VII Ein Geheimnis

Einzeln oder in Gruppen, kampflustig oder halb betäubt, so stolperten die Überlebenden der Styx den schräg ansteigenden Strand hinauf; mittlerweile war er von einem Kordon schwerbewaffneter

Soldaten abgesperrt worden.

All das vollzog sich in eisigem Schweigen. Die benommenen Seeleute lagen oder hockten auf dem nassen Sand und starrten nicht ihre Bewacher an, sondern hinaus aufs bewegte Wasser, das noch vor kurzem ihr Schiff getragen hatte. Andere wateten niedergeschlagen am Ufer auf und ab, suchten mit den Augen das Strandgut ab, musterten die treibenden Leichen, ob nicht doch noch ein verzweifelter Schwimmer unter ihnen war. Und über allem kreisten gierig und ungeduldig die Möwen.

Etwas weiter strandabwärts nahmen sich einige Frauen der Verwundeten an, die sich aus dem Landungsboot hatten retten können, das Styx kurz vor ihrem eigenen Ende vernichtet hatte. Diese Handvoll Seeleute starrte finster zu der wachsenden Zahl britischer Überlebender hinüber; trotz der Entfernung und der Soldatenkette wirkte ihr Haß immer bedrohlicher.

Bolitho sah Boote auslaufen, meist kleine Fischkutter, die von der örtlichen Kommandantur hastig zur Suche nach Überlebenden requiriert worden waren.

Neale bemühte sich stöhnend, auf die Füße zu kommen.»Wie viele sind gerettet?»

«Hundert, vielleicht auch mehr«, antwortete Allday.»Genau läßt es sich nicht sagen.»

Da sank Neale in den Sand zurück und starrte blicklos zum blauen Himmel auf.»Mein Gott, weniger als die Hälfte!»

«Und was kommt jetzt?«fragte Browne; irgendwie hatte er es geschafft, trotz allem seinen Hut zu retten.»Ich gestehe, daß mir diese Situation neu ist.»

Bolitho legte den Kopf zurück und empfand dankbar den wärmenden Sonnenschein auf Stirn und Augen. Die Schmerzen konnte er allerdings nicht lindern. Nun waren sie also Gefangene, irgendwo an der Küste Frankreichs. Und schuld daran war sein eigenes törichtes Ungestüm.

Brüsk befahl er Browne:»Gehen Sie zu den anderen. Sie sollen antreten wie zum Appell. «Er sah ihren Schiffsarzt neben der ausgestreckten Gestalt eines verletzten Seemanns knien und war dankbar, daß wenigstens er überlebt hatte. Sie würden ihn weiß Gott noch brauchen, denn manche seiner Leute schienen in schlimmem Zustand zu sein. Die drei Midshipmen hatten alle überlebt, ebenso der noch so junge Dritte Offizier; allerdings hatte er einen zerquetschten Arm und schien kaum bei Bewußtsein. Außerdem entdeckte Bolitho noch Bundy, den Master, auch den Bootsmann und zwei oder drei Seesoldaten. Aber die Achterdeckswache war fast ausnahmslos über Bord gerissen worden, als der Besanmast heruntergekracht war. Neale hatte schon recht, es war weniger als die Hälfte. Bolitho beschattete seine Augen und blickte wieder auf die See hinaus. Der Nebel war dichter geworden, und von den französischen Kriegsschiffen konnte er keine Spur mehr entdecken. Aber die Flotte der Landungsboote hatte sich wieder formiert und würde ihre Fahrt nun bald fortsetzen. Diesmal wußten sie, daß sie vom Feind beobachtet wurden, und konnten sich gegen einen Überraschungsangriff besser wappnen.

«Da kommen sie«, flüsterte Allday ihm zu.

Der Kordon oben am Strand teilte sich und ließ drei französische Offiziere mit ihrer Eskorte durch; zielstrebig marschierten sie auf die verstreuten Seeleute zu.

Bolitho kannte die Uniform des voranschreitenden Offiziers: Er war ein Hauptmann der Artillerie, wahrscheinlich von einer Küstenbatterie in der Nähe.

Der Hauptmann erreichte die Gruppe der Midshipmen und musterte sie kalt.

Bolitho sagte:»Händigen Sie ihm Ihre Waffen aus und auch den Säbel des Dritten Offiziers.»

Wütend rammte Allday sein langes Entermesser in den Sand.»Wäre das doch sein Bauch!«knirschte er dabei.

