende Prisen wären.»

Wieder stieg die Empörung in ihm auf, daß er ausgerechnet jetzt, da man ihn hier so dringend brauchte, mit einem Konvoi weit weg geschickt wurde. Aber hätte er seinen ersten Auftrag als Kommodore abgelehnt, hätte weder sein guter Ruf noch die Freundschaft mit Bolitho, ja nicht einmal ein Adelstitel seine Karriere retten können. In solchen Dingen besaß die Marine ein Elefantengedächtnis.

Deshalb erläuterte er nur:»Dieser Auftrag ist zwar lästig, aber völlig ungefährlich, und ich werde früher, als ihr beide damit rechnet, wieder daheim ein Plymouth sein. «Das war nicht einmal ganz unwahr und ging ihm leichter über die Zunge, als er befürchtet hatte.

Belinda legte ihm die Hand auf den Arm.»Und die Schiffe des Konvois sammeln sich hier?»

«Aye. Zwei kommen aus Bristol und die anderen von den Downs.«[12]

Sie nickte nachdrücklich, und ihre Augen glänzten.»Dann werde ich mich auf einem davon einschiffen. Ich habe Freunde in Gibraltar. Mit guten Beziehungen und etwas Geld kann ich mir vielleicht Gewißheit über Richards Schicksal verschaffen.»

Herrick wollte schon protestieren, klappte den Mund aber schnell wieder zu, als er einen Blick seiner Frau auffing, die leise den Kopf schüttelte. Und es stimmte ja, über gefallene oder vermißte Offiziere hatte man auf Umwegen in Spanien oder Portugal oft viel mehr erfahren als über die offiziellen Kanäle. Aber Belindas Eifer, ihre feste Überzeugung, daß Richard Bolitho noch lebte, machten sie so viel verwundbarer, wenn das Schlimmste geschah. Wer sollte ihr dann helfen?

«Das eine ist ein Indienfahrer, die Duchess of Cornwall. Wie ich hörte, besaßen Sie gute Beziehungen zur Ostindischen Handelskompanie. Bestimmt wird man, soweit möglich, für Ihre Bequemlichkeit an Bord sorgen. Auf alle Fälle verständige ich den

Kapitän brieflich. «Er lächelte gezwungen.»Kommodore zu sein, muß doch wenigstens einen Vorteil haben.»

«Danke«, sagte sie ernst.»Sie sind sehr gut zu mir. Ich wollte nur, ich könnte auf Ihrem Schiff reisen.»

Herrick vermochte nicht zu verhindern, daß ihm darob die Röte ins Gesicht stieg.»Gütiger Himmel, Ma'am, wenn ich Sie unter diesen Grobianen und Galgenvögeln wüßte, könnte ich in meiner Koje kein Auge zutun!«Wieder warf sie ihr Haar zurück. Kein Wunder, dachte Herrik, daß Bolitho von ihr so völlig behext war.»Na ja, wenigstens werde ich Ihr Schiff jeden Tag sehen, Thomas. Dann fühle ich mich bestimmt nicht so allein.»

Dulcie nahm ihre Hand.»Allein brauchen Sie sich niemals zu fühlen, meine Liebe.»

Herrick hörte eine Uhr schlagen und unterdrückte einen Fluch.

«Ich muß gehen«, sagte er, an die Frau im grünen Reisekleid gewandt.»Am besten gewöhnen Sie sich schon ans abrupte Abschiednehmen. «Machte er ihr etwas vor, oder hatten ihr Mut, ihre Zuversicht auf ihn abgefärbt?

Draußen ernüchterte ihn die kühle Abendluft sehr schnell. Er warf einen Blick zur Straßenecke, aber der verkrüppelte Marinesoldat war nicht mehr da.

Von der Pier aus sah er seine Barkasse im Schatten warten; schnell tauchten die Riemen ins Wasser, und das Boot schoß auf ihn zu.

Herrick packte seinen Säbel und verfluchte den Wind, der ihm das Wasser in die Augen trieb. Tuck hätte ihn eher auf die Nationalflagge spucken als ein Mietboot nehmen lassen.

Diese beiden, Tuck und die schöne junge Frau mit dem kastanienbraunen Haar, hatten ihm wieder etwas von seiner alten Kraft und Zuversicht zurückgegeben, auch wenn ihm eine innere Stimme sagte, daß er wahrscheinlich bitter enttäuscht werden würde — später. Aber im Augenblick konnte er wieder hoffen.

Er stieß die Säbelscheide auf die rundgetretenen Kieselsteine und sagte wie zu sich selbst:»Halt aus, Richard! Wir geben noch nicht auf.»

«Sie wollten mich sprechen, Sir?«Leutnant Adam Pascoe stand mitten in der Kajüte, den Blick über die rechte Epaulette seines Kommandanten in die Ferne gerichtet.

Emes lehnte sich in seinem Stuhl zurück und preßte die Hände mit den Fingerspitzen gegeneinander.»So ist es.»

Von außerhalb der Kajüte drang kein Laut herein, lediglich Wind und See rauschten gedämpft, und ab und zu knarrte eine Schiffsplanke.

Emes begann:»Es sind jetzt fünf Tage vergangen, seit Styx sank. Morgen ist der sechste Tag. Ich habe nicht vor, auch nur eine weitere Stunde mitanzusehen — geschweige denn einen weiteren Tag — , wie Sie im Umgang mit mir jedes überflüssige Wort vermeiden und Ihr Schweigen nur brechen, wenn der Dienst es unumgänglich macht. Sie sind mein Erster Offizier, und das ist für einen so jungen Mann wie Sie eine beachtliche Chance. Und eine Ehre. Aber vielleicht sind Sie doch zu jung dafür?»

