XV Zum Schweigen gebracht

«Der Kommandant kommt an Deck, Sir.»

Pascoe ließ das Teleskop sinken und nickte dem Steuermann zu.»Danke.»

Er hatte das Geschütz- und Segelexerzieren drüben auf Odin beobachtet; die Stückpfortenluken hoben und senkten sich so exakt wie von einer Riesenfaust an Marionettenfäden gezogen, und die Segel füllten sich oder verschwanden mit gleicher Präzision.

Da hörte er Emes' Schritte auf den Decksplanken und wandte sich ihm zu. Nie wußte er, welche Stimmung sich hinter Emes' ausdrucksloser Miene verbarg, was er in der Abgeschlossenheit seiner Kajüte wirklich dachte oder plante.

Grüßend griff Pascoe zum Hut.»Kurs Südost zu Süd, Sir. Wind hat etwas geschralt, kommt jetzt aus Nord zu Ost«, meldete er.

Emes trat an die Querreling und umklammerte den Handlauf, während er über sein Schiff hinweg nach vorn starrte und das Treiben an Bord beobachtete. Dann schweifte sein Blick zu Odin hinüber, die an Steuerbord mit etwa vier Kabellängen Abstand zielstrebig durch die Seen pflügte.

«Hm. Schlechte Sicht. «Emes schob die Unterlippe vor, das einzige Zeichen für seine Besorgnis, das er sich jemals gestattete.»Es wird früh dunkel werden. «Er zog seine Taschenuhr und ließ den Deckel aufspringen.»Ihr Onkel scheint Kapitän Inch ein Sonderexerzieren verordnet zu haben. «Er lächelte, aber fast unmerklich.»Eben ein echtes Flaggschiff.»

Dann ging er nach achtern und warf einen Blick auf den Kompaß und die Schiefertafel darüber.

Pascoe entging es nicht, daß Steuermann und Rudergänger sich in Emes' Gegenwart versteiften, als rechnten sie mit einem Anpfiff von ihm.

Das konnte er nicht begreifen. Sie fürchteten sich buchstäblich vor dem Kommandanten, obwohl Emes bisher wenig oder gar nichts getan hatte, was diese Furcht gerechtfertigt hätte. In Fragen der Disziplin war er eisern, aber nicht so ungerecht wie manche Kommandanten, die drakonische Prügelstrafen verhängten. Auch hatte er nicht viel Geduld mit seinen Untergebenen, schmähte sie aber nie in Gegenwart anderer. Woran lag es also? fragte sich Pas-coe. Emes war ein eiskalter, verschlossener Charakter, der von seinem Standpunkt kein Jota abgewichen war, auch nicht vor seinem Admiral und dem drohenden Schatten des Kriegsgerichts.

Jetzt schritt der Kommandant quer über das Deck und starrte auf die See und die Nebelschwaden hinaus. Es nieselte, und von Sta-gen, Wanten und Segeln fielen Tropfen.

«Hat Mr. Kincade heute alle Karronaden inspiziert, Mr. Pas-coe?»

Kincade war Artillerieoffizier der Phalarope, ein wortkarger, verbitterter Mann, der seinen gedrungenen Kanonen mehr Zuneigung entgegenzubringen schien als den Menschen.

«Aye, Sir. Sie werden ein kräftiges Wort mitzureden haben.»

«Tatsächlich?«Emes musterte ihn kalt.»Sie können es wohl kaum erwarten, wie?»

Pascoe errötete.»Alles besser als diese Untätigkeit, Sir.»

Zögernd rief der Midshipman der Wache: «Rapid kommt luvwärts in Sicht, Sir.»

«Ich gehe unter Deck«, blaffte Emes.»Rufen Sie mich, ehe Sie

Segel wegnehmen lassen, und achten Sie auf korrekten Abstand zum Flaggschiff. «Ohne auch nur einen Blick auf die verschwommene Silhouette von Rapid zu werfen, schritt er zum Niedergang.

Pascoe entspannte sich. War auch das nur Schauspielerei, fragte er sich, daß Emes nicht einmal einen Blick für die der Küste zustrebende Rapid übrig hatte? Oder daß er es stur abgelehnt hatte, an den Karronaden exerzieren zu lassen, obwohl er sah, daß auf dem Flaggschiff den ganzen Tag lang geübt wurde?

Der Master, ein hagerer, melancholischer Mann, der sich von Emes absichtlich ferngehalten hatte, kam jetzt aufs Achterdeck gestiegen und warf einen Blick auf den Steckkompaß.

«Was halten Sie vom Wetter, Mr. Bellis?«erkundigte sich Pas-coe.