Auch Browne löste den Säbel von seiner Seite und bückte sich dann, um Neales Waffe von dessen Gürtel zu schnallen. Doch Neale schien zum erstenmal, seit man ihn ins Rettungsboot getragen hatte, seinen alten Kampfgeist und Mut wiederzufinden. Taumelnd kam er auf die Füße, tastete nach der Scheide und zog den

Säbel, während die französischen Soldaten, von Neales überraschender Gegenwehr überrumpelt, verspätet ihre Pistolen und Musketen hoben.

Mit gebrochener, fast unkenntlicher Stimme rief Neale:»Zu mir, Leute! Schließt die Reihen! Schlagt die Enterer zurück!»

Bolitho sah, daß der französische Hauptmann auf Neale anlegte, und trat schnell zwischen ihn und den Phantasierenden.

«Bitte, Capitaine. Der Mann spricht im Fieberwahn!»

Der Franzose blickte schnell zwischen Neale und Bolitho hin und her, musterte die fürchterliche Kopfwunde des jungen Kommandanten und dann Bolithos Epauletten.

Das Schweigen war wie eine unsichtbare Mauer. Neale stand schwankend da und spähte halb blind zu seinen Männern hinüber, die ihrerseits zurückstarrten, mitleidig und peinlich berührt.

Es war ein kritischer Augenblick. Die französischen Soldaten waren monotonen Garnisonsdienst gewohnt und mochten sich von den britischen Seeleuten, deren Schiff so schnell gesunken war und sie praktisch auf den Strand gespien hatte, bedroht fühlen. Nun mußte nur einer der Gefangenen eine falsche Bewegung machen, dann würden die Musketen losgehen und der Sand sich rot färben vom Blut der Gefangenen.

Bolitho kehrte der Pistole des Franzosen weiterhin den Rücken, aber der Schweiß rann ihm prickelnd zwischen den Schulterblättern herab, während er auf den Schuß, auf den vernichtenden Einschlag im Rückgrat wartete.

Ganz vorsichtig nahm er Neale den Säbel aus der Hand.»Immer mit der Ruhe«, sagte er.»Wir sind bei Ihnen, ich und Allday.»

Neale öffnete die Faust und ließ den Arm sinken.»Tut mir leid.»

Endlich kapitulierte er vor dem Schmerz. Bolitho sah den Schiffsarzt hastig herbeieilen, während Neale mit heiserer Stimme noch hinzufügte:»Hab' das verdammte Schiff geliebt. «Dann brach er zusammen.

Bolitho wandte sich um und reichte Neales Waffe an den nächststehenden Soldaten weiter. Dann bemerkte er den Blick des Offiziers, der auf seinem eigenen Säbel haftete, und löste ihn mit der

Scheide vom Gürtel. Nur kurz zögerte er, um die glatte, vielgetragene Form noch einmal durch die Finger gleiten zu lassen. Ein unrühmliches Ende, dachte er voll Bitterkeit. In wenigen Monaten wäre die Waffe hundert Jahre in der Familie gewesen.

Neugierig beäugte der französische Hauptmann Scheide und Knauf und klemmte den Säbel dann unter den Arm.

Bolitho hörte Allday neben sich murmeln:»Den hole ich Ihnen zurück, Sir, warten Sie's nur ab.»

Oben am Strand waren inzwischen Pferdewagen angekommen, begleitet von noch mehr Soldaten. Ohne große Umstände wurden die Verwundeten verladen, und zuletzt erhielt der Schiffsarzt den Befehl, aufzuspringen.

Gerne hätte Bolitho zu den erschöpften Männern gesprochen, die bereits viel von ihrer Individualität und Zielstrebigkeit eingebüßt hatten, als sie jetzt wie eine Herde Schafe mit ungeduldigen Gesten und Kolbenstößen von ihren Bewachern zusammengetrieben wurden. Aber so blickte er sich nur nach den Zivilisten um, die ihnen folgten, Frauen zumeist, mit irgendwelchen Lasten auf den Armen, Brotkörbchen oder Wäschebündeln; der Krieg hatte sie bei ihren Alltagsgeschäften überrascht.

Weiter unten auf der Straße drängte sich ein Mann durch die Menge und versuchte, einen Matrosen an der Schulter zu packen. Aber der Soldat daneben hob drohend den Arm, und der Angreifer zog sich zurück. Wer mochte das gewesen sein? überlegte Bo-litho. Der Angehörige eines französischen Gefallenen? Oder ein Veteran, der im Krieg halb verrückt geworden war? Seltsamerweise hatte der englische Seemann die Drohgebärde nicht einmal bemerkt und trottete weiterhin folgsam hinter seinem Vordermann her.

Browne flüsterte:»Sie haben eine Kutsche für uns bereitgestellt, Sir.»

Also wurden sie jetzt endgültig getrennt. Ein französischer Marineleutnant war auf den Plan getreten und eifrig dabei, sich Notizen über die Gefangenen zu machen, wobei er ihnen mit Gesten bedeutete wie sie sich aufzustellen hatten, jeder gemäß seinem

Rang.