Pascoe sah Emes jetzt direkt an.»Ich verstehe Sie nicht! Wie konnten Sie das nur tun? Wie konnten Sie sie dem sicheren Verderben ausliefern?»

«Mäßigen Sie Ihren Ton, Mr. Pascoe, und sprechen Sie mich mit >Sir< an. Unter allen Umständen.»

Tap — tap — tap, die Fingerspitzen klopften leicht gegeneinander.

«Ein Angriff auf die französischen Boote war in dem Moment sinnlos geworden, in dem das Eingreifen größerer Kriegsschiffe unmittelbar bevorstand. Ich befehlige eine ziemlich alte Fregatte, Mr. Pascoe, und kein Linienschiff!»

Pascoe senkte den Blick, seine Hände zitterten so, daß er sie gegen die Schenkel pressen mußte, um sich nicht zu verraten. Seit diesem schrecklichen Tag hatte er an nichts anderes mehr denken können. Wenn sein Onkel dabei ums Leben gekommen war, dann hatte ihm bestimmt nicht der Tod den größten Schmerz gebracht. Nein, am schlimmsten mußte für ihn der Anblick seines alten Schiffes gewesen sein, seiner Phalarope, die er einst geliebt hatte und die jetzt ihn und die Seinen im Stich ließ. Aber Emes hatte in seinem gewohnten kühlen Ton schon weitergesprochen.»Wenn Ihr Onkel nicht auf Styx gewesen wäre, würden Sie die Sache vielleicht anders sehen. Sie sind emotional zu stark beteiligt, zu direkt betroffen, um die Tatsachen zu akzeptieren. Styx hatte keine Chance mehr. Meine Verpflichtung galt in erster Linie diesem Schiff hier und dem noch verbliebenen Rest unseres Geschwaders, das mir als dem ranghöchsten Offizier nun anvertraut war. Eine tapfere, aber sinnlose Geste hätte mir die Admiralität schlecht gedankt, und noch mehr hätten die Witwen sie mir verübelt, deren Männer ich in den Tod geschickt hätte, wäre ich so verfahren, wie Sie es ertrotzen wollten. Sie haben an Bord gute Arbeit geleistet, und ich bin bis zu einem gewissen Grad mit Ihnen zufrieden. Aber wenn ich diese Mahnung wiederholen muß, dann werde ich dafür sorgen, daß Sie vor ein Seekriegsgericht kommen. Habe ich mich klar ausgedrückt?»

Unbeherrscht platzte Pascoe heraus:»Glauben Sie, das kümmert mich noch, wenn.»

«Das sollte es aber!«Emes' beide Hände schlugen krachend auf den Tisch.»Nach allem, was ich hörte, hat die Familie Ihres Onkels einen guten Namen in der Marine, oder?»

Pascoe nickte krampfhaft.»Und er hat alles für mich getan, alles.»

«Eben. «Emes entspannte sich fast unmerklich.»Vergessen Sie nicht, Sie sind ein Mitglied dieser Familie.«»Jawohl, Sir.»

«Dann handeln Sie danach. Möglicherweise sind Sie jetzt der letzte der Bolithos. «Er hob die Hand, weil Pascoe protestieren wollte.»Möglicherweise, sagte ich. Wenn Sie als Erbe nach Hause zurückkehren, werden Sie anderen ein Vorbild sein müssen. Es geht jetzt um mehr als um Ihre private Verzweiflung. Hassen Sie mich, wenn Sie unbedingt wollen, aber vernachlässigen Sie nicht Ihren Dienst. Das ist alles, was ich von Ihnen verlange. Was ich Ihnen befehle.»

«Darf ich jetzt gehen, Sir?»

Emes wartete, den Blick auf seine gefalteten Hände gerichtet, bis sich die Tür hinter dem jungen Leutnant mit dem wirren Haarschopf geschlossen hatte. Dann fuhr er sich mit der Handfläche über die Stirn. Sie war naß vor Schweiß, und er kam sich schmutzig vor; übel war ihm außerdem.

Die Sache war damit noch nicht ausgestanden, das wußte er, auch daß die Zeit allein diese Wunden nicht heilen konnte. Pascoe würde die Dinge nicht auf sich beruhen lassen, und in seiner Verzweiflung konnte er alles zerstören.

Emes griff nach dem Federkiel und starrte gedankenverloren auf die Logbuchseite nieder. Er hatte richtig gehandelt, er wußte, daß er richtig gehandelt hatte. Nun mußte er nur noch die anderen dazu bringen, das einzusehen. Fand der Alptraum denn niemals ein Ende? Würde er wieder die Beschuldigungen und die Verachtung von Leuten ertragen müssen, die nie einen Schuß im Gefecht gehört hatten und die nichts ahnten von der Qual eines Kommandanten, der die schlimmste Entscheidung seines Lebens treffen mußte? Die gleichen anonymen Besserwisser würden ihn verdammen, ohne ihn überhaupt gehört zu haben. Er hatte eine Bewährungschance bekommen und keinen Finger gerührt, als sein Admiral unterging. Das würden sie ihm niemals verzeihen.

Er blickte sich in der Kajüte um und erinnerte sich an den Tag, als Bolitho hier gewesen war. Wie war ihm wohl zumute, als er nach so langer Zeit wieder auf seinem alten Schiff stand? Aber wenn er Bolithos Anblick von damals je vergessen sollte, brauchte er nur seinen Ersten Offizier anzusehen. Pascoe würde ihn das nicht ve rgessen lassen.

Wie gestochen begann Emes zu schreiben: Patrouille fortgesetzt, keine besonderen Vorkommnisse…

Загрузка...