Bellis verzog das Gesicht.»Wird sich verschlechtern, Sir. Das spüre ich in den Knochen. «Dann legte er den Kopf schräg.»Hören Sie sich bloß die Musik an.»

Pascoes auf dem Rücken verschränkte Hände verkrampften sich. Er hatte das Geräusch der Pumpen schon gehört, sie arbeiteten jetzt während jeder Wache. Vielleicht stimmte es ja, was über das alte Schiff gesagt wurde. Jedenfalls war die Biskaya Gift für ihre schlecht kalfaterten Plankenstöße.

Für den Master war das Wasser auf seine Mühle.»Sie hat eben zu lange im Hafen gelegen, Sir, es ist ein Kreuz mit ihr. Und im Hafen hätte sie bleiben sollen. Ich halte jede Wette, daß sie am Kiel so morsch ist wie 'ne überreife Birne — ganz egal, was die Werft behauptet hat.»

Pascoe wandte sich ab.»Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen, Mr. Bellis.»

Der Master grinste.»Jederzeit zu Ihren Diensten, Sir.»

Durchs Fernrohr sah Pascoe der kleinen Brigg nach, die im grauen Seenebel fast schon verschwunden war. Er hatte die Kopie ihrer Einsatzbefehle gelesen und konnte sich gut vorstellen, wie Browne sich auf das Bevorstehende vorbereitete. Pascoe schauderte es. In dieser Nacht.

Sein größter Wunsch war, an Brownes Seite zu sein. Aber dann rief er sich ärgerlich zur Ordnung. Wurde auch er jetzt der alten Fregatte untreu wie Bellis und manche der dienstälteren Leute an

Bord?

Phalarope war einst ein stolzes Schiff gewesen. Genau hier, auf ihrem Achterdeck, hatte schon sein Onkel gestanden. Trotzdem — ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken, er wußte nicht, warum.

Doch, er wußte es. Hier mußte Bolitho auch die Annäherung der anderen Fregatte beobachtet haben: der Andiron, die unter britischer Flagge fuhr, in Wirklichkeit aber ein den Briten weggenommener Freibeuter der Amerikaner war.

Unter dem Befehl meines Vaters, dachte Pascoe.

Er blickte übers Batteriedeck nach vorn. Herrick, Allday und der arme Neale waren hier auf und ab gegangen, auch Bolithos alter Steward Ferguson, der beim Kampf auf dem Vorschiff einen Arm verloren hatte.

Und jetzt stand er selber da. Als hätte er den Platz von seinem Onkel geerbt. Pascoe lächelte verlegen, aber ihm war etwas leichter zumute.

Leutnant Browne umklammerte jetzt schon so lange das Dollbord des kleinen Beiboots, daß sich seine Hand wie abgestorben anfühlte. Seit sie vom schützenden Rumpf der Brigg abgelegt hatten, war er von Zweifeln und Augenblicken nackter Angst gequält worden.

Die dick umwickelten Riemen hoben und senkten sich weiter gleichmäßig, ein Steuermannsmaat duckte sich neben dem Bootsführer mit dem beleuchteten Kompaß, den eine Persenning abdeckte.

Leutnant Searle ergriff das Wort.»Wenn meine Berechnungen stimmen, sollten wir jetzt nahe dran sein. Aber nach dem, was ich sehe, könnten wir genausogut auf China zuhalten.»

Immer wieder spähte Browne mit salzgeröteten Augen von links nach rechts. Einmal spürte er, wie das Boot in einer unvermuteten Querströmung versetzt wurde und gierte, und hörte den Maat neue Anweisungen für den Bootsführer murmeln.

Lange konnte es nicht mehr dauern. An Steuerbord ragte plötzlich aus der schwarzen Nacht eine noch schwärzere Felsnadel auf und blieb achteraus zurück; nur das veränderte Brandungsgeräusch hatte sie angekündigt.

Am Himmel zeigte sich kein Lichtschimmer.

Neben ihm erstarrte Searle plötzlich, und Browne fürchtete einen entsetzlichen Moment lang, er hätte ein französisches Wachboot entdeckt.

Aber Searle rief gedämpft:»Seht mal da! An Backbord voraus!«Aufgeregt packte er Brownes Arm.»Erstklassige Arbeit, Oliver!»

Browne wollte schlucken, aber sein Mund war wie ausgetrocknet. Er spähte scharf in die Finsternis, bis er glaubte, die Augen müßten ihm aus den Höhlen fallen.

Aber es stimmte. Vor ihnen lag der halbmondförmige Strand, erkenntlich an der langen hellen Brandungskurve.

Ruhig bleiben, sagte er sich. Es konnte immer noch ein Irrtum sein. Der Felsen, an den er sich so gut zu erinnern glaubte, mochte aus diesem Blickwinkel ganz anders aussehen.