Die Midshipmen benahmen sich wie erfahrene Veteranen, stellte Bolitho fest. Der junge Kilburne lächelte ihn sogar an und griff grüßend an den Hut, als er mit seinen Kameraden und einer Handvoll jüngerer Decksoffiziere abgesondert und die Straße hinunter geschickt wurde.

Der Artilleriehauptmann schien sich etwas zu entspannen. Egal, was jetzt noch geschehen mochte, er konnte es unter Kontrolle halten.

Er wies auf die Kutsche, ein schäbiges Gefährt mit zerkratztem Anstrich. Wahrscheinlich aus dem Nachlaß irgendeines hingerichteten Aristokraten, dachte Bolitho.

Wütend funkelte Allday einen Soldaten an, dessen blankes Bajonett ihm den Weg versperrte. Endlich nickte der Marineleutnant knapp und ließ Allday hinter Bolitho in die Kutsche klettern.

Die Tür wurde zugeschlagen, und Bolitho konnte seine Gefährten genauer betrachten. Browne neben ihm preßte die Lippen fest zusammen und bemühte sich offenbar, sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Drüben lehnte Neale, der jetzt einen provisorischen Kopfverband trug, und neben ihm der letzte der noch überlebenden Offiziere, der bewußtlose Dritte.

Allday grunzte.»Kein Wunder, daß sie mich mitkommen ließen. Schließlich braucht man immer einen Dummen, der seine Vorgesetzten Huckepack trägt.»

Es war ein schwacher Versuch, witzig zu sein, aber er rührte Bo-litho so sehr, daß er die Hand ausstreckte und Alldays breites Handgelenk packte.

Allday schüttelte den Kopf.»Sie brauchen nichts zu sagen, Sir. Wenn's Ihnen so geht wie mir, dann drückt Ihnen jetzt der Zorn die Kehle zu. «Er warf einen grimmigen Blick zum schmutzverschmierten Fenster, weil die Kutsche mit einem Ruck angefahren war.»Aber wenn uns die Galle hochkommt, dann sollten diese Lackaffen lieber aufpassen. So wahr mir Gott helfe!»

Browne ließ sich gegen die rissige Lehne zurücksinken und schloß die Augen. Neale sah schrecklich aus, und dem Leutnant, durch dessen Armverband bereits wieder Blut sickerte, schien es sogar noch schlechter zu gehen. Browne spürte zum erstenmal Angst in sich aufwallen. Angenommen, sie trennten ihn von Boli-tho und Allday, was dann? Vermißt in einem fremden Land, wahrscheinlich schon für tot erklärt… Er riß sich zusammen und öffnete die Augen.

Mit belegter Stimme sagte er:»Ich habe nachgedacht, Sir.»

«Was?«Bolitho erschrak, weil er fürchtete, daß jetzt auch Browne einen Zusammenbruch erlitt.

Der aber ließ sich von Bolithos starrem Blick nicht beirren.»Es war fast so, als würden wir erwartet, Sir«, fuhr er fort.»Als ob sie über unsere Aktionen von Anfang an im Bilde gewesen wären.»

Bolitho blickte an Browne vorbei durchs Fenster auf die armseligen Hütten neben der Straße und die Hühner, die vor ihrer Kutsche davonstoben.

Das Haar in der Suppe. Die Ungereimtheit, die ihn schon die ganze Zeit gestört hatte. Und ausgerechnet Browne war darauf gestoßen.

In der schwankenden, schlecht gefederten Kutsche wurde ihnen die Reise zur Qual. Die Landstraße bestand fast nur aus Schlaglöchern, und sie wurden so furchtbar durchgerüttelt, daß Neale oder Algar, der Dritte Offizier, immer wieder vor Schmerzen aufschrien. Ihre drei unverletzten Gefährten bemühten sich vergeblich, sie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Jeder Versuch, die Kutsche zum Anhalten zu bringen oder nur zu gemäßigterer Fahrt, war sinnlos. Sobald Bolitho die Aufmerksamkeit des Kutschers auf dem Bock wecken wollte, galoppierte jedesmal ein Kürassier herbei, schwang seinen Säbel und scheuchte ihn vom Fenster weg.

