«Sieben Faden am Lot!«Den gespannt lauschenden Männern auf dem Achterdeck klang das Aussingen des Lotgasten unnatürlich laut.
Bolitho blickte schnell nach oben, als das Großsegel und die Breitfock sich in einer leichten Brise füllten und steifstanden. Wind konnte man das zwar nicht nennen, aber da alle Segel der Styx nun optimal zogen, brachte sie es immerhin auf acht bis neun Knoten Fahrt durchs Wasser.
Steuerbord voraus wurde die Insel langsam größer. In den letzten Minuten, so kam es Bolitho vor, war die Sonne darüber hinweggewandert, deshalb lag die vorderste Landzunge schon im Schatten.
Immer noch feuerten die Bugkanonen in regelmäßigen Intervallen auf die französische Yawl, die weit vor Styx' Galion ihre Haken schlug, weil der Kapitän offenbar sein Schiff weiterhin für das
Ziel der Fregatte hielt. Neale ließ sein Teleskop sinken.»Die Dämmerung kommt früh heute abend.»
Bolitho schwieg und konzentrierte sich auf die kleine Insel. Während die Fregatte immer tiefer in den Sund vordrang, spürte er, wie die Spannung wuchs, und überlegte, was die Franzosen dort jenseits des schmalen Fahrwassers wohl taten. Beschossen hatte man sie nicht mehr, deshalb fragte er sich mit nagender Sorge, ob er sich nicht doch verrechnet hatte und die Insel völlig unwichtig war.
Allday scharrte mit den Füßen und murmelte:»Die schlafen wohl, das Pack!»
«Ich sehe Rauch«, meldete sich Browne.»Dort unten, dicht überm Boden.»
Neale hastete herbei, stieß einen Midshipman zur Seite, als wäre er ein leerer Sack.»Wo?«Wieder richtete er sein Fernrohr auf die Insel.»Verdammt, das ist nicht Rauch — das ist Staub!»
Bolitho schwenkte sein Teleskop in die von Neale angezeigte Richtung. Es war tatsächlich Staub, und zwar wurde er von einem Pferdegespann aufgewirbelt, das jetzt hinter niedrigem Gebüsch hervorpreschte und ein Feldgeschütz auf einer Protze polternd hinter sich herzog, offenbar zur anderen Seite der Insel. Minuten später folgte ein zweites Gespann mit einer Kanone, und die sinkende Sonne reflektierte kurz auf Uniform und Ausrüstung der Vorreiter.
Bolitho schob das Fernrohr zusammen und bemühte sich, sein Triumphgefühl zu beherrschen. Also hatte er sich doch nicht geirrt! Die Franzosen fühlten sich hier so sicher, daß sie sich auf Feldartillerie verließen, statt eine feste Küstenbatterie zu installieren. Wahrscheinlich wollten sie die Kanonen wieder aufs Festland schaffen, sobald die neuen Landungsboote erst zu ihrem endgültigen Ziel unterwegs waren.
Kein Wunder, daß Styx nach den ersten Warnschüssen nicht mehr unter Feuer genommen worden war. Die Schußfolge war auch viel zu exakt gewesen, daraus ließ sich auf Artillerie schließen, die nur an den Krieg zu Lande gewohnt war. Ein Schiffskanonier hätte jedes Geschütz sorgsam gerichtet und abgefeuert, nur um ganz sicherzugehen und keine Munition zu verschwenden. Der begrenzte Munitionsvorrat an Bord stand einem Seemann immer vor Augen, er hätte auch an Land seine Technik nicht geändert.»An Deck!»
Neale wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und brummte:»Na, los doch, Mann, spuck's aus!»
Aber der Ausguckposten im Masttopp war viel zu gut gedrillt, als daß er sich von den ungeduldigen Kameraden da unten hätte irritieren lassen.
Als er sich seiner Sache sicher war, rief er:»Schiffe vor Anker — knapp hinter der Landspitze, Sir!»
Einer der Lotgasten vorn sang aus:»Fünf Faden, abnehmend!«Aber bis auf Bundy, den Master, schien das keinen zu kümmern. Einige starrten voraus, andere nach oben zum Ausguck, auf dessen nächste Meldung sie ungeduldig warteten.
«Da ankern ein Dutzend Schiffe oder mehr, Sir!«Trotz der Distanz war das ungläubige Staunen in der Stimme des Postens nicht zu überhören, als er hinzufügte:»Nein, Sir — sehr viel mehr!»
Neale schlug sich mit der rechten Faust in die linke Handfläche.»Wir haben sie, bei Gott!»
Bundy meldete sich zu Wort.»Wir kommen aufs Flach, Sir. «Neale starrte ihn so wütend an, daß er ergänzte:»Tut mir leid, Sir, aber das müssen Sie wissen.»
«Vier Faden!«Die Stimme des Lotgasten klang wie ein Trauergesang. Der Erste Offizier trat zu Bundy an die Seekarte.»Immer noch ablaufendes Wasser. «Vielsagend blickte er seinen Kommandanten an und sah dann zu den Rahen auf.
Neale reagierte endlich.»Setzen Sie die Leesegel. Wir wollen den Tidenstrom ausnutzen. «Mit einem Blick zu Bolitho fügte er hinzu:»Falls Sie einverstanden sind, Sir.»
«Gewiß. Im Augenblick ist Schnelligkeit für uns am wichtigsten.»
Und dann vergaß Bolitho die Rufe der Toppsgasten, die hoch oben die Leesegel ausbrachten, das Trommelfeuer der Befehle und
Knirschen der Heißleinen, denn als das Schiff auf konvergierenden Kurs zur nächsten Landspitze einschwenkte, konnte er die ersten verankerten Landungsschiffe sehen. Kein Wunder, daß der Ausguck verblüfft gewesen war. Dort lagen Dutzende und Aberdutzende, manche Seite an Seite, andere — wahrscheinlich die Mörserboote oder Bombenwerfer — einzeln für sich: eine wahre Armada kleiner Landungsfahrzeuge. Nur zu leicht konnte Bolitho sich vorstellen, wie sie französische Dragoner und Infanteristen auf die Strande Südenglands spien.
«Vier Faden!«Der Lotgast holte die Leine so flink auf, daß sein muskulöser Arm im roten Abendsonnenschein kaum zu sehen war.
