VIII Die Ceres

Erst nach einer ganzen Woche Einzelhaft wurde Bolitho aus der Zelle geholt und in eine verdunkelte Kutsche gesetzt, die ihn in das neue Gefängnis bringen sollte. In diesen sieben Tagen hatte er all seine Selbstbeherrschung und Entschlußkraft benötigt, um nicht zusammenzubrechen. Mehr als einmal hatte er in den endlosen Stunden der Vorsehung gedankt, daß der in der harten Schule des Marinedrills gestählt worden war.

Seine Bewacher mußten speziell wegen ihrer Grobheit und Brutalität ausgesucht worden sein, und ihre schlechtsitzenden Uniformen machten sie nur noch bedrohlicher.

Sie zwangen Bolitho, sich nackt auszuziehen, dann durchsuchten sie ihn und raubten ihm auch den letzten privaten Gegenstand, den er noch besessen hatte. Zuletzt rissen sie die Epauletten und Goldknöpfe von seinem Uniformrock, wahrscheinlich um sie als Souvenirs zu verhökern. Und während der ganzen Prozedur demütigten und beschimpften sie ihn nach Kräften. Aber Bolitho durchschaute die Männer und machte sich keinerlei Illusionen: Sie suchten nur einen Vorwand, um ihn zu töten; als er stumm und äußerlich ruhig blieb, ließen sie ihn für ihre Enttäuschung büßen. Nur einmal hätte er beinahe die Beherrschung verloren. Ein Soldat hatte ihm das Medaillon vom Hals gerissen und es lange neugierig angestarrt. Bolitho hatte den Unbeteiligten markiert, obwohl er dem Mann am liebsten an die Kehle gesprungen wäre und ihn erwürgt hätte, bevor ihn die anderen unschädlich machen konnten.

Der Soldat hatte das Medaillon mit seinem Bajonett aufgebrochen und blöde der Haarlocke nachgestarrt, die herausgefallen war und durch die offene Tür davonwehte.

Aber das Medaillon war aus Gold, das schien ihn zufriedenzustellen. Zum Glück ahnte er nicht, was es für Bolitho bedeutete: Es war ein Geschenk Cheyneys, seiner verstorbenen ersten Frau, das sie ihm zusammen mit einer Locke ihres Haars bei ihrem letzten Abschied gegeben hatte.

Da er weder eine Uhr noch Gefährten besaß, verlor er bald jedes Zeitgefühl, jedes Empfinden für die Vorgänge jenseits der Zellenmauern. Als er auf den Hof geführt wurde und die Kutsche warten sah, war er dankbar. Das neue Gefängnis mochte schlimmer sein, ihn vielleicht sogar mit einem Exekutionskommando empfangen — aber wenigstens war die Zeit des Wartens endlich vorbei.

In der verhängten Kutsche stieß er auf seine Gefährten von der Styx. Das war für alle eine bewegende Überraschung. Als die Kutsche anrollte und die Eskorte sich hinter ihr formierte, schüttelten sie einander die Hände, musterten wortlos die Gesichter der anderen in dem spärlichen Licht, das durch die Blenden fiel.

Schließlich sagte Bolitho:»Daß Sie hier sind, ist meine Schuld. Hätte ich den Franzosen mein Ehrenwort gegeben, wären Sie vielleicht in die Heimat entlassen worden. Aber nun«, er zuckte die Achseln,»sind Sie genauso Kriegsgefangene wie ich.»

Allday schien sich darüber zu freuen; oder war es Erleichterung, Bolitho noch am Leben zu finden?

«Bei Gott, Sir«, explodierte er,»ich bin froh, daß wir das Gesindel los sind!«Er hob die großen Fäuste und schüttelte sie drohend.»Noch ein paar Tage bei diesen Laffen, und ich hätte ihnen eine gelangt!»

Neale, der zwischen Browne und Allday lehnte, von ihnen ge-. stützt, ergriff Bolithos Hand. Er trug einen dicken Kopfverband, und sein Gesicht war totenblaß.»Wieder beisammen«, flüsterte er.»Jetzt werden wir's ihnen zeigen.»