Trotz seiner Kopfschmerzen und Niedergeschlagenheit bemühte sich Bolitho nachzudenken; was sprach für, was gegen Brownes Idee, daß die Franzosen im voraus über die Bewegungen der britischen Schiffe informiert gewesen waren? Im Augenblick führte die Straße weg von der See, und zwar, soweit er es beurteilen konnte, in nordöstlicher Richtung. Die Luft roch nach Feldern, frischer Erde und Tieren — also eine bäuerliche Gegend. Fast wie in Cornwall, dachte er vage. Bolitho fühlte sich wie ein Wild in der Falle, dem sich nirgends ein Fluchtweg bot. Er hatte Beauchamps Vertrauen enttäuscht, hatte Belinda verloren. Männer, die an ihn glaubten, hatte er mit seiner Taktik in den Tod geschickt. Mit brennenden Augen starrte er durchs Kutschenfenster. Sogar den Familiensäbel hatte er verloren.

Brownes Stimme weckte ihn aus seinen Depressionen.»Ich habe eben einen steinernen Wegweiser gesehen, Sir. Wir scheinen nach Nantes zu fahren.»

Bolitho nickte. Das konnte durchaus sein, die Richtung stimmte jedenfalls.

Bald darauf wurde die Kutsche etwas langsamer, und Bolitho zog seine Schlüsse daraus.»Sie müssen Befehl haben, uns vor Einbruch der Dunkelheit dort hinzubringen.»

«Hoffentlich noch lebend. «Allday rieb dem Leutnant das Gesicht mit einem feuchten Tuch ab.»Was gäbe ich jetzt für einen kräftigen Schluck!»

Zögernd fragte Browne:»Was wird wohl aus uns, Sir?»

Bolitho dämpfte die Stimme.»Kapitän Neale wird zweifellos gegen einen gefangenen Franzosen von gleichem Rang ausgetauscht — das heißt, falls er reisefähig ist.»

Beide blickten Leutnant Algar an, und Bolitho setzte leise hinzu:»Ich fürchte, daß er einen Austausch nicht mehr erleben wird. «Auch bei Neale war das noch zweifelhaft, dachte er. Selbst wenn er durchkam und die beste Pflege fand, würde er nie wieder der alte werden. Laut fuhr er fort:»Und was Sie betrifft — stimmen Sie jedem Austausch zu, Oliver, den die Franzosen Ihnen vorschlagen.»

«Auf keinen Fall«, rief Browne aus.»Ich kann Sie doch nicht verlassen, Sir. Was verlangen Sie da von mir?»

Bolitho wandte den Blick ab.»Ihre Treue rührt mich, Oliver, aber ich muß darauf bestehen. Es wäre absurd, in Gefangenschaft zu bleiben, wenn sich Ihnen eine gegenteilige Chance bietet.»

Düster fragte Allday:»Heißt das, Sie selbst rechnen nicht mit einem Austausch, Sir?»

Bolitho hob die Schultern.»Schwer zu sagen. Admiräle werden nicht gerade häufig gefangengenommen. «Er konnte die Verbitterung in seinem Ton nicht unterdrücken.»Aber wir werden ja sehen.»

Allday verschränkte die muskulösen Arme.»Ich bleibe jedenfalls bei Ihnen, Sir. Das ist beschlossene Sache.»

Endlich kam die Kutsche schwankend zum Stehen. Während zwei Kürassiere zu ihren beiden Seiten Aufstellung nahmen, saß der Rest ihrer Eskorte ab. Vor dem Fenster neben Bolitho erschien ein Gesicht: der französische Marineleutnant. Nach dem scharfen Ritt über Land war sein blauer Uniformrock staubbedeckt.

Der Offizier griff grüßend an seinen Hut, öffnete kurz die Tür und sagte in gebrochenem Englisch:»Jetzt dauert es nicht mehr lange, M'sieu. «Mit einem Blick auf die beiden Verwundeten fügte er hinzu:»Dort wartet schon ein Arzt auf Sie.»

«In Nantes?»

Statt sich verärgert abzuwenden, wie Bolitho erwartet hatte, lächelte der Offizier amüsiert.»Sie scheinen sich in Frankreich aus- zukennen, M'sieu. «Damit reichte er ihnen zwei Flaschen Wein in die Kutsche, grüßte abermals und ritt zu den anderen Offizieren zurück.

Bolitho wandte sich seinen Gefährten zu, schwieg aber, als er den gespannten Ausdruck in Brownes Gesicht bemerkte.»Sehen Sie dort, Sir!»

Neben der Straße standen Bäume und etwas zurückgesetzt einige winzige Katen. Aber beide wurden weit überragt von einem offenbar neu erbauten Turm; an seinem Fuß machten sich noch Steinmetze zu schaffen und meißelten die gelblichbraunen Mauersteine glatt.

Aber Bolithos Blick hing gebannt an der Spitze des Turms, wo sich ein Bündel langer, häßlicher Metallarme scharf vom Himmel abhob.

«Ein optischer Telegraf!»