Neale rief:»Steuerbordbatterie, Achtung!«Er sah, daß jeder Stückmeister seitlich die Hand hob, während dahinter die Offiziere weiter auf und ab marschierten, als wären sie Fremde.
Vor dem Hintergrund der in immer tiefere Schatten sinkenden Insel lagen die Rümpfe der neuen Leichter und Prähme so dicht beieinander, daß die Reede von einem überdimensionalen Floß bedeckt schien.
Bolitho starrte in die glühend rote Abendsonne. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Wenn nur Sparrowhawk oder Rapid hier gewesen wären! Aber für Styx mußte es bald zu flach werden, und wenn die Fregatte nicht frei manövrieren konnte, würde sie höchstens zwei oder drei Landungsschiffe versenken oder beschädigen können.
«Wo ist die Yawl?«wollte er wissen.
«Steuerbord voraus, Sir«, antwortete Neale.»Wahrscheinlich will sie sich zwischen den Ankerliegern verkriechen, wenn sie es schafft.»
Bolitho kam zu einem Entschluß.»Die Stückmeister sollen auf die Yawl zielen. Die Mannschaft, welche sie als erste trifft, bekommt eine Guinea.»
Es gab nicht wenige, die sich über dieses Ziel wunderten, aber nach ein paar schnellen Korrekturen mit Handspaken und Taljen waren die Kanonen gerichtet, und die Stückmeister meldeten Feuerbereitschaft.
«Einzelfeuer!«Neale hob den geschwungenen Säbel hoch über den Kopf.»In der Aufwärtsbewegung — Feuer!»
Über die ganze Länge der Bordwand spuckte ein Kanonenrohr nach dem anderen Feuer und Rauch und ruckte auf seiner Lafette dann wieder nach innen. Die vordersten Kanonen wurden schon wieder ausgewischt und nachgeladen, während die achteren noch schossen.
Die Yawl hatte gerade wenden wollen, auf die verankerten Landungsboote zu. Jetzt schien sie unter dem Gewicht des Eisens förmlich einzustürzen, als die Fregatte ihre Doppelkugeln auf weniger als zwei Kabellängen Distanz abfeuerte.
Rund um die zerschmetterte Yawl war die Wasseroberfläche wie pockennarbig vom Einschlag der Kugeln und Wrackteile. Irgendwo auf dem Wrack flammte ein kleiner Lichtfunke auf, der sich sofort explosionsartig zu einem riesigen Feuerball vergrößerte. Die Ursache mochte ein Pulverfaß gewesen sein, in das ein Funke fiel, auch ein benommener Seemann, der im Zwischendeck mit einer Lampe in der Hand das Gleichgewicht verloren hatte — wer wollte das wissen?
Bundy stammelte:»Mein Gott, sie brennt wie Zunder!»
Bolitho versuchte, sich sein Mitleid für die Männer auf dem brennenden Schiff nicht anmerken zu lassen. Eine Doppelkugel hätte schon ausgereicht, sie zu versenken, aber diese Salve hatte sie in ein Flammenmeer verwandelt. In einen Brander.
Sachlich sagte er:»Das sollte die anderen aufscheuchen!»
Etwas durchschlug wie mit einer Riesenfaust das Großsegel und hinterließ ein Loch, so groß, daß ein Mann bequem hätte durchschlüpfen können. Also hatte eine dieser Feldhaubitzen das Feuer eröffnet.
Der Erste Offizier rief aufgeregt:»Sie kappen die Ankertrossen!»
Das weite Feld der verankerten oder vertäuten Boote brach schon auseinander, von Wind und Ebbstrom noch geschoben; jeder Skipper suchte verzweifelt, sich von den anderen freizuhalten und Segel zu setzen, koste es, was es wolle. Niemand scherte sich um den Nebenmann, Hauptsache, man nahm Fahrt auf und entkam dem Brander und dem Beschuß durch die feindliche Fregatte, die in voller Fahrt auf sie zugerauscht kam, obwohl sie nur wenige Fuß Wasser unterm Kiel haben konnte.»Steuerbordbatterie — weiterfeuern!»
Neale stürzte zum Schanzkleid, das Gesicht vom Widerschein der Flammen rot angehaucht, und starrte auf die ersten Kähne, die jetzt fast auf gleicher Höhe mit der Fregatte aus dem Schatten auftauchten.
«Backbordbatterie — Achtung!»
Die Crew jubelte, als an Backbord das erste gegnerische Boot erschien, das den Bug in Richtung Festland gedreht und einige Segel schon gesetzt hatte.
Die Backbordbatterie begann zu feuern und begrub das flüchtende Fahrzeug fast unter Eisen und Wasserfontänen, während seine Takelage wie von einem Hurrikan über Bord gefegt wurde.
Neale stellte fest:»Der ist erledigt. «Er zuckte zusammen, als eine Kugel tief über die Finknetze zischte und querab ins Wasser schlug.
Bolitho starrte in das Chaos; allmählich wuchs die Gefahr, daß die angreifende Fregatte selbst hineinverstrickt wurde. Fahrzeuge, die ihre Trossen zu früh gekappt hatten, verfingen sich treibend in noch manövrierfähigen und blockierten damit auch sie. Andere riskierten alles, um das offene Wasser zu erreichen, sie liefen genauso große Gefahr, von der eigenen Feldartillerie getroffen zu werden wie von Neales Kanonen. Denn es war jetzt fast dunkel, die See hatte die Flammen auf den brennenden Fahrzeugen erstickt, und nur Mündungsfeuer erhellte noch die Szene.
«Lassen Sie das Feuer einstellen, Kapitän Neale.»
Bolitho versuchte, sich von der fiebrigen Erregung nicht anstekken zu lassen und wieder klaren Kopf zu gewinnen. Styx war von keiner einzigen Kugel getroffen worden, auch nicht ein Mann war verwundet. Das Gefecht war abgelaufen wie in Bolithos kühnsten Träumen.
«Sir?«Neale wartete gespannt auf seinen nächsten Befehl.
«Wenn Sie der französische Kommandeur wären«, begann Bo-litho,»war würden Sie jetzt tun? Die Landungsflotte zurückbeordern und wieder hier vor Anker gehen lassen, während gleichzeitig zu ihrem Schutz eine neue, effektive Küstenbatterie installiert wird — oder sie gleich weiter nach Norden segeln lassen, wohin sie ja ohnehin bestimmt war?»