Leise sagte Allday:»Er gibt sein Bestes, Sir. «Traurig wiegte er den Kopf.

Browne berichtete:»Ich wurde von zwei französischen Offizieren vernommen, Sir. Sie fragten mich nach Ihnen aus. Später hörte ich sie über Sie sprechen und merkte, daß sie sich Ihretwegen Sorgen machten.»

Bolitho nickte.»Sie gaben aber nicht zu erkennen, daß Sie gut französisch sprechen?»

Browne lächelte nur, und Bolitho erinnerte sich wieder an die anderweitigen Qualitäten seines Adjutanten. Immerhin ein Punkt zu ihren Gunsten.

Die Kutsche wurde schneller, so daß Browne sich an einem Gurt festhalten mußte.»Es war die Rede davon, daß noch mehr Landungsfahrzeuge nach Lorient und Brest abgestellt werden sollen. Offenbar handelt es sich um zwei verschiedene Bootstypen. Einmal sprachen sie von einer chaloupe de cannoniere, ein andermal von einem kleineren Boot, einer peniche. Wie es sich anhörte, bauen sie Hunderte davon.»

Bolitho entdeckte, daß er diese Informationen mit kühlem Kopf in seine Überlegungen einbeziehen konnte. Die lange Einzelhaft hatte möglicherweise einen Haß in ihm geweckt, der ihm jetzt half, eiskalt einen Gegenschlag zu planen.

Er sah Neale haltlos in Alldays stützendem Arm hin und her schwanken. Sein Hemd stand bis zum Gürtel offen und enthüllte Kratzspuren auf der Brust, wo ihm offenbar jemand das Medaillon heruntergerissen hatte, das Neale immer getragen hatte: mit einem Bild seiner Mutter. Der Ärmste war nur noch ein Schatten seiner selbst. Womit beschäftigte sich sein verwirrter Geist? Mit seiner geliebten Styx, mit zu Hause oder mit dem Schicksal seines Ersten Offiziers, des schweigsamen Mr. Pickthorn, der ihm gedient hatte wie ein verlängerter Arm?

Wenn ich mich anders entschieden hätte, läge Neale jetzt gut versorgt im Hospital, dachte Bolitho.

Sie verbrachten die Fahrt vor sich hin dösend, schreckten aber immer wieder auf, um sich zu vergewissern, daß sie wirklich wieder alle vereint waren und das Wiedersehen nicht nur geträumt hatten. Ohne zu wissen, wohin die Reise ging oder wo sie waren, ertrugen sie die drückende Hitze in der halbdunklen, ungelüfteten Kutsche.

Mehrmals wurde ein Halt eingelegt, die Pferde wurden getränkt oder gewechselt, auch schob man ihnen Brot und Wein ins Innere, ohne sie auch nur eines Blickes oder eines Wortes zu würdigen. Stets ging es so schnell wie möglich wieder weiter.

«Wenn man uns abermals trennt, müssen wir versuchen, irgendwie in Verbindung zu bleiben. «Bolitho hörte eine Kutsche in entgegengesetzter Richtung an ihnen vorbeirasseln; also befanden sie sich jetzt auf einer breiteren Straße.»Ich habe vor zu fliehen, zusammen mit Ihnen allen. «Er spürte, wie sie ihn anstarrten, wie plötzlich Hoffnung in ihnen aufflackerte.»Wenn einer von uns fällt oder ergriffen wird, dann müssen die anderen unbedingt weitermachen. Irgendwie müssen wir die Informationen über die französischen Invasionsvorbereitungen und über ihr neues Telegraphensystem nach England bringen.»

«Aber nur gemeinsam«, grunzte Allday.»Und wenn ich Sie, mit Verlaub, auf dem Rücken tragen muß, Sir. Dann wartet England eben ein bißchen länger.»