Plötzlich war alles so sonnenklar, daß er sich wie vor den Kopf geschlagen fühlte. Die Franzosen hatten Semaphoren-Türme! Und deren rauhe Mauern bestanden aus Steinen, die zu Schiff von Spanien herangeschafft wurden. Keinesfalls stammte dieses gelblichbraune Gestein hier aus der Gegend.

Auch in England hatte die Admiralität Semaphoren-Türme errichten lassen, und zwar südlich von London, damit die Befehle aus den Kanzleien schneller, ihren Weg zu den wichtigsten Häfen und Reeden fanden; und die Franzosen hatten dieses Signalsystem schon seit längerem eingeführt. Doch in beiden Ländern hatte man sich bisher auf die Kanalküste beschränkt. Noch war keine Kunde nach England gedrungen, daß die Kette der französischen Signaltürme erweitert worden war. Kein Wunder, daß man an der Biskaya so genau über ihre Bewegungen im Bilde gewesen war: Die Meldungen waren längs der Küste telegrafiert worden, und französische Kriegsschiffe konnten sich rechtzeitig einfinden, um jeden geplanten Angriff auf Häfen oder Schiffahrt vorher abzublocken.

Allday sagte:»Jetzt fällt mir ein, daß ich was Ähnliches gesehen habe, als wir in die Kutsche stiegen, Sir. Aber die Signalarme waren auf einem Kirchturm montiert.»

Bolitho ballte die Fäuste. Natürlich, auch in Portsmouth hatte man den Semaphor auf dem Turm der Kathedrale montiert, von wo aus er den ganzen Spithead-Sund überblicken konnte.

«Hier, öffnet die Flaschen. «Bolitho drückte sie Allday in die Hand.»Und seht nicht zu dem Turm hinüber. Der Leutnant ist nicht dumm.»

Gewaltsam wandte er den Blick ab, als die Semaphorenarme jetzt wie Marionetten zu tanzen und zu winken begannen. In zehn oder zwanzig Meilen Entfernung würde jemand mit einem Teleskop jede einzelne Bewegung entziffern und die Nachricht dann an die nächste Station weitergeben. Bolitho erinnerte sich, daß er von einer neuen Turmkette gelesen hatte, die jetzt London und Deal verband. Schon beim ersten Test hatte sie alle Rekorde gebrochen und ein Signal in nur acht Minuten über die gesamte Distanz von 72 Meilen weitergegeben!

Bestimmt hatte sich der französische Admiral schadenfroh die Hände gerieben, als ihm Styx erstmals an der Ile d'Yeu gemeldet worden war. Danach war alles ein Kinderspiel: Während der Nacht mußte er die drei Kriegsschiffe ausgesandt haben, und als dann Styx, von Phalarope begleitet, über die Invasionsflotte hergefallen war, konnte das französische Geschwader zielstrebig da-zwischengehen. Kein unnützer Zeitverlust, keine Kräfteverzettelung oder Fehldisposition. Nein, wie eine zuschnappende Falle. Bolitho spürte Wut in sich aufsteigen, fast so intensiv wie seine Verzweiflung.

Die Kutsche rollte wieder an; als Bolitho durchs Fenster sah, standen die Telegraphenarme still, als ruhe sich der ganze Turm aus und nicht nur seine Bedienungsmannschaft.

Ein neuer Gedanke quälte Bolitho: daß Herrick Befehl erhalten mochte, mit wehrhafteren Schiffen des Geschwaders einen neuen Angriff zu fahren. Dabei mußte es zu einer Katastrophe kommen. Der Feind konnte rechtzeitig eine Übermacht zusammenziehen und bei der schnellen Nachrichtenübermittlung jede Bewegung Herricks sofort konterkarieren.

Bolitho blickte zum Himmel auf. Es dunkelte schon, bald mußten die Signaltürme nutzlos sein — bis zum nächsten Tagesanbruch.

Dann klapperten die Pferdehufe und eisenbeschlagenen Kutschenräder über Pflastersteine, und Bolitho gewahrte draußen stattlichere Gebäude und einige Lagerhäuser; aus manchen Fenstern fiel trauliches Lampenlicht.

Es widerstrebte ihm, seine Lage als total hoffnungslos zu sehen. 25 Meilen die Loire abwärts, und man war an der See. Obwohl er sich zur Ruhe zwang, fühlte er ein Kribbeln der Erregung zwischen den Schulterblättern. Aber eines nach dem anderen. Alle Hoffnung mußte verblassen, wenn sie nicht von konstruktiven Ideen genährt wurde. Er öffnete das Fenster um einen Spalt und glaubte, den Fluß riechen zu können; im Geist sah er ihn sich dem offenen Meer entgegenschlängeln, wo die Schiffe des Blockadegeschwaders unermüdlich auf Wacht waren.