Neale grinste auf zwei rauchgeschwärzte Seeleute hinab, die jubelnd auf dem Batteriedeck ihre Freudensprünge machten. Dann wurde er ernst.»Ich würde sie nicht zurückbeordern. Das könnte aussehen wie Unfähigkeit, sogar wie Feigheit, wenn man berücksichtigt, wie dringend sie gebraucht werden. «Er nickte bekräftigend.»Ja, Sir, ich würde sie gleich nach Norden weiterschicken, bevor wir ihnen mit Verstärkung noch gefährlicher werden können.»
Bolitho lächelte nachdenklich.»Da stimme ich Ihnen voll zu. Also lassen Sie den Master einen Kurs festlegen, der uns aus diesem Sund heraus und zum Treffpunkt zurückführt. Sobald wir Rapid sichten, sende ich sie nach den anderen aus. Ich wette, Rapid ist noch in der Nähe, und ihr Kommandant zerbricht sich den Kopf, womit, zum Teufel, wir uns die Zeit vertreiben. Wenn wir ihm nicht gerade seine Prise wegschnappen, heißt das. «Nun ging die Erregung doch mit ihm durch, und er packte Neale am Arm.»Mann, bedenken Sie — wir werden den Wind zu unseren Gunsten haben! Und wir wissen, daß von Lorient oder Brest keine Unterstützung für die Landungsflotte unterwegs ist, sonst hätten Spar-rowhawk oder Phalarope sie gesichtet. Bisher haben wir nur Panik verursacht, aber das ist nicht von langer Dauer. Wir müssen sofort nachstoßen. Mit ihrer Karronaden-Bestückung kann Phala-rope unter diesen leichten Fahrzeugen verheerenden Schaden anrichten.»
Scharf spähte er nach oben, als die Segel den Wind verloren und laut knallten. Aber es war nur die Leeabdeckung der Insel. Wenn sie erst draußen in tieferem Wasser segelten, konnten sie sich leicht zum Rest des Geschwaders durchschlagen.
Besorgt überlegte Neale:»Wir müssen verdammt dicht unter
Land segeln, Sir. «Doch dann grinste er.»Aber Sie haben recht, wir werden es schon schaffen. Mr. Pickthorn, bemannen Sie die Brassen. Klar zur Halse!»
Bolitho schickte sich zum Gehen an, wandte sich aber noch einmal um.»Vorhin hätte es Ihnen leicht den Kiel herausreißen können«, sagte er.»Deshalb weiß ich Ihr Vertrauen sehr zu schätzen, Kapitän Neale.»
Neale sah ihm nach.»Wenn wir das geschafft haben, segeln wir nächstesmal auch über 'ne taunasse Wiese«, grinste er.
Bundy sah seine Rudergänger an und verzog das Gesicht.»Aber nicht mit mir, oder ich will verdammt sein!»
Stöhnend öffnete Bolitho die Augen. Alles tat ihm weh, er fühlte sich am ganzen Körper wie zerschlagen. Dann begriff er, daß er auf Neales Stuhl eingeschlafen war.
Doch wurde er sofort hellwach, als er sah, daß Allday sich über ihn beugte.
«Was gibt's?»
Vorsichtig stellte Allday einen Topf Kaffee auf den Tisch.»Der Wind frischt auf, Sir, und in einer halben Stunde wird es hell. «Er trat einen Schritt zurück, den Kopf unter den niedrigen Decksbalken etwas eingezogen, und musterte Bolitho kritisch.»Dachte, Sie wollten vielleicht rasiert werden, ehe es tagt.»
Bolitho streckte die Beine aus und schlürfte Kaffee. Allday dachte wirklich an alles.
Während das Deck unter seinen Füßen im Seegang arbeitete, schien es ihm fast unglaublich, daß sie erst vor wenigen Stunden mit der Brigg Rapid Kontakt aufgenommen hatten, die kurz danach wieder eilig davongesegelt war, um Verbindung mit Phalarope herzustellen.
Der Rest war dann viel einfacher gewesen als erwartet. Beide Fregatten waren wieder über Stag gegangen und hatten SüdostKurs gesteuert, wobei sie den Wind voll ausnutzen konnten, während Rapid sich auf die Suche nach Duncans Sparrowhawk machte.
Besonders eindrucksvoll war seine Streitmacht nicht, mußte Bo-litho sich eingestehen, aber was ihr an Stärke fehlte, machte sie durch Beweglichkeit und Feuerkraft wieder wett. Auf Styx hatte er sie gerade erlebt, diese an Wahnsinn grenzende Wildheit, mit der die Leute auf das Donnern der Kanonen reagierten. Wenn sie die Landungsflotte noch einmal aufspüren und versprengen konnten, dann mußte sich Panik ausbreiten wie ein Steppenbrand.
Danach konnte er der Admiralität berichten, daß Beauchamps Auftrag ausgeführt war.
Es klopfte, und herein trat Neale, das runde Gesicht von Wind und Gischt gerötet.
«Phalarope kommt achteraus allmählich in Sicht, Sir. Der Himmel wird schon hell, aber der Wind hat auf Nord zu West gedreht. Ich habe die Leute bereits frühstücken geschickt, denn mir schwant, daß uns heute allerhand bevorsteht. Falls die Franzosen ausgelaufen sind, meine ich.»
Bolitho nickte.»Und falls nicht, gehen wir genauso vor wie gestern, nur haben wir diesmal Phalaropes Karronaden zur Unterstützung. «Er spürte, daß Allday bei der Nennung dieses Namens mitten in der Bewegung erstarrte, das Rasiermesser einen Moment innehielt. Neale lauschte auf laute Stimmen oben an Deck und entschuldigte sich mit dringenden Aufgaben; Alldays Bestürzung war ihm entgangen.
Bolitho lehnte sich im Stuhl zurück und sagte leise:»Auf See gibt es keinen Spuk, Allday. Wir werden heute diese Landungsboote vernichten, was auch kommt. Und danach…»
Allday fuhr schweigend mit dem Rasieren fort.