Browne gluckste vor unterdrücktem Lachen, was ihnen allen wohltat in dieser Situation, in der sie nicht wußten, ob sie den nächsten Tag noch erleben würden. Aber er ermahnte Allday:»Nehmen Sie sich nicht zuviel heraus. Sie sind der Steward des Admirals, nicht sein Bootsführer, denken Sie daran.»

Allday grinste.»Mal sehen, ob ich das schaffe.»

Bolitho hob die Hand.»Still!»

Er versuchte, eine Fensterblende zu lockern, bekam sie aber nur einen schmalen Spalt auf. Die anderen ließen ihn nicht aus den Augen, als er das Gesicht dagegenpreßte.

Leise sagte er:»Das Meer — ich kann es riechen.»

Dann blickte er sie an, als hätte er ihnen gerade etwas Wunderbares mitgeteilt. Das Meer — für Seeleute war es tatsächlich so etwas wie eine Offenbarung. Auch wenn man sie jetzt wieder in eine stinkende Zelle sperrte, sie wußten, die See war nicht weit. In jedem Seemann saß tief die Überzeugung verwurzelt: Wenn er es erst bis zur See geschafft hatte, dann würde er irgendwann, irgendwie auch in die Heimat gelangen.

Die Kutsche hielt, ein Soldat öffnete die Fenster, um frische Luft hineinzulassen.

Bolitho rührte sich nicht, doch seine Augen waren überall.

Keine Spur von Wasser, aber hinter einer Reihe niedriger, rundgeschliffener Hügel konnte man das Meer erahnen. Auf der anderen Seite der Straße erstreckte sich weit und breit dürres Brachland. Eingehüllt in dicke Staubwolken, exerzierte darauf Kavallerie und erinnerte Bolitho an das monumentale Schlachtengemälde im

Salon des Admirals.

«Wie unsere Eskorte«, murmelte Browne.»Französische Kürassiere.»

Bolitho hörte ein Trompetensignal und sah die Sonne auf schwarzen Helmbüschen und Brustpanzern glänzen. Dann schwenkte das Karree ab und verschwand galoppierend hinter einer Staubwolke. Offenes Gelände also, gut geeignet für die Kavallerie, die hier möglicherweise auf die Invasion vorbereitet wurde. Außerdem war sie für jeden Flüchtling eine ernsthafte Bedrohung. Als Kind hatte Bolitho oft zugesehen, wie die Dragoner von Truro exerzierten oder paradierten, auch wie sie in der Nähe von Fal-mouth fliehende Schmuggler verfolgten; mit gezogenen Säbeln waren sie hinter ihnen ins Moor galoppiert.

Nur zu bald wurden die Fenster wieder geschlossen, und die Kutsche ruckte an. Bolitho begriff, daß das Fenster zur Warnung geöffnet worden war, nicht aus Erbarmen. Worte hätten es nicht klarer ausdrücken können, welche Bedrohung von diesen martialischen Kürassieren ausging.

Der Abend dämmerte schon, als sie endlich mit steifen Gliedern aus der Kutsche klettern durften. Der junge Offizier, der die Eskorte geführt hatte, händigte einem Beamten in blauem Rock einige Papiere aus, dann nickte er den Gefangenen kurz zu und machte auf dem Absatz kehrt, offenbar heilfroh, daß er die Verantwortung los war.

Bolitho blickte an dem Beamten vorbei, der immer noch mühsam seine Papiere entzifferte, auf das gedrungene Gebäude, das offenbar ihr neues Gefängnis werden sollte: hohe steinerne Mauern, keine Fenster, und in der Mitte wohl ein Turm, der hinter dem Tor im Schatten gerade noch zu erkennen war. Eine alte Festung oder eine Küstenwachstation, die im Lauf der Jahre erweitert worden war.

Der Mann in Blau hob jetzt den Blick und deutete aufs Tor. Einige Soldaten, die bisher die Ankömmlinge nur beobachtet hatten, formierten sich zu zwei Reihen, nahmen die Gefangenen in die Mitte und marschierten mit ihnen hinein.