Allday beobachtete seinen Kommandanten und spürte seine Stimmung. Leise sagte er:»Erinnern Sie sich noch an die Frage, die Sie mir vor kurzem gestellt haben, Sir? Über den Falken an der Kette?»

Bolitho nickte.»Ja, aber wir wollen uns nicht zuviel erhoffen. Es wäre noch zu früh.»

Begleitet von Geschrei und dem Klappern der Ausrüstung bogen die Kutsche und ihre Eskorte durch einen Torweg in einen umfriedeten, viereckigen Platz.

Während die Kutsche bremste, meinte Browne:»Nun sind wir endlich angekommen, Sir.»

Draußen vor den Fenstern zogen Bajonette vorbei, und Bolitho bemerkte einen Offizier mit großer Tasche, der unter einem Türbogen stand und ihnen entgegensah. Also wartete wirklich wie versprochen ein Arzt auf sie. Selbst dieser Befehl mußte von den optischen Telegraphen weitergegeben worden sein. Über die ganze Distanz von vierzig Meilen.

Ihre Tür wurde aufgerissen, mehrere Soldaten bemächtigten sich des stöhnenden Leutnants und trugen ihn ins nächste Gebäude. Als nächster kam Neale dran. Bewußtlos wurde er auf die gleiche Weise abtransportiert.

Bolitho sah die beiden anderen an. Es wurde Zeit.

Der französische Leutnant verbeugte sich höflich.»Wenn Sie mir bitte folgen wollen?«Sein Ton war verbindlich, aber die bewaffneten Posten hinter ihm ließen den Gedanken an Widerspruch gar nicht erst aufkommen.

Auf der anderen Seite des Hofs traten sie durch eine eisenbeschlagene Tür in einen kahlen, mit Steinen gepflasterten Raum, dessen einziges Fenster vergittert war und außerdem zu hoch in der Wand, als daß man es erreichen konnte. Bis auf eine Holzbank, einen stinkenden Eimer und einen Haufen Stroh war der Raum leer.

Bolitho hatte erwartet, daß man ihn sofort offiziell verhören würde. Aber die schwere Tür schlug mit einem lauten Knall hinter ihnen zu, der von den Mauern widerhallte wie in einem Mausoleum.

Angewidert sah Browne sich um, und selbst Allday schien es die Sprache verschlagen zu haben. Bolitho ließ sich auf die Bank sinken und starrte zwischen seinen Knien auf den Steinboden. Sie waren Kriegsgefangene.

Mit verschränkten Armen wartete der französische Marineleutnant, bis Bolitho mit Alldays Hilfe in seinen Rock geschlüpft war und sein Halstuch zurechtgezupft hatte.

Der übliche Kasernenlärm hatte sie am frühen Morgen geweckt. Das Haupthaus und einige Nebengebäude waren offenbar vom Militär requiriert worden, konnten aber ihre herrschaftliche Vergangenheit nicht verleugnen. Vor der Revolution mußte dies ein stattlicher Landsitz gewesen sein, überlegte Bolitho. Einen kleinen Teil davon hatte er zu sehen bekommen, als er in einen anderen Raum geführt worden war, wo Allday ihn unter den wachsamen Blicken eines Soldaten rasieren durfte.

Bolitho wußte, daß Allday sich jetzt nicht mehr fortschicken lassen würde. Sie mußten einfach das Beste aus ihrer Lage machen, und es war ja auch nicht das erstemal. Aber nach außen hin gab er Allday als seinen Kammerdiener aus, denn wenn man in ihm den Berufsseemann erkannte, wurde er bestimmt von ihm getrennt und zum Rest der Mannschaft verlegt, wo sie auch sein mochte.

Schließlich nickte der Leutnant zufrieden.»Bon. «Ohne sich um Alldays Stirnrunzeln zu kümmern, wischte er ein paar Staubkörnchen von Bolithos Schulter.»Sind Sie bereit, M'sieu?»

Gefolgt von Browne und Allday betrat Bolitho den Korridor und stieg eine breite Treppe zum nächsten Stock hinauf. Mehrere Stufen waren beschädigt, und auch in der Wand gewahrte Bolitho vielfach Einschußstellen, wo Musketenkugeln wahrscheinlich die früheren Bewohner des Schlosses niedergemäht hatten.

Ihr Frühstück war ihnen nur Minuten nach dem ersten Weckruf von Soldaten gebracht worden: einfache, aber reichliche Speisen mit Landwein zum Hinunterspülen. Bolitho hatte sich zum Essen gezwungen, damit seine beiden Gefährten sich nicht um ihn sorgten.