«Langsam jetzt! Riemen an!»

Die Restfahrt schob das Boot weiter, bis es mit einem Poltern und Knirschen auf den Strand auflief, das in ihren Ohren unerträglich laut klang. Browne fiel fast um, als einige Seeleute ins seichte Wasser sprangen, um das Boot höher auf den Sand zu ziehen. Sear-le paßte auf, daß die kleine Gruppe von sechs Männern wohlbehalten den Strand erreichte.»Haltet das Pulver trocken«, mahnte er heiser.»Nicholl, du läufst als Kundschafter voraus, aber bißchen plötzlich.»

Noch ein paar hastig geflüsterte Abschiedsworte, dann stieß das Boot wieder ab und strebte so schnell es konnte der offenen See zu.

Browne stand stockstill und lauschte dem Wind, dem Gurgeln der kleinen Wellen auf dem festen Sand. Mit gezogenem Säbel kam Searle zurück.

«Alles klar, Oliver?«Im Dunkeln leuchteten seine Zähne hell.»Sie wissen den Weg.»

Dann sah Browne den Felsen über sich aufragen: wie ein Kamelhöcker. Genauso hatte er ausgesehen, als er hier mit Bolitho stand.

Searle hatte die Männer des Stoßtrupps selbst ausgewählt, zwei fähige Kanoniere und vier der schlimmsten Galgenvögel, die Browne je vor Augen gekommen waren. Nach Searles Worten waren sie aus mehr als einem Kerker entsprungen, und Browne glaubte ihm das unbesehen.

Neben einem Riedgrashügel pausierten sie, bis Browne leise sagte:»Hier vorn beginnt der Fußweg.»

Seine Ruhe überraschte ihn selber. Er hatte gefürchtet, daß ihn Mut und Entschlossenheit verlassen würden, wenn das Schiff und die vertrauten Gesichter erst hinter ihm zurückblieben.

Aber er hätte sich nicht sorgen müssen.

Searle flüsterte:»Moubray, du kletterst dort hinauf und bleibst als Nachhut bei Nicholl Garner.»

Die restlichen Seeleute und die beiden Kanoniere stapften den Pfad hinauf und schnauften wie Grubenpferde unter der Last ihrer Pulversäcke und Waffen.

Es ging steiler bergan, als Browne in Erinnerung hatte. Oben ließen sie sich erst einmal ins nasse Gras fallen, um wieder zu Atem zu kommen und sich zu orientieren.

«Seht ihr diesen hellen Fleck dort?«fragte Browne leise.»Das ist die Festungsmauer. Falls keine neuen Gefangenen eingeliefert wurden, sollte die Wachmannschaft ziemlich nachlässig sein. Unser Ziel liegt rechts davon. Hundert Schritte und dann um einen runden Hügel.»

Der Kanonier namens Jones hob warnend die Hand.»Was ist das?«Er lauschte.

Alle erstarrten, bis Browne flüsterte:»Das sind Pferde. Eine Nachtpatrouille der Kürassiere, von denen ich Ihnen erzählt habe. Sie bleiben auf der Straße.»

Zum Glück verschmolzen die dumpfen, langsamen Hufschläge bald mit den anderen Geräuschen der Nacht.

Searle erhob sich.»Weiter!«Mit seinem Säbel gab er die Richtung an.»Und daß mir keiner stolpert! Wessen Waffe unabsichtlich losgeht, dem schlage ich persönlich den Kopf ab!»

Browne merkte, daß er noch lächeln konnte. Searle war erst zwanzig, aber er hatte die bullige Selbstsicherheit eines alten Kämpen.

Sie brauchten länger als erwartet, und Browne fürchtete allmählich, daß sie zu weit nach rechts abgekommen waren.

Zu seiner großen Erleichterung hörte er jedoch Nicholl, der ihnen vorausging, bald angestrengt flüstern:»Da ist sie, Sir! Recht voraus!»

Sie warfen sich alle zu Boden, während Browne und Searle die schwach erkennbaren Umrisse der Kirche studierten.

«Das Portal ist auf der anderen Seite, nach der Straße zu.»

Browne zwang sich, bewußt an die nächsten Minuten zu denken. Vielleicht waren sie alles, was ihm noch vom Leben blieb. Was erwartete er denn? Die Sache war notwendig, aber für ihn und die anderen bedeutete sie den fast sicheren Tod. Er lächelte in sich hinein. Wenigstens bekam sein Vater vielleicht doch noch eine bessere Meinung von ihm.

Er sah die anderen an.»Fertig?»

Alle nickten, manche bleckten die Zähne wie Hunde an der Leine.