In einem kahlen Raum mußten sie warten, an die Wand gelehnt, bis schließlich ein ältlicher Milizhauptmann erschien.»Ich bin Capitaine Michel Cloux, der Festungskommandant«, teilte er ihnen mit.

Er hatte ein schmales Fuchsgesicht, aber seine Augen blickten nicht gehässig; eher schon schien ihm seine neue Aufgabe Sorgen zu machen.

«Sie sind hier als Kriegsgefangene Frankreichs und haben ohne Widerrede allen meinen Anweisungen zu folgen. Verstanden? Auf Fluchtversuch steht die Todesstrafe. Auch jeder Widerstand gegen die Obrigkeit wird mit dem Tode bestraft. Aber wenn Sie sich anständig aufführen, haben Sie nichts zu befürchten. «Sein Blick blieb Allday hängen.»Ihr Steward wird entsprechend eingewiesen werden.»

Neale stöhnte auf und taumelte gegen Browne, der ihn stützte.

Irritiert blickte der Kommandant in seine Papiere und fügte etwas milder hinzu:»Ich lasse den Feldarzt kommen für — äh — Capi-taine Neale, nicht wahr?»

«Danke, das wüßte ich sehr zu schätzen. «Bolitho sprach leise, um nicht seinen hohen Rang zu betonen, wodurch alles nur schlimmer geworden wäre. Neales schlechter Zustand hatte einen menschlichen Zug beim Kommandanten zutage gebracht, der zwar sicherlich seine strikten Anweisungen über die Behandlung und Unterbringung der Gefangenen besaß, aber als alter Soldat sicher selbst schon Kameraden verloren hatte. Trotzdem musterte er Neale we iterhin so argwöhnisch, als befürchte er eine Falle.»Sie werden jetzt in Ihre Quartiere gebracht«, sagte er schließlich.»Anschließend fassen Sie Verpflegung. «Mit großer Geste stülpte er sich den Zweispitz auf.»Folgen Sie meinen Soldaten!»

Als sie hinter zwei Wachtposten eine gewundene Steintreppe erklommen, wobei sie Neale halb trugen, damit er nicht fiel, murmelte Allday:»Bestehlen können sie mich hier wenigstens nicht. Weil ich nämlich nichts mehr besitze.»

Bolitho dachte an das Medaillon mit ihrem Porträt; und an Cheyneys Gesicht, als er sie zum letztenmal gesehen hatte. Allday mochte recht haben: Das Medaillon war ein Verbindungsglied zur Vergangenheit gewesen, die jetzt so ferngerückt war. Geblieben war nur die Hoffnung, und die wollte er sich um nichts in der Welt nehmen lassen.

Eintönig vergingen die Tage für Bolitho und seine Mitgefangenen. Sie wurden karg und primitiv verköstigt, aber ihre Wärter aßen auch nicht besser. Bald fanden sie heraus, daß sie die einzigen Insassen des kleinen Gefängnisses waren, jedenfalls im Augenblick. Denn als Bolitho und Browne unter Bewachung einmal vor den Toren Spazierengehen durften, kamen sie an einer mit Einschußlöchern übersäten Mauer und einigen hastig aufgeworfenen Grabhügeln vorbei: Anzeichen dafür, daß ihre Vorgänger hier vor einem Exekutionskommando das Leben gelassen hatten.

Der Festungskommandant visitierte sie jeden Tag und hielt auch sein Wort, was den Arzt für Neale betraf. Bolitho erkannte in ihm denselben Arzt wieder, der in Nantes den Arm des jungen Leutnants amputiert hatte; und Browne hatte gehört, daß er von seinem Heimweg in die Kaserne sprach, der einen Ritt von drei Stunden erforderte.

Diese spärlichen Informationen waren ihnen bei der totalen Isolation, in der sie gehalten wurden, sehr wichtig. Sie rechneten sich aus, daß Nantes etwa zwanzig bis dreißig Meilen östlich von ihrer Festung liegen mußte. Daraus ergab sich, daß ihr Gefängnis knapp zwanzig Meilen von der Stelle trennten, wo sie nach ihrem Schiffbruch an Land getaumelt waren.