Trotzdem, seltsam war es schon, daß Phalarope irgendwo achteraus im Dämmerlicht segelte, wo sie bisher nur von dem scharfäugigen Ausguck im Masttopp gesehen werden konnte. Was erregte ihn mehr, die Aussicht auf Vernichtung der Invasionsflotte oder die Möglichkeit, dieses ganz besondere Schiff wieder unter seinem Kommando zu haben? Er seufzte und dachte statt dessen an
Belinda. Was mochte sie wohl gerade tun? Lag sie im Bett und lauschte auf das verschlafene Zwitschern der ersten Vögel? Dachte sie an ihn und ihre gemeinsame Zukunft? Ihr verstorbener Mann hatte den Kriegsdienst gehaßt und seinen Abschied eingereicht, um statt dessen für die Ostindische Handelskompanie zu fahren. Würde ihr das Leben an der Seite eines Marineoffiziers genauso verhaßt werden? Er konnte von heute auf morgen auf die andere Seite der Welt abkommandiert werden.
Abermals klopfte es, und Bolitho war fast dankbar für die Unterbrechung. Browne trat ein, wieder völlig gesund und so untadelig gekleidet, als trete er vor das House of Lords.
«Ist es soweit?»
Browne nickte.»Der Morgen dämmert, Sir.»
Bolitho sah Allday resigniert die Schultern zucken. Solche Mutlosigkeit war seinem Bootsführer sonst fremd.
Beim Aufstehen spürte Bolitho stärker die abrupten Schiffsbewegungen. Der Wind hatte also noch weiter gedreht. Sie mußten höllisch auf der Hut sein, wenn sie bei dieser Windrichtung nicht an einer Leeküste stranden wollten. Er lächelte grimmig. Aber das galt auch für die Franzosen.
Er schlüpfte in seinen Rock.»Fertig. «Und zu Allday:»Ein Morgen wie jeder andere.»
Allday riß sich zusammen.»Aye, Sir. Und ich hoffe, wenn es das nächstemal tagt, haben wir Frankreich das Heck zugekehrt.
Ich hasse diesen verfluchten Golf, der uns schon so viel Unglück gebracht hat.»
Bolitho ließ es dabei bewenden. Wenn Allday eine seiner seltenen Anwandlungen von Trübsinn hatte, ließ man ihn am besten in Ruhe. Heute standen andere Dinge auf dem Spiel.
Nach der stickigen Wärme in der Kajüte war es auf dem Achterdeck eiskalt. Bolitho erwiderte Neales Gruß und nickte den anderen Wachoffizieren zu. Das Schiff war schon gefechtsklar oder würde es doch sein, sobald erst die letzte Wand zwischen der Kommandantenkajüte und dem Batteriedeck abgeschlagen war.
Aber noch räkelten sich die Geschützmannschaften unter den Seitendecks herum; die schlagenden Segel und das dunkle Rigg verbargen noch die Scharfschützen oben in den Marsen.
Bolitho trat nach achtern ans Heckgeländer, vorbei an den Seesoldaten, die ihre Musketen an die prall gestopften Hängemattsnetze gelehnt hatten, während sie sich selbst daneben ausstreckten. Im fahlen Licht der Morgendämmerung leuchteten ihre weißen Brustriemen gespenstisch, während die roten Uniformröcke jetzt schwarz wirkten.
Dann erblickte er zum erstenmal die alte Fregatte in Styx' Kielwasser und erstarrte.
Bramrahen und Stander fingen schon einen ersten Lichtschimmer ein, während die unteren Segel und der Rumpf selbst noch völlig im Dunkeln lagen: wirklich ein gespenstischer Anblick.
Er schüttelte sich und dachte statt dessen an den Rest seines Geschwaders. Rapid mochte Duncan inzwischen aufgespürt haben. Andere Schiffe konnten zu ihrer Unterstützung eintreffen, wie Beauchamp das ursprünglich verfügt hatte. Aber wie Browne hegte auch er einige Zweifel daran.
Neale trat an die Reling neben ihn, und gemeinsam sahen sie zu, wie das Licht von Land her auf sie zukroch: eine feurige Morgenröte. Bolitho mußte lächeln, weil ihm einfiel, was seine Mutter immer gesagt hatte:»Morgenrot — Schlechtwetterbot'. «Ihn fröstelte plötzlich, und er drehte sich nach Allday um. Aber dann ärgerte er sich selbst über seinen Aberglauben.
«Nehmen Sie so bald wie möglich Kontakt mit Phalarope auf«, wies er Browne an.»Signalisieren Sie, daß sie in Luv bleiben soll.»
Browne eilte zu seinen Signalflaggen, und Bolitho fuhr, an Neale gewandt, fort:»Wenn Phalarope bestätigt hat, gehen wir dichter unter Land.»
Neale hatte Bedenken.»Dann wird man uns sofort entdecken,
Sir.»
Bolitho hob die Schultern.»Bis dahin ist es ohnehin zu spät. «Plötzlich vermißte er Herrick. Standhaft wie ein Fels in der
Brandung, aber jederzeit bereit, auf seine dickköpfige Art zu widersprechen. Neale würde seinem Admiral blindlings und ohne Zögern in die Hölle folgen, ganz im Gegensatz zu Herrick. Aber wenn der Plan einen Fehler enthielt, konnte man sicher sein, daß Herrick ihn fand.
Bolitho blickte zum Stander im Masttopp auf: steif wie ein Brett. Der Wind legte immer noch zu.
Gedankenverloren spielten seine Finger mit dem Griff seines alten Säbels, während er sich sagte, daß er Neale und Allday gegenüber unfair war. Und auch gegenüber Herrick.
Da oben im Besantopp wehte seine Flagge, und die Verantwortung lag bei ihm, bei niemandem sonst.
Überraschenderweise fühlte er sich danach ruhiger. Als er seinen gewohnten Fußmarsch begann, immer hin und her auf der Luvseite des Achterdecks, verriet nichts mehr an seinem Benehmen, daß er eben noch gefürchtet hatte, das Vertrauen in sich selbst zu verlieren.
Der Erste Offizier ging quer übers Deck zum Kompaß und las ihn ab, ehe er aufblickte und den Stand jedes einzelnen Segels überprüfte.