Eng an die Kirchenmauern gedrückt, schlichen sie um das Gebäude herum zur anderen Seite. Alles blieb so still, als seien sie die einzigen Menschen auf der Welt. Nur die Seebrise strich flüsternd durchs Gras, und ab und zu quietschte einer ihrer Schuhe.

Ein Mann schrie erstickt auf, als ein Vogel dicht vor seinen Füßen aufflatterte und krächzend in der Dunkelheit verschwand.

«Verdammter Mist!«fluchte Searle.

«Ruhe!«Browne preßte sich an die Mauer und erwartete, einen fragenden Anruf oder einen Schuß zu hören.

Als nichts geschah, drückte er sich entschlossen von der Wand ab und spähte an dem viereckigen normannischen Kirchturm empor, dessen Silhouette sich schwach vom Himmel abhob. Aus einem schmalen Fensterschlitz weiter oben fiel ein Lichtschimmer.

Mit Mühe zwang er seine rasenden Gedanken zur Ruhe und versuchte, sich zu erinnern, was er über diese optischen Telegraphen erfahren hatte. In England wurden sie in der Regel von vier bis fünf Männern betrieben: einem Offizier, einem Unteroffizier und zwei bis drei Seeleuten. Da dieser hier in der Nachbarschaft der Festung stand, war es wahrscheinlich, daß zumindest einige Männer der Turmbesatzung die Nacht dort verbrachten. In diesem Fall.

Browne schlich zu Searle und flüsterte:»Probieren wir die Tür.»

Der Kanonier namens Jones packte den schweren Eisenring, der als Klinke diente, und drehte ihn vorsichtig. Er quietschte, aber die Tür gab nicht nach.

«Verschlossen, Sir.»

Searle winkte einen zweiten Mann heran.»Moubray, mach den Wurfanker klar!»

Browne hielt den Atem an, als der Wurfanker nach oben flog, von der Mauer abprallte und wieder zwischen ihnen aufschlug.

Doch beim zweiten Versuch fanden seine Flunken Halt, und Browne sah einen Mann an der Leine nach oben verschwinden — so schnell, als hätte die alte Kirche ihn bei lebendigem Leibe verschluckt.

Gepreßt sagte Searle:»Tüchtiger Mann. Saß als Sträfling in Li-me House, bis die Werber ihn zu fassen kriegten.»

Wieder quietschte der Türring, und diesmal schwang die Tür auf. Im Spalt stand der Seemann und grinste breit.

«Kommt rein, hier drin ist's wärmer!»

«Nicht so laut, verdammt noch mal!«Searle spähte ins dunkle Turminnere.

«Keine Sorge, Sir. Hier ist niemand mehr. «Der Seemann schob die Blende einer Laterne hoch und hielt sie so, daß ihr Schein auf eine steinerne Wendeltreppe fiel. Auf den Stufen lag ein uniformierter Körper so verrenkt, wie er hingestürzt war; weit offene, starre Augen reflektierten das Licht.

Browne mußte schlucken. Dem Mann war die Kehle durchschnitten worden, sein Blut hatte die Wände bespritzt.

Ruhig berichtete der Seemann:»Er saß allein hier. War nicht schwerer, als einem blinden Kind die Geldbörse zu klauen.»

Searle steckte seinen Säbel in die Scheide.»Das kannst du ja beurteilen, Cooper. «Er wandte sich der Treppe zu.»Harding und Jones, macht eure Sprengladungen klar. «Dann blickte er zu Browne zurück und grinste mit schmalen Lippen.»Und wir gehen uns die Maschine ansehen, ja?»

Bolitho fuhr aus dem Schlaf hoch und packte die Armlehnen von Inchs komfortabler Chaiselongue, wo er seit Beginn der Nacht unruhig geschlummert hatte und immer wieder aufgewacht war.

Sofort fiel ihm auf, daß die Schiffsbewegungen heftiger waren und das Wasser am Rumpf lauter ablief, weil sich Odin stärker überlegte.

Bis auf den Schein einer einzelnen, halb abgeblendeten Laterne lag die Achterkajüte im Dunkeln, so daß die See vor den salzverkrusteten Fenstern drohend nahe und gierig wirkte.

Die Tür ging auf und gab Alldays Silhouette frei.

«Was ist los?«Also konnte auch Allday nicht schlafen.

«Der Wind hat gedreht, Sir.»

«Und aufgefrischt?»

«Ja. Er kommt jetzt aus Nordost. «Das klang bedrückt.

Bolitho dachte über die neue Lage nach. Mit einem Wechsel der Windrichtung hatte er gerechnet, aber daß der Wind bis Nordost herumgehen würde, war undenkbar gewesen. Für ihre heimliche Annäherung blieben ihnen nur noch einige wenige Stunden, und bei dieser Windrichtung konnten sie praktisch nur kriechen. Das bedeutete möglicherweise einen Angriff bei vollem Tageslicht dann aber wurde jedes feindliche Schiff im Umkreis vieler Meilen rechtzeitig alarmiert und konnte zum Gegenangriff übergehen.