Der französische Leutnant eröffnete ihnen, daß sie nun seinem Vorgesetzten, Konteradmiral Jean Remond, vorgeführt würden.»Zu diesem Zweck ist er die ganze Nacht unterwegs gewesen.»

Der Leutnant lächelte knapp.»Deshalb provozieren Sie ihn bitte nicht. «Ehe Bolitho scharf erwidern konnte, fuhr der Franzose fort:»Um meinetwillen, M'sieu!»

Er überließ sie ihrer Eskorte und ging ihnen zu einer hohen Flügeltür voraus.

Bolitho sah aus den Fenstern auf üppig begrünte Felder. Die Morgensonne glitzerte auf einem Streifen Wasser, der zwischen einigen Häusern sichtbar wurde. Dahinter erkannte er die Masten eines vertäuten Schiffes. Dort mußte der Fluß sein.

Der Leutnant kehrte zurück und winkte Bolitho. Browne und Allday beschied er:»Warten Sie hier. «Er war nicht mehr leutselig, sondern sichtbar im Dienst.

Bolitho betrat den großen Salon und hörte die Tür hinter sich leise ins Schloß fallen. Nach dem verwahrlosten Erdgeschoß und der Freitreppe wirkte dieser Raum luxuriös. Kostbare Teppiche und ein riesengroßes Schlachtengemälde verliehen ihm arrogante Eleganz.

Bolitho schritt quer durch den Salon auf einen verzierten Prunktisch zu. Angesichts der Gestalt, die dahinter saß, wurde er sich wieder seines lädierten Aufzugs bewußt. Der Weg kam ihm endlos vor.

Konteradmiral Remond war ein dunkelhäutiger, südländischer Typ und makellos gekleidet. Sein Haar, ebenso schwarz wie das Bolithos, trug er in die breite Stirn gebürstet, unter der die Augen im schwachen Sonnenlicht wie nasse Kohlen glänzten.

Er erhob sich nur andeutungsweise und winkte Bolitho auf einen vergoldeten Stuhl. Wie die große Entfernung zur Tür, sollte auch das einschüchternd wirken.

Bolitho ließ sich nieder, verlegen wegen seiner salzverkrusteten Kleidung, und spürte wieder das Blut in der alten Schenkelwunde pochen. Dies und die sorgsame Plazierung des unbequemen Stuhls deprimierten ihn. Daß die Demütigung beabsichtigt war, half ihm nicht, sie zu ertragen.

Ganz gegen seinen Willen wurde sein Blick von seinem alten Säbel unwiderstehlich angezogen, der wie bei einer Kriegsgerichtsve rhandlung quer über dem Tisch lag.

Kurzangebunden begann der französische Admiral:»Haben Sie mir etwas zu sagen?»

Bolitho hielt seinem festen Blick stand.»Ich bin verantwortlich für Offiziere und Mannschaft der Fregatte Styx. Ihr Kommandant ist so schwer verwundet, daß er sich nicht für sie verwenden kann.»

Mit einem Schulterzucken deutete der Franzose an, daß er diesen Punkt für belanglos hielt.»Damit beschäftigen sich meine Offiziere. Ich bin mehr an Ihnen selbst interessiert.»

«Sie sprechen sehr gut englisch«, sagte Bolitho, um Zeit zu gewinnen.

«Da ich einige Monate in englischer Gefangenschaft war, ist das nur natürlich. «Dieser Abstecher ins Persönliche schien ihn im nachhinein zu ärgern, deshalb sagte er schneidend:»Selbstverständlich waren wir über Ihren Auftrag informiert, wußten im voraus von Ihrem zum Scheitern verurteilten Versuch, unsere Schiffsbewegungen zu behindern. Überhaupt wissen wir eine Menge über Sie und Ihre Familie. Ganz in alten Traditionen wurzelnd, wie?«Ohne auf Antwort zu warten, fuhr er fort:»Ich hingegen mußte ohne Privilegien meinen Weg machen und mich nach oben arbeiten.»

«Dasselbe gilt auch für mich!«erwiderte Bolitho schärfer als beabsichtigt.

Das entlockte Remond nur ein leichtes Lächeln. Er hatte kleine spitze Zähne wie ein Terrier.»Wie dem auch sei, für Sie ist der Krieg vorbei. Da wir ranggleich sind, war es meine Pflicht, Sie zu empfangen. Mehr nicht. «Er griff nach dem alten Säbel und drehte ihn nachlässig hin und her.

Bolitho glaubte zu spüren, daß Remond unsicher war. Er stellte ihn auf die Probe, wollte etwas von ihm erfahren. Um seine plötzliche Entschlossenheit zu verbergen, senkte er den Blick. Das neue Telegraphensystem! Remond mußte unbedingt erfahren, ob die Engländer es entdeckt hatten.