Niemand sprach, und Worte waren auch nicht nötig. Die Berufsseeleute an Bord kannten ihr Schiff so genau wie ihre Kameraden. Hätte Pickthorn die Bemerkung fallengelassen, daß der Wind noch einen Strich weiter gedreht hatte, wäre ihm das von Bundy verübelt und von Neale als Zeichen der Nervosität ausgelegt worden.
Bolitho kannte das alles, hatte es am eigenen Leibe erfahren. Er wandte sich wieder nach achtern und beobachtete, wie sich die endlos anstürmenden weißen Wellenkämme mit den Farben des erwachenden Tages überzogen. Salz brannte auf seinen Lippen und Wangen, aber er beachtete es nicht, sondern starrte zu Phalarope hinüber, die sich Steuerbord achteraus gehorsam nach Luv arbeitete. Mit ihren geschlossenen Stückpforten, die sich wie ein gewürfeltes Band über die ganze Länge des Rumpfes zogen, sah sie prächtig aus. Die vergoldete Galionsfigur schimmerte in den ersten Sonnenstrahlen, und auf dem Achterdeck konnte Bolitho mit bloßem Auge eine Gruppe blau uniformierter Männer stehen sehen; einer von ihnen mußte Adam sein, dachte er, der wohl wie Pickthorn Segel und Crew nicht aus den Augen ließ, jederzeit bereit, mit einem Befehl einzugreifen. Phalarope segelte mit starker Schräglage, Wind und Seegang krängten sie so, daß sie sich zu Styx hinüber neigte.
Wie mochte seine Fregatte von dort drüben aussehen?
Bolitho wandte sich ab und stieg den Niedergang zum Batteriedeck hinunter. Die Kanoniere waren noch auf Station, aber die Spannung war mit der Dunkelheit gewichen, als das Licht ein leeres Meer enthüllte. Der Zweite und Dritte Offizier plauderten so entspannt miteinander wie Spaziergänger in einem Park.
Neale richtete sein Teleskop durch die Backbord-Webeleinen auf das hügelige, schiefergraue Festland. Bis zur Küste waren es nur fünf Seemeilen, dort drüben mußten schon viele Augen den beiden britischen Schiffen folgen.
Gereizt warf Neale sein Fernrohr einem Midshipman zu und grunzte:»Nicht das geringste zu entdecken.»
Browne trat neben Bolitho ans Schanzkleid.»Sie scheint durch die See zu fliegen, Sir.»
Bolitho lächelte ihn an. Browne war wohl so erregt über das prächtig segelnde Schiff unter seinen Füßen, das sich temperamentvoll wie ein lebendiges Wesen den weißen Hunden entgegenwarf, daß ihn die aufgezwungene Untätigkeit nicht zu stören schien.
«Gewiß. Mein Neffe dort drüben wird alle Hände voll zu tun haben, aber zweifellos jeden Moment genießen.»
«Na, darum beneide ich ihn nicht, Sir. «Browne vermied es stets sorgfältig, den Kommandanten der Phalarope zu erwähnen.»Eine bunt zusammengewürfelte Mannschaft und dazu Offiziere, die noch halbe Kinder sind. Nein, da ist mir meine Aufgabe hier an Bord schon sehr viel lieber.»
Bundy rief:»Nebel voraus, Sir!»
Neale brummte bestätigend. Er hatte schon selbst gesehen, daß sie auf eine leichte Nebelbank zufuhren, die wie heller Rauch tief über dem Wasser hing. Wenn Bundy sie erwähnte, bedeutete dies, daß er sich deshalb Sorgen machte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Ausguckposten die südliche Landspitze der Loiremündung ausmachen mußten. Danach würden sie als nächstes die Ile d'Yeu sichten. Sie waren wieder da, wo alles angefangen hatte, aber diesmal sehr viel dichter unter Land.
Neale warf einen Blick zu Bolitho, der mit auf dem Rücken verschränkten Händen am Schanzkleid stand und mit den Knien die unregelmäßigen Schiffsbewegungen abfederte. Der kehrt niemals um, auch nicht in tausend Jahren, dachte Neale. Seltsamerweise fühlte er Mitleid für den Admiral und Betroffenheit darüber, daß sein wagemutiger Plan zu mißlingen drohte.
«An Deck! Segel Backbord voraus!»
Neale war mit einem Sprung in den Wanten und gestikulierte ungeduldig nach seinem Fernrohr.
Bolitho verschränkte die Arme über der Brust, damit niemand sah, wie seine Hände vor Spannung bebten.
Der Wind griff in die Nebelbank und wirbelte sie davon, der Küste zu. Und da waren sie, die Landungsboote: sechs Reihen breit, segelte die Flotte in Kiellinie, so diszipliniert wie eine römische Kohorte auf dem Marsch. Die Wimpel und Flaggen, die steif auswehten und im grellen Morgenlicht bunt leuchteten, wirkten wie Standarten.
Browne holte tief Luft.»Bei Tageslicht scheinen es sogar noch mehr zu sein, Sir.»
Bolitho nickte, sein Mund war plötzlich trocken geworden. Die Flotte kleiner Fahrzeuge kämpfte schwer mit Wind und See, kreuzte hin und her, immer bemüht, in Kiellinie zu bleiben und nach Luv voranzukommen.
Neale rief:»Was sie jetzt wohl vorhaben? Sich zerstreuen und fliehen?»
Bolitho befahl:»Setzen Sie mehr Segel, Kapitän Neale, und zwar so viel, wie sie nur tragen kann. Wir wollen dem Feind keine Chance geben, das selbst zu entscheiden.»
Er wandte sich um und sah Browne übers ganze Gesicht grinsen, während überall Männer auf ihre Stationen hasteten, um den schrillen Pfiffen und dem Ruf nach mehr Segelfläche zu gehorchen. Auf beiden Seiten wurden die riesigen Leesegel ausgebracht, die wie große Ohren abstanden und sie immer schneller auf den dichten Teppich der Landungsboote zutrugen.
An Steuerbord achteraus legte sich die helle Segelpyramide von Phalarope noch schräger, als sie dem Beispiel der führenden Fregatte folgte, und Bolitho glaubte, den Fiedler auf seiner Geige kratzen zu hören — anfeuernde Begleitmusik zu den Shantys der schwer in die Brassen einfallenden Seeleute.