«Meine Kleider!«Bolitho erhob sich und spürte das Deck unter seinen Füßen bocken, als spotte die See seiner Pläne.

«Ozzard kommt gleich«, sagte Allday.»Ich habe ihm schon Bescheid gesagt, als ich hörte, wie Sie sich herumwarfen. Diese Chaiselongue ist kein Platz zum Schlafen.»

Bolitho wartete, bis Allday die Blenden der Laterne etwas angehoben hatte. Das ganze Schiff war verdunkelt, selbst das Kombüsenfeuer gelöscht. Es hätte das Maß voll gemacht, wenn ausgerechnet aus dem Admiralsquartier der verräterische Lichtschein gekommen wäre.

Dann roch er Kaffeeduft und sah Ozzards schmächtige Gestalt auf sich zukommen.

Der Steward murmelte:»Habe mir erlaubt, noch Kaffee zu kochen, ehe das Feuer gelöscht wurde, Sir. Die Kanne habe ich in eine Decke gewickelt und warm gehalten.»

Dankbar schlürfte Bolitho den Kaffee, aber im Geiste arbeitete er schon verschiedene Alternativen aus. Umkehren konnte er nicht, selbst wenn er gewollt hätte. Browne mußte inzwischen beim Turm angekommen sein oder tot inmitten seiner Freiwilligen liegen.

Egal, was passierte, er würde den Angriff nicht abblasen, das wußte er, obwohl ihm seine vieldeutig abgefaßten Befehle bis zur letzten Minute Spielraum ließen.

Bolitho schlüpfte in seinen Rock und ging zur Tür. Das Warten konnte er keinen Augenblick länger ertragen.

An Deck überfiel ihn der Lärm; Segel knallten, Blöcke quietschten. Gestalten kamen und gingen im Finstern, und um das große Doppelrad standen der Master und seine Rudergänger wie Überlebende eines Schiffbruchs, die sich auf einem winzigen Eiland zusammendrängten.

Inchs schlacksige Gestalt eilte herbei, um den Admiral zu begrüßen.

«Guten Morgen, Sir. «Inch war kein Schauspieler und konnte seine Überraschung nicht verhehlen.»Stimmt etwas nicht?»

Bolitho nahm seinen Arm und führte ihn abseits an die Reling.»Der Wind«, sagte er.

Inch starrte ihn an.»Der Master glaubt, er wird noch weiter drehen, Sir.»

«Aha. Glaubt er das?«Der alte Grubb hätte es gewußt, dachte Bolitho, so sicher, als hätte er Gott auf seiner Seite.

Gischt wehte durch die straffen Wanten, und jenseits davon, querab, aber immer noch in Position, konnte er schwach den Umriß von Phalarope erahnen; ein Geisterschiff, in der Tat.

Bolitho biß sich auf die Lippen.»Gehen wir in den Kartenraum«, sagte er knapp. Inch und der Master folgten ihm in den abgeblendeten Raum unter der Hütte und starrten angestrengt auf die Seekarte nieder. Bolitho spürte, wie Inch gespannt auf seine Entscheidung wartete, vor allem aber spürte er das unaufhaltsame Verrinnen der Zeit. Wie Sand im Stundenglas: nichts konnte sie aufhalten oder bremsen.

Er begann:»Wir können nicht länger warten. Rufen Sie alle Mann an Deck und machen Sie klar zum Gefecht. «Er wartete, bis Inch den Befehl an einen Bootsmann draußen vor der Tür weitergegeben hatte.»Sie schätzen, daß wir etwa zehn Meilen südwestlich der Landzunge stehen?»

Der Master nickte wortlos, und Bolitho sah flüchtig in ein besorgtes, aber sachkundiges Gesicht. Plötzlich fiel es ihm wieder ein: Dieser Mann hier war als Erster Steuermann eingesprungen, als der alte Master vor Kopenhagen gefallen war. Damals war er ein unbeschriebenes Blatt gewesen. Und jetzt?

Inch beugte sich vor und beobachtete, wie Bolitho den Stechzirkel über die Seekarte wandern ließ.

«Das französische Geschwader ankert vor der Landspitze hier, nördlich der Loire-Mündung. «Bolitho sprach seine Gedanken laut aus.»Wenn wir beim ursprünglichen Plan blieben, würden wir Stunden brauchen, um gegen den Wind dorthin aufzukreuzen. Aber wir müssen noch vor Tagesanbruch an dem französischen Geschwader vorbei sein und in die Bucht hineinsegeln, wo die Landungsflotte verankert liegt. «Er blickte den Master an.