Bolitho war überzeugt, daß sie damit richtig vermuteten. Man hatte sie zunächst landeinwärts geschafft und anschließend wieder zur Küste, diesmal allerdings näher bei der Loire-Mündung. Die Seekarte dieses Gebiets hatte Bolitho im Kopf: heimtückische Riffe und Sandbänke, an denen schon viele Seefahrten begonnen hatten, aber ebenso viele auch gescheitert waren.

Ihm war aufgefallen, daß der Kommandant sie immer nur zu zweit zum Ausgang vor die Mauern ließ. Die anderen blieben demnach als Geiseln zurück. Vielleicht waren die Gräber stumme Zeugen für den Versuch ihrer Vorgänger, den kleinen Kommandanten zu überlisten; sie hatten ihren Irrtum teuer bezahlt.

Eines warmen Morgens im August traten Bolitho und Brown vor das Tor, aber statt sich wie gewohnt auf der Straße zu halten, richtete Bolitho den Schritt nach Westen, auf eine niedrige Hügelkette zu. Ihre drei Bewacher, beritten und gut bewaffnet, erhoben keine Einwände; willig trotteten ihre Pferde hinter den Gefangenen über die Wiese, weg von der Festung. Bolitho hatte mit einem scharfen Verbot gerechnet, aber vielleicht langweilten sich die Wachen auf dem immer gleichen täglichen Weg und waren für die Abwechslung ganz dankbar.

Bolitho mußte sich kurz vor dem Hügelkamm bewußt beherrschen, damit er den Schritt nicht beschleunigte.

«Herrgott, ist das ein Anblick!«rief Browne begeistert aus.

Zu ihren Füßen erstreckte sich auf beiden Seiten die tiefblaue See, flimmernd im gleißenden Vormittagslicht und stellenweise dunstverhüllt wegen der Hitze. Bolitho erkannte Strömungen und Wirbel rund um einige kleine vorgelagerte Inseln und weit im Norden den dunklen Schatten von Land: wohl das jenseitige Ufer der Trichtermündung. Schnell sah er sich nach den Wachtposten um, aber die achteten nicht auf sie. Zwei waren vom Pferd gestiegen, nur der dritte saß noch im Sattel, eine Hakenbüchse schußbereit quer vor sich.

Bolitho sagte:»Wenn ich recht habe, sollte hier irgendwo ein Kirchturm sein.»

Browne hob schon den Arm, aber Bolitho zischte:»Nicht deuten! Beschreiben Sie ihn mir.»

«Er steht links von uns, Sir. Auf der fensterlosen Seite der Festung.»

Bolitho beschattete seine Augen und blickte wie beiläufig in die Runde. Halb von den Hügeln verdeckt, erkannte er eine Kirche mit viereckigem Turm, die sich in eine Bodenfalte duckte, als sei dies ihr angestammter Platz seit Urzeiten.

«Gehen wir zurück. «Nur widerwillig kehrte Bolitho der See den Rücken.»Jemand könnte uns beobachtet haben.»

Ziemlich verwirrt fiel Browne neben ihm in Schritt.

Bolitho wartete, bis er hinter sich das Scheppern und Trotten der Kürassiere hörte, dann begann er gedämpft:»Ich weiß jetzt mit Bestimmtheit, wo wir sind, Oliver. Und wenn ich mich nicht irre, hat kein Pfarrer diesen Kirchturm bezogen, sondern die französische Marine. «Er warf seinem Adjutanten einen kurzen, fast verzweifelt drängenden Blick zu.»Ich wette, es ist der letzte Se-maphorenturm auf dieser Seite des Mündungsgebiets. Wenn wir nur ausbrechen könnten, wenigstens so lange, wie wir brauchen, um ihn zu zerstören!»

Browne konnte ihn nur anstarren.»Aber sie werden einen neuen bauen, und wir.»