Midshipman Kilburne hielt trotz der Aufregung sein Fernrohr unbeirrt auf die andere Fregatte gerichtet und riefjetzt:»Von Phalarope, Sir! Sie meldet: Segel in Nordwestl»
Neale wandte sich nur kurz um.»Das wird wahrscheinlich Rapid sein«, sagte er.
Bolitho umklammerte den Handlauf fester, weil Styx gerade wieder in ein Wellental sackte. Spritzwasser peitschte die Decks, als segelten sie durch einen Wolkenbruch, und die Männer an den Kanonen wurden bis auf die Haut durchnäßt, während ihr Schiff sich mit hoher Fahrt auf die Formation kleiner Landungsboote stürzte, die vor ihm immer breiter wurde.
Die Peilung ließ tatsächlich auf Rapid schließen. Die Brigg mußte auf Sparrowhawk gestoßen sein und eilte nun herbei, um sich an dem Gefecht zu beteiligen. Bolitho biß sich auf die Lippe. Oder an dem Gemetzel, das war wohl der treffendere Ausdruck.
«Lassen Sie die Kanonen laden und ausrennen. Und zwar auf beiden Seiten.»
Bolitho zog seine Taschenuhr heraus und ließ den Deckel aufspringen. Es war genau acht Uhr morgens. Im selben Augenblick ertönte auch die Glocke auf dem Vorschiff. Trotz allem hatte sich dort ein Schiffsjunge an seine halbstündige Aufgabe erinnert und trug seinen Teil dazu bei, daß die Bordroutine funktionierte.
«Der Feind teilt sich in zwei Kolonnen, Sir«, meldete Pickthorn. Kopfschüttelnd fuhr er fort:»Aber sie sind nie im Leben schneller als wir, und auf der anderen Seite liegen doch nur Felsen oder der
Strand. «Es klang, als sei er betroffen über die Hilflosigkeit der Franzosen.
Kilburne preßte das große Dienstteleskop des Signalfähnrichs so fest ans Auge, daß ihm die Tränen kamen. Bolitho stand nur einen Schritt von ihm entfernt, und er wollte seine Überlegungen nicht durchkreuzen, indem er irgendeinen dummen Fehler beging. Deshalb blinzelte er heftig und sah dann noch einmal hinüber, studierte Phalaropes stahlharte Segel und die bunten Signalflaggen an ihrer Rah.
Aber er hatte sich nicht geirrt. Mit nicht ganz fester Stimme meldete er:»Von Phalarope, Sir. Sie hat Rapids Erkennungsnummer gehißt.»
Bolitho wandte sich um. Daß ein Schiff das Flaggensignal eines anderen wiederholte, war die übliche Praxis, aber in Kilburnes Stimme hatte ein warnender Unterton mitgeklungen.
Und da war es schon:»Meldung von Rapid, Sir: Feind in Sicht in Nordwest?»
Leise fluchte Browne:»Hölle und Teufel!»
«Ihre Befehle, Sir?«Neale sah Bolitho an, weder sein Blick noch seine Miene verrieten Unruhe.
Bolitho straffte sich.»Wir greifen trotzdem an. Ändern Sie den Kurs etwas nach Backbord und schneiden Sie den Führungsbooten den Weg ab, wenn sie an uns vorbei ausbrechen wollen.»
Wieder einmal eilten die Männer an Brassen und Schoten; die meisten ahnten noch nichts von der Gefahr, die hinter der Kimm lauerte.
Allday stieß sich von den Webeleinen ab und schlenderte wie absichtslos zu Bolitho hinüber. Der sah ihm nachdenklich entgegen.»Tja, vielleicht behältst du doch noch recht, alter Freund, mit deinen finsteren Ahnungen. Aber wir müssen da durch. «Haßerfüllt starrte Allday zu den Reihen niedriger Rümpfe und kleiner Segel hinüber und dachte daran, welchen Blutzoll sie von ihnen fordern würden. Aber laut sagte er:»Wir machen sie fertig, Sir. So oder so.»
Auf den vordersten gegnerischen Fahrzeugen krachten ein paar Drehbassen und Musketen, aber ihr schwaches Geknatter wurde umgehend vom Brüllen der ersten Breitseite übertönt, die Styx abfeuerte.
Neale rief durch die trichterförmig um den Mund gelegten Hände:»Mr. Pickthorn — Segel kürzen! Nehmen Sie Rpyals und Leesegel weg!«Er sah zu, wie die Leesegelrahen eingezogen und die obersten Segel aufgegeit wurden. Wieder krachten die Kanonen auf dem Batteriedeck, Männer schrien kaum Verständliches, vereinzelt zischten feindliche Musketenkugeln durch die Wanten, gefolgt von Kartätschen des Feindes.
Bolitho sagte:»Mr. Browne, Signal an Phalarope: Verwickeln Sie den Feind ins Gefecht!»
Noch blieb ihnen genug Zeit. Styx konnte die Sundausfahrt blok-kieren und die feindliche Formation sprengen und zerstreuen, Phalarope mit ihrer schweren Bestückung aus Karronaden konnte Vorhut und Gros des Feindes angreifen. Danach blieb ihnen immer noch genug Raum, sich freizusegeln und draußen auf See zu Rapid zu stoßen. Doch Phalarope hißte bereits ein anderes Signal.
Midshipman Kilburne übermittelte die Meldung schreiend zwischen den Salven beider Batterien:»Weitergeleitet von Rapid, Sir: Drei feindliche Schiffe in Nordwestl«Er biß sich auf die Lippen, als die Kanone direkt unter der Querreling feuerte und auf ihrer Lafette wieder binnenbords krachte; dann fuhr er fort: «Dabei wahrscheinlich ein Linienschiff.«Unter ihnen liefen Munitionsmänner mit neuen Kartuschen und Kugeln herbei.
Allday rieb sich das stoppelige Kinn:»Mehr sind's nicht?»
Als wollte er das Maß voll machen, meldete sich auch der Ausguck im Masttopp:»An Deck! Land Steuerbord voraus!»
Bundy nickte mit steinernem Blick. Das war die Ile d'Yeu. Sie lag vor ihnen wie die untere Hälfte einer riesigen Raubtierfalle.