Vielleicht besaßen auch die Franzosen eines Oberbefehlshaber wie Beauchamp, der schon Pläne in der Schublade hatte, wie die Angreifer zu vernichten waren?

«Schöne alte Waffe«, bemerkte Remond und legte den Säbel dicht vor Bolitho auf den Tisch.»Selbstverständlich werden Sie hier angemessen untergebracht werden und können auch Ihren Diener behalten. Und wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie auf jeden Fluchtversuch verzichten, wird Ihnen innerhalb gewisser Grenzen auch einige Bewegungsfreiheit zugestanden; die Details hängen von Ihren Bewachern ab. «Er blickte auf den Säbel nieder.»Außerdem wird Ihnen gestattet, diese Waffe zu behalten. Sobald der Friedensvertrag unterzeichnet ist, werden Sie ohne jeden Makel in Ihre Heimat zurückkehren können. «Damit lehnte er sich zurück und musterte Bolitho von oben herab.»Also?»

Langsam erhob sich Bolitho und ließ die Augen nicht von dem Mann, der hinter dem Tisch saß.

«Der Friede ist nicht mehr als ein Gerücht, Konteradmiral. Im Augenblick haben wir Krieg. Ich bin Offizier des Königs und nicht gewohnt, andere für mich kämpfen zu lassen.»

Diese Antwort schien Remond zu überraschen.»Wie absurd! Sie weisen die Vorteile zurück, die Ihnen Ihrem Rang entsprechend in Gefangenschaft zustehen? Vielleicht setzen Sie Ihre Hoffnungen auf eine Flucht? Aber das ist genauso lächerlich!»

Bolitho zuckte die Achseln.»Jedenfalls kann ich mein Ehrenwort nicht geben.»

«Wenn Sie auf dieser Ablehnung bestehen, schwindet für Sie jede Hoffnung auf Rettung oder Entkommen. Denn sobald ich meine Hand von Ihnen abziehe, werden Sie dem Heer überstellt.»

Bolitho schwieg. Hätte er sich etwa ein relativ bequemes Leben machen können, nachdem er schuld war am Verlust seines Schiffes und am Tod so vieler Menschen? Wenn er jemals in die Heimat zurückkehrte, dann in Ehren — oder gar nicht.

Remond nickte.

«Wie Sie wollen. Dann werden Sie also alle gemeinsam eingeschlossen. Wenn der verwundete Kapitän in der Gefangenschaft stirbt, hat er es Ihnen zu verdanken.»

«Muß der Leutnant ebenfalls bleiben?«Seltsamerweise beruhigte es Bolitho, daß die Versprechungen nun von Drohungen abgelöst wurden.

«Oh, habe ich vergessen, Ihnen das zu erzählen?«Der französische Admiral zupfte ein Fädchen von seiner Hose.»Wie ich hörte, mußte ihm heute nacht ein Arm amputiert werden. Aber er ist trotzdem gestorben. «Remond dämpfte die Stimme.»Nehmen Sie doch Vernunft an. Die Garnison hier besteht zum Teil aus Narren, aus Bauern in Uniform. Sie sind nicht gerade entzückt von der englischen Marine und der Blockade, von dem Versuch, sie so lange auszuhungern, bis sie sich ergeben. Aber in Lorient wären Sie bei Ihren Offizierskameraden und in der Obhut der französischen Marine.»

Bolitho schob das Kinn vor.»Sie kennen meine Antwort«, sagte er kühl.

«Dann sind Sie leider ein Narr, Bolitho. Wir werden bald Frieden schließen. Was gilt dann ein toter Held, he?»

Er läutete, und Bolitho spürte, daß die Tür hinter ihm geöffnet wurde.

Remond kam um den Tisch herum und musterte ihn neugierig.»Dann werden wir uns also nicht wiedersehen. «Damit schritt er aus dem Salon.

Der Leutnant trat zu Bolitho und warf einen Blick auf den Säbel. Er seufzte.»Tut mir leid, M'sieu. «Mit einem Wink an die Eskorte fügte er noch hinzu:»Alles ist arrangiert. Sie werden noch heute in ein anderes Gefängnis verlegt. Danach…«Ratlos hob er die Hände.»Aber ich wünsche Ihnen Glück, M'sieu.»

Bolitho sah ihm nach, als der Leutnant zur Treppe eilte. Ohne Zweifel wurde Remond in Lorient von einem Vorgesetzten erwartet.

Die Soldaten fielen neben ihrem Gefangenen in Schritt, und kurz darauf fand sich Bolitho in der Zelle wieder. Allein.

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