«Ich weiß. Wir werden exekutiert. Trotzdem müssen wir einen Weg finden. Denn wenn unsere Schiffe hier angreifen, was sie bestimmt tun werden, segeln sie ins sichere Verderben. Ich fürchte, uns bleibt nicht mehr viel Zeit. In England muß man inzwischen vom Untergang der Styx erfahren haben und alle Anstrengungen machen, wenigstens die überlebenden Offiziere gegen gefangene Franzosen auszutauschen.»

Nachdenklich kaute Browne auf seiner Unterlippe.»Kapitän Neale wird als vermißt gemeldet werden, bis Überlebende der Besatzung herumerzählen, was aus ihm und uns geworden ist.»

Bolitho nickte ernst.»Aye. Und es wird bestimmt genug neutrale Zuträger geben, welche diese Neuigkeiten an die richtigen Leute verkaufen. Ich glaube, die Franzosen werden die Verhandlungen über Austausch oder Freilassung bewußt so lange verzögern, bis sie ihre neu formierte Landungsflotte in der richtigen Position haben. Admiral Beauchamp hatte völlig recht mit seinem Verdacht.»

«Und er hat auch den richtigen Mann mit Gegenmaßnahmen betraut«, sagte Browne.

«Wenn ich das nur glauben könnte, Oliver«, seufzte Bolitho.»Je länger ich hier nutzlos gefangensitze, desto gründlicher denke ich über unseren Angriffsplan nach. Ich hätte die schwache Stelle erkennen sollen, hätte sie mit einkalkulieren müssen, ganz gleich, wie spärlich die Informationen waren, die wir von der Admiralität bekamen. «Er blieb stehen und sah Browne in die Augen.»Als ich merkte, daß Phalarope davonsegelte, statt zu kämpfen, habe ich ihren Kommandanten verflucht. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Kann sein, er hat sich klüger verhalten, als wir ihm zunächst zubilligten, und auch mehr Mut bewiesen. Ich war schon immer der Meinung, daß ein Kommandant mit Eigeninitiative handeln muß, wenn seine Befehle in einer überraschenden Situation sinnlos werden.»

«Bei allem Respekt, Sir, da bin ich gegenteiliger Meinung. «Browne wartete auf eine Zurechtweisung; als keine kam, fuhr er fort:»Kapitän Emes hätte den aussichtslosen Kampf gegen die Übermacht aufnehmen müssen, statt Styx hilflos sich selbst zu überlassen. Jedenfalls hätten Sie sich so verhalten, Sir.»

Bolitho lächelte.

«Als Kommandant vielleicht. Aber in dem Augenblick, als meine Flagge fiel, ging der Oberbefehl an Emes über. Im Grund blieb ihm gar keine andere Wahl.»

Aber Bolitho spürte, daß er Browne nicht überzeugt hatte. Sein Schweigen war vielsagender als jeder laute Protest.

Allday erwartete sie im oberen Stockwerk des Festungsturms, als sie schwitzend die letzten Stufen erklommen, und sagte:»Der Arzt war wieder da, Sir. Kapitän Neale geht es ziemlich schlecht.»

Bolitho drängte sich an ihm vorbei und eilte zu dem größeren der beiden Turmzimmer. Dort lag Neale auf dem Rücken, starrte mit weit geöffneten Augen an die Decke und atmete so heftig, daß sich seine Brust wie im Krampf hob und senkte. Ein Wächter trug einen Eimer mit blutigen Verbänden davon; am vergitterten Fenster stand der kleine Festungskommandant und machte ein ernstes Gesicht.

«Ah, da sind Sie ja, Konteradmiral. Ich fürchte, Kapitän Neales Zustand hat sich verschlechtert.»

Vorsichtig ließ sich Bolitho auf die primitive Pritsche nieder und nahm Neales Hand. Trotz der Sommerhitze war sie eiskalt.»Was ist denn, John?«fragte er besorgt.»Komm, mein Junge, sag es mir. «Leicht drückte er Neales Hand, fühlte aber keine Reaktion. Nicht du auch, dachte er flehentlich, Herrgott, nicht du auch noch.