«Also?»

«Na los, Mr. M'Ewan«, sagte Inch ermunternd.

Der Master befeuchtete sich die Lippen, dann sagte er entschlossen:»Wir könnten luven, Sir, bis wir dicht unter Land sind, dann wenden und nordwestlichen Kurs segeln, hoch am Wind, bis in die Bucht hinein. Vorausgesetzt, der Wind dreht nicht noch weiter. Denn wenn das passiert, rennen wir uns fest, Sir, und dann gnade uns Gott.»

Inch wollte schon protestieren, klappte den Mund aber wieder zu, als er Bolitho nicken sah.

«Das ist richtig. So verkürzen wir die Anfahrt um eine Stunde, und wenn wir Glück haben, mogeln wir uns mit einer Meile Abstand an den französischen Kriegsschiffen vorbei. «Bolitho sah Inch an.»Sie wollten etwas sagen?»

«Der Wind ist nicht nur für uns ungünstig, Sir. «Inch zuckte hilflos die Schultern.»Er hält auch den Rest des Geschwaders auf.»

«Das weiß ich.»

Von oben erklang gedämpftes Fußgetrappel, das Scharren und Knirschen und Poltern, mit dem Zwischenwände gelegt und andere Hindernisse beseitigt oder ins Orlopdeck hinuntergelassen wurden. Ein Kriegsschiff im Gefecht brauchte Decks, die vom Bug bis zum Heck freigeräumt waren; wo Männer gewohnt, gegessen, gehofft, geschlafen und geübt hatten, gehörte der Platz jetzt den Kanonen. Die Zeit der Prüfung war für alle gekommen.

«Schiff ist klar zum Gefecht, Sir!«rief der Erste Offizier.

Inch warf einen Blick auf seine Taschenuhr und strahlte.»Neun Minuten, Mr. Graham. Das ist eine gute Zeit.»

Plötzliche Trauer überfiel Bolitho, und er mußte sich abwenden. Genauso hatte auch Neale sich benommen.

Aber dann sagte er zu Inch:»Wenn wir uns verspäten, könnten wir in Grund und Boden geschossen werden. Ob Kommodore Herrick nun rechtzeitig zu unserer Unterstützung eintrifft oder nicht, wir müssen auf jeden Fall zwischen diese Landungsboote gelangen. «Er sah Inch fest an.»Nur das zählt, sonst nichts.»

Überraschenderweise schien Inch das zu freuen.»Ich weiß, Sir«, strahlte er.»Und Odin ist dafür genau das richtige Schiff.»

Bolitho mußte lächeln; dieser zuverlässige, vertrauenswürdige Mann würde niemals einen seiner Befehle in Frage stellen.

Die Tür ging auf, und Midshipman Stirling quetschte sich in den Kartenraum. Selbst im schwachen Laternenlicht fiel auf, daß er müde aussah und seine Augen rotgeädert waren.

«Bitte um Entschuldigung für meine Verspätung, Sir«, stotterte er.

«Ich habe verlernt, so tief zu schlafen«, meinte Bolitho, an Inch gewandt.

Inch wandte sich zum Gehen.»Ich lasse das Nachtsignal an Phalarope absetzen, Sir. Hoffentlich ist sie bei Tagesanbruch auch wirklich noch da!»

Bolitho beugte sich über die Seekarte und studierte die sauber geschriebenen Kursangaben und — linien. Gewiß, sein Plan barg ein großes Risiko. Aber schließlich war das immer so gewesen.

Selbst jetzt noch konnte sich alles gegen sie verschwören, ehe sie überhaupt in Landnähe kamen. Ein einsamer Fischer mochte es mit dem Wetter und dem Zorn einer französischen Patrouille aufnehmen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und zufällig das abgeblendete Lichtsignal sehen, das jetzt an Phalarope gegeben wurde.

«Verdammt noch mal!«explodierte Bolitho.»Der Zweifel bringt mehr Seeleute um als der Feind!»

Stirling warf hastig einen Blick in die Runde. Inch und der Master hatten den Kartenraum verlassen, der Admiral sprach mit ihm.

Unsicher fragte er:»Könnten die Franzosen uns noch daran hindern, in die Bucht einzulaufen, Sir?»

Erstaunt sah Bolitho ihn an; ihm war nicht klar gewesen, daß er laut gesprochen hatte.

«Sie können es jedenfalls versuchen, Mr. Stirling. «In einem plötzlichen Einfall gab er dem Jungen einen Klaps auf die Schulter.»Kommen Sie, begleiten Sie mich. Ich muß ein Gefühl für dieses Schiff bekommen.»