Pickthorn ließ seinen Schalltrichter sinken, da seine Toppsgasten schon wieder in den Wanten niederenterten. »Phalarope nimmt Segel weg, Sir.»
Bolitho vergewisserte sich, daß an Styx' Signalrah noch die letzte Flaggenkombination auswehte: sein Befehl an Kapitän Emes, dem. anrückenden Feind entgegenzusegeln und ihn in ein Gefecht zu verwickeln.
Da hörte er, wie Browne den Signalfähnrich anfauchte:»Hat sie das Signal nicht gesehen, Mr. Kilburne?»
Kilburne setzte das Glas nur so lange ab, wie er für die Antwort brauchte:»Sie hat es bestätigt, Sir.»
Browne wurde blaß und sah Bolitho perplex an.»Bestätigt!«wiederholte er.
Kartätschen pfiffen quer übers Achterdeck und schlugen wie unsichtbare Fäuste in die festgezurrten Hängematten. Mit blutüberströmtem Gesicht brach ein Seesoldat in die Knie und wurde sofort von seinen Kameraden in Deckung gezogen: ihr erster Verwundeter.
Ein außer Kontrolle geratener Lugger, bei dem die Flammen schon aus allen Luken schlugen, trieb gefährlich nahe an ihrer Backbordseite vorbei; aber dort warteten schon der Bootsmann und seine Helfer mit Äxten und mit Eimern voll Wasser, um jedes Übergreifen der Flammen auf ihr geteertes Rigg und die leicht brennbaren Segel zu verhindern.
Trocken stellte Neale fest: «Phalarope reagiert nicht, Sir.»
«Signalisieren Sie an Phalarope: Mehr Segel setzen.«Bolitho spürte die Blicke der Männer, die nicht begreifen konnten oder wollten, was da vor sich ging.
«Sie hat bestätigt, Sir.»
Bei dem Inferno aus Rauch und Mündungsblitzen konnte man nur schwer einen klaren Gedanken fassen. Bolitho sah zu Neale hinüber. Wenn er das Gefecht sofort abbrach und den Feind verschonte, konnten sie wenden und mit Glück die offene See gewinnen. Andernfalls und auf sich allein gestellt, vermochte Styx höchstens eine Handvoll Landungsfahrzeuge zu vernichten, und auch das nur unter hohen Opfern.
Er starrte zu der anderen Fregatte hinüber, die achteraus immer weiter zurückfiel, bis seine Augen und sein Kopf vor Wut und
Enttäuschung schmerzten.
Wieder hatte Brownes Ansicht sich als richtig erwiesen. Nun blieb ihnen auch nicht die kleinste Chance, und auf keinen Fall durfte er sinnlos Schiff und Mannschaft opfern.
Er räusperte sich.»Brechen Sie das Gefecht ab, Kapitän Neale. Und dann wenden Sie. Es ist vorbei.»
Entgeistert starrte Neale ihn an.»Aber, Sir, wir können sie immer noch schlagen. Notfalls auch allein!»
In die Stille, die nach dem letzten Kanonenschuß eingetreten war, gellte laut die Stimme des Ausguckpostens:»An Deck! Drei Schiffe in Sicht in Nordwest!»
Bolitho kam es vor, als sei das ganze Schiff von einem Treffer erschüttert worden. Niemand rührte sich, und die wenigen Männer auf dem Vorschiff, die den letzten Befehl irrtümlich als Zeichen ihres Sieges bejubelt hatten, verstummten und stierten benommen zum Achterdeck.
Die Ausguckposten im Masttopp, so gut sie sonst auch waren, hatten sich vielleicht durch die Menge der aufkreuzenden Landungsboote ablenken lassen, später dann durch die drohend über die Kimm steigenden drei Kriegsschiffe. Jedenfalls sahen sie die größte Gefahr erst, als es zu spät war.
Es war einer der Lotgasten, die Neale nach vorn in die Ketten geschickt hatte wie vor kurzem, als sie das flache Fahrwasser schon einmal angesteuert hatten, der jetzt aufschrie: «Wrack! Direkt voraus!»
Bolitho packte den Handlauf fester und sah die Männer ringsum aus ihrer Erstarrung aufschrecken und auf ihre Posten rennen, um noch mehr Segel wegzunehmen, während andere mit aller Kraft in die Brassen einfielen, um die Rahen herumzuholen und sofort über Stag zu gehen.
Wahrscheinlich war es eines der kleinen Schiffe, die sie am Vortag hier versenkt hatten, das jetzt voll Wasser gelaufen dicht unter der Oberfläche mit Strom und Wind trieb, bis es seinen Mörder wiedergefunden hatte. Oder es mochte auch ein älteres Wrack sein, ein zähes Opfer der Riffe und Sandbänke, welche die
Einfahrt in die Loiremündung wie Schildwachen flankierten.
Als der Aufprall schließlich kam, schien die Zeit stillzustehen. Die Sekunden dehnten sich endlos, während die Fregatte, in allen Verbänden zitternd, gegen die Hulk fuhr und darüber hinweg — bis mit dem Donner einer niederbrechenden Lawine Groß- und Fockmast von oben kamen, auf das Vorschiff stürzten und in die See. Den Masten folgten riesige Schlingen aus Stagen und Wanten, ein Regen gesplitterter Spieren, von dem schreiende und fluchende Männer begraben wurden, soweit sie von den Fallstricken des gebrochenen Riggs nicht schon über Bord gezogen worden waren.
Nur der Besanmast stand noch, an dem Bolithos Flagge auswehte, als wolle sie für alle Zeit diesen Ort der Zerstörung und des Todes markieren. Als sich das Wrack dann unter Styx' Kiel durchgewälzt hatte und zu beiden Seiten ein Feld riesiger Luftblasen mit ordinären Geräuschen platzte, begann auch der Besanmast zu wanken, schließlich stürzte er der Länge nach auf das Batteriedeck.
Neale brüllte:»Mr. Pickthorn!«Dann verstummte er, als er das Blut auf seiner Hand gewahrte, das von einer Kopfwunde stammte, und den halbierten Körper sah, der einmal sein Erster Offizier gewesen war; ein gebrochenes Want, vom Gewicht der Großmaststenge saitenstraff gespannt, hatte Pickthorn umschlungen und in zwei Teile geschnitten.