Stirling erglühte vor Stolz. Nicht einmal die Tatsache, daß Bo-litho unwissentlich seinen verletzten Arm gepackt hatte, konnte die Bedeutung des Augenblicks für ihn schmälern.

Allday, in dessen Gürtel jetzt ein neues Entermesser steckte, sah sie vorbeigehen und mußte trotz seiner trüben Gedanken grinsen.

Der Knabe und sein Held. Aber warum auch nicht? Es war ein Tag, an dem sie alle ihre Helden dringend brauchen würden.

«Der Wind steht durch, Sir!»

Bolitho trat zu Inch an die Querreling und spähte über das schwach erkennbare Deck nach vorn. Jenseits des Vorschiffs, das sich gerade zu drehen begann, weil die Rahen so dicht angebraßt wurden, daß sie fast mittschiffs standen, sah er nicht das geringste. Dabei war er eigens an Deck geblieben, damit seine Augen sich besser an die Dunkelheit gewöhnten, damit er sofort den ersten Schimmer des nahenden Tages bemerkte, die Trennlinie zwischen See und Himmel. Und das Land.

Das Schiff stampfte schwerfällig in der ablandigen Strömung; die Seesoldaten zurrten ihre Hängematten in den Netzen an der Reling noch einmal fester: ihre einzige Deckung und die Auflage für ihre Musketen, wenn sie später nach einem Ziel suchen würden.

Auf den Seitendecks, unter denen jede Kanone geladen und schußbereit wartete, ging ab und zu eine Gestalt hin und her. Andere enterten auf, um die Kettenschlingen um die Rahen und die schützenden Netze ein letztes Mal zu trimmen, um noch einen Sack mit Schrotkugeln für die Drehbassen im Krähennest hochzuhieven oder um eine letzte durchgescheuerte Leine zu spleißen.

Bolitho hörte und sah das alles. Und was er nicht sehen konnte, vermochte er sich leicht auszumalen. Wie all die Male zuvor spürte er Spannung, die ihm wie mit stählernem Griff das Herz zusammenpreßte, und die Furcht, doch noch irgend etwas übersehen zu haben.

Das Schiff hielt sich hervorragend. Inch hatte sich als ausgezeichneter Kommandant erwiesen, und Bolitho mochte es selbst nicht glauben, daß er ihm vor langer Zeit nicht mehr als das Leutnantspatent zugetraut hatte. Bolitho konnte es nicht verhindern, daß seine Gedanken abschweiften. Zu dem jungen Travers unten auf dem Batteriedeck, der nach ihrer Rückkehr Hochzeit halten wollte; jetzt wartete er wie alle seine Männer darauf, daß sich die Stückpforten in ihrem rot angestrichenen Höllenloch öffneten und die Kanonen zu brüllen begannen. Und Inch, der mit wehenden Rockschößen auf dem Achterdeck hin und her marschierte, während er

— den Hut mit kesser Schlagseite fest aufs Haupt gedrückt — mit seinem Ersten Offizier und dem Master plauderte. Inch hatte daheim in Weymouth eine Frau, Hanna, und zwei Kinder; was sollte aus ihnen werden, wenn er heute fiel? Warum bloß erfüllte es ihn mit Stolz und Freude, in ein Gefecht zu ziehen, das für sie alle das Ende bringen konnte?

Und dann Belinda. Unruhig ging Bolitho an den Finknetzen auf und ab, wobei er Stirling völlig vergaß, der sich wie ein Schatten dicht an seiner Seite hielt. Nein, an Belinda durfte er jetzt nicht denken.

Er hörte einen Mann leise sagen:»Da ist die alte Phalarope, Jim. Jeder Äppelkahn wäre mir lieber als sie!«Dann schien er Bolithos Nähe zu spüren und verstummte.

Bolitho starrte zu dem Schemen hinüber, der sich querab stampfend durch die Seen schob. Wie Odin fuhr auch sie ihre Rahen hart angebraßt, so daß die Segel eine hellere Pyramide bildeten, während der dunkle Rumpf noch mit dem Wasser verschmolz.

Zwei Schiffe und rund achthundert Offiziere, Matrosen und Soldaten, von einem einzigen Mann — ihm — in ein Gefecht auf Leben und Tod befohlen.

Bolitho blickte auf den Midshipman hinab.»Würden Sie lieber auf einer Fregatte fahren?»

Stirling dachte mit geschürzten Lippen darüber nach.»Lieber als anderswo, Sir.»

«Dann sollten Sie mal mit meinem Neffen sprechen, er. «Bo-litho brach ab, weil Stirlings Augen plötzlich aufleuchteten.

Erst jetzt folgte, scheinbar eine halbe Ewigkeit später, der dumpfe Donner einer fernen Detonation. Ein Lichtschein zuckte am Himmel auf, dann wurde alles wieder von den Geräuschen der See und des Windes verschluckt.