Neale blickte zu Bolitho hinüber, dem Allday gerade aufhalf,
und keuchte:»Das ist das Ende. «Er schwankte und wäre gestürzt, hätten ihn nicht Bundy und ein Midshipman aufgefangen.
Bolitho befahl mit rauher Stimme:»Alle Mann an Deck!«Und zu Kilburne gewandt:»Bergen Sie so viele Verwundete wie möglich aus den Trümmern und lassen Sie alle unbeschädigten Boote zu Wasser. «Schon hörte er das Wasser durch die Lecks einströmen, es röhrte und rumorte im Rumpf, während oben Taljen und Rollen knirschten, wo eine Kanone sich losgerissen hatte und das schrägliegende Deck hinunterschlidderte.»Mr. Browne, stehen Sie dem Kommandanten bei«, ordnete er an.
Aus dem Wirrwarr der herabgestürzten Takelage kämpften sich
Männer mit irren, entsetzten Augen, aus denen bei manchen schon der Wahnsinn leuchtete, und hasteten blindlings zu den Seitendecks.
Einige Seesoldaten versuchten, die Ordnung wieder herzustellen — auch der Dritte — wahrscheinlich der einzige überlebende Offizier — bemühte sich trotz seines gebrochenen Arms, die Männer zur Vernunft zu bringen. Aber er wurde beiseite gestoßen. Wieder bäumte sich das Deck unter Bolithos Füßen auf, und er sah die See durch die offenen Stückpforten einsteigen, als der Rumpf — vom ungeheuren Gewicht der außenbords hängenden Wrackteile gezogen — noch stärkere Schlagseite bekam. Allday rief:»Das Seitenboot wird nach achtern verholt, Sir. «Seine Ruhe war von eiskalter Gefährlichkeit, und er hielt das Entermesser in der Faust.
Bundy drückte Chronometer und Sextant fest an sich, fand aber noch Zeit, Bolitho zu berichten:»Ich habe ein paar Leute angewiesen, ein Floß zusammenzulaschen.»
Bolitho hörte ihn kaum. Er starrte über die weite Wasserfläche, deren frei und lebhaft anrennende, weiße Wellenkämme ihn zu verhöhnen schienen, den schnell näherkommenden Segelpyramiden entgegen.
Dann sah er Phalarope, die — das Heck ihm zugekehrt — die Rahen hart rundbraßte und einen gleitenden Schatten auf die See warf, während sie über Stag ging; der vergoldete Galionsvogel strebte weg von ihm, weg von dem anstürmenden Feind.
Mit gebrochener Stimme stammelte Allday:»Verflucht soll er sein! Verflucht in alle Ewigkeit, der feige Hund!»
Ein Boot machte an dem fast im Wasser liegenden Schanzkleid vorübergehend fest, ein zweites wurde längsseits geholt, während ein Bootsmann gemeinsam mit einem bulligen Stückmeister Verwundete und Ertrinkende aus dem Wasser fischte und an Bord hievte. Sie sanken auf die Bodenbretter wie nasse Säcke.
Neale öffnete die Augen und fragte heiser:»Sind sie gerettet?«Offenbar erkannte er Bolitho trotz des blutigen Schleiers über seinen Augen.»Meine Leute?»
Bolitho nickte.»Wir retten so viele wie möglich, seien Sie ganz ruhig.»
Er blickte hinaus auf den wachsenden Teppich aus improvisierten Flößen, treibenden Spieren und Fässern, an die sich die Überlebenden in der Hoffnung auf ein Wunder klammerten. Aber viel größer war die Zahl der im Wasser Treibenden. Nur wenige Seeleute konnten schwimmen, und bald gaben die anderen den Kampf auf, ließen sich mit dem leblosen Treibgut von der Strömung davontragen in den Tod.
Bolitho wartete, bis noch einige halb betäubte und blutende Männer in das Seitenboot gezerrt waren, dann kletterte er selbst hinein und stellte sich neben Allday. Neale lag bewußtlos zu ihren Füßen.
Der junge Kilburne, den die letzten Augenblicke in einen Mann verwandelt hatten, rief:»Verhaltet euch ruhig, Leute! Riemen bei!»
Wie das andere Boot war auch ihres so überfüllt, daß es nur noch wenige Zoll Freibord aufwies. Jedes Fahrzeug hatte nur zwei Riemen, mit denen es jetzt den Steven den Wellen zuwandte, die noch vor kurzem ihre Verbündeten gewesen waren, aber plötzlich nur ein Ziel zu kennen schienen: die Boote zum Kentern zu bringen und die Schiffbrüchigen zu verschlingen.
«Da geht sie hin!»
Der Schrei kam aus vielen Kehlen. Vor Schreck erstarrt sahen die Männer, wie Styx sich auf die Seite rollte und dann langsam zu unterschneiden begann. Einige ältere Seeleute blickten stumm hinüber, zu erschüttert, um in den Aufschrei der Jüngeren einzustimmen. Wie alle Schiffe, war sie für ihre Stammbesatzung viel mehr gewesen als bloß irgendein Schiff: Styx hatte ihnen ein Heim geboten, hatte Freunde und vertraute Gewohnheiten beherbergt. All das war für immer dahin.
Browne flüsterte:»Das vergesse ich nie. Und wenn ich hundert Jahre werde.»
Styx sank jetzt schneller, aber der Sund war an dieser Stelle so flach, daß sie auf Grund stieß und wieder an die Oberfläche federte — wie ein Ertrinkender, der um sein Leben kämpfte. Aus ihren
Speigatten und Stückpforten schoß das Wasser, und mehrere Leichen, die sich in den gebrochenen Stagen verfangen hatten, hüpften auf und nieder, als winkten sie ihren überlebenden Kameraden zu.
Dann rollte sich die Fregatte ein letztesmal herum, sank unter die Wasseroberfläche und blieb verschwunden.
Mit dumpfer Stimme meldete Allday.»Ein Boot hält von der Küste auf uns zu, Sir.»
Und weil er Bolithos wilde Verzweiflung spürte, setzte er hinzu:»Wir sind nicht das erstemal in Gefangenschaft, Sir. Wir werden es auch diesmal überstehen, das schwöre ich Ihnen.»
Bolitho spähte nach Phalarope aus. Aber auch sie war verschwunden. Es war vorbei.