«Herrgott, was war das?«Inch stürmte heran, als sei Bolitho ihm eine Antwort schuldig.

Der sagte leise:»Die Sprengladung ist hochgegangen, Kapitän Inch.»

«Aber. «Inch starrte ihm in der Dunkelheit ins Gesicht.»Aber das war doch viel zu früh?»

Bolitho wandte sich ab. Ob nun zu früh oder zu spät, Browne mußte jedenfalls gute Gründe für die Zündung gehabt haben.

Bolitho merkte, daß Allday an ihn herantrat, und hob den Arm, damit er den Säbel an seinen Gürtel schnallen konnte.

«Der beste, den ich auftreiben konnte, Sir«, erläuterte Allday.»Nur um eine Kleinigkeit schwerer, als Sie es gewohnt sind. «Er deutete über Bord in die Dunkelheit.»War das Mr. Browne?»

«Ja. Er wußte vorher, daß er's schaffen würde. Leider Gottes gab es keinen anderen Weg.»

Allday seufzte.»Ihm war bekannt, worauf er sich einließ, Sir.»

Midshipman Stirling machte sich bemerkbar.»Es wird schon heller, Sir.»

Bolitho lächelte.»Das stimmt. «Dann wandte er dem Jungen den Rücken zu und sagte leise zu Allday:»Etwas muß ich dir unbedingt noch sagen…«Der Bootsführer zuckte zurück, als ahne er Bolithos Worte im voraus.»Falls — ich sage ausdrücklich >falls< — ich heute fallen sollte.»

«Schauen Sie, Sir. «Mit gespreizten Händen unterstrich Allday jedes Wort.»Alles, was ich gesagt oder getan habe, seit wir auf dieses Schiff gekommen sind, hat nichts mehr zu bedeuten. Wir werden es so gesund überstehen wie immer, glauben Sie mir, Sir.»

«Aber für den Fall«, beharrte Bolitho,»daß es anders kommt, mußt du mir versprechen, daß du nie mehr zur See fahren wirst. Man wird dich in Falmouth nicht entbehren können. Kümmere dich dort um alles. «Er ignorierte Alldays verzweifelten Protest.»Gib mir bitte dein Wort darauf.»

Allday nickte trübe.

Bolitho zog seinen neuen Säbel aus der Scheide und führte einen Probehieb durch die Luft. In der Nähe stehende Matrosen und Seesoldaten, die es beobachtet hatten, stießen einander an, und einer brach in Hochrufe aus.»Wir werden es den Schweinehunden schon zeigen, Sir!»

Bolitho ließ den Arm sinken.»Jetzt bin ich bereit, Allday«, sagte er.

Kapitän Inch legte die hohlen Hände um den Mund und rief:»Gehen Sie auf Steuerbordbug, Mr. Graham!»

«Achterdeckswache — an die Besanbrassen!»

Als Odin über Stag ging und sich dann wieder hoch am Wind der See entgegenwarf, stand Bolitho mitten im Gewühl und fühlte sich doch seltsam distanziert von allen.

Fröhlich meldete Inch:»Noch immer nichts zu sehen von den Franzosen, Sir!»

Bolitho blickte zu den angebraßten Rahen und den eisenharten Segeln hinauf, hinter denen der Himmel schon heller wurde.

«Die werden schon noch kommen. «Sein Blick fiel auf die Admiralsflagge, die — im grauen Licht noch farblos — steif vom Be-sanmasttopp auswehte.»Machen Sie eine zweite Flagge klar zum Heißen, Mr. Stirling«, befahl er und stellte fest, daß er tatsächlich zu Inch hinüberlächeln konnte.»Remond soll wissen, gegen wen er kämpft. Deshalb setzen Sie die Reserveflagge, wenn die erste weggeschossen werden sollte.»

Allday studierte Bolithos Gesicht und wunderte sich nicht zum erstenmal über sein Geschick, die Leute um ihn herum mit einem Blick, einem Wort in Begeisterung zu versetzen. Trotzdem überfiel ihn plötzlich bange Sorge, und er fragte sich, ob Bolitho für diese trotzige Geste nicht einen zu hohen Preis würde zahlen müssen.

Fahles Gold ließ die Hügelkämme der fernen Küste aufleuchten, und kurz danach rief Inch triumphierend:»Wir sind an dem französischen Geschwader vorbei, Sir!«Bolitho warf Allday einen Blick zu und lächelte. Von ihm wenigstens fühlte er sich verstan-deDn.ann sagte er:»Also gut, Kapitän Inch. Lassen Sie die Kanonen ausfahren, wenn Sie soweit sind.»

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