Die Stimme des Kommandanten schien aus weiter Ferne zu kommen.»Ich habe Befehl, Sie alle nach Lorient zu verlegen. Dort wird auch Kapitän Neale besser aufgehoben sein.»

Bolitho sah ihn an und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Dann begriff er, daß alles umsonst gewesen war. Neale würde sterben, und sie selbst schaffte man nach Lorient, wo sie niemals ausbrechen und diesen Signalturm zerstören konnten.

Er protestierte:»Aber, Monsieur, der Transport würde Kapitän Neales sicheren Tod bedeuten!»

Der Kommandant wandte sich ab und starrte auf die See hinaus.»Ich habe Befehl, Sie nach Lorient in Marsch zu setzen. Auch der Arzt ist sich des Risikos für Kapitän Neale bewußt, aber er hat mir versichert, daß der Patient sich nur so lange ans Leben klammern wird, wie er mit Ihnen zusammen ist. «Sein Ton wurde etwas milder.»Wenigstens reisen Sie nicht in der Kutsche, sondern per Schiff. Diese kleine Vergünstigung konnte ich mit meinen beschränkten Mitteln immerhin für Sie durchsetzen, Admiral.»

Bolitho nickte langsam.»Danke. Das werden wir Ihnen nicht vergessen.»

Der Kommandant straffte die schmalen Schultern, der Augenblick des gegenseitigen Einverständnisses hatte ihn verlegen gemacht.

«Heute abend werden Sie an Bord gebracht. Danach. «Er zuckte die Achseln.»Jedenfalls liegt dann nichts mehr in meiner Hand.»

Er ging, und Bolitho beugte sich über Neale.»Haben Sie das gehört, John? Wir bringen Sie woandershin, wo Sie ordentlich gepflegt werden können. Außerdem bleiben wir alle zusammen. Na?»

Neale richtete so langsam den Blick auf ihn, als ginge schon diese Anstrengung über seine Kräfte.

«Keinen. Sinn. Diesmal haben. sie mich. erledigt.»

Bolitho merkte, daß Neale nach seiner Hand tastete. Sein mühsamer Versuch eines Lächelns war herzzerreißend.

Neale flüsterte:»Mr. Bundy wird nachher wegen seiner Seekarten vorsprechen. «Er phantasierte wieder, die Schmerzen trübten seinen Blick.»Später…»

Bolitho ließ Neales Hand los und erhob sich.»Lassen wir ihn in Ruhe. «Und an Browne gewandt:»Sorgen Sie dafür, daß wir hier nichts vergessen. «Aber er wußte, daß er nur sprach, um Zeit zu gewinnen. Sie besaßen nichts, deshalb konnten sie auch nichts verlieren, wie Allday schon richtig angemerkt hatte.

Dieser sagte jetzt leise:»Ich kümmere mich um Kapitän Neale,

Sir.»

«Ja, danke.»

Bolitho trat zum Fenster und drückte die Stirn an die sonnenwarmen Eisenstangen. Irgendwo links mußte der Kirchturm stehen, obwohl er ihn von hier aus nicht sehen konnte. Die englischen Schiffe würden mehrere Tage brauchen, ehe sie die günstigsten Angriffspositionen erreichten; aber der optische Telegraph benötigte nur Minuten, um die Verteidiger zu alarmieren.

Niemand in England wußte von den Invasionsbereitungen. Vielleicht würden sie es dort auch nicht mehr rechtzeitig erfahren. Dann starb Neale hier ebenso umsonst wie viele seiner Männer vor ihm.

Er preßte das Gesicht so fest an die Stäbe, daß der Schmerz ihn zur Besinnung brachte. Noch war Neale nicht tot. Und noch hatte der Feind nicht gewonnen.

Browne ließ seinen Admiral nicht aus den Augen. Er hätte ihm gern geholfen, wußte aber, daß dies außerhalb seiner Macht lag.

Allday ließ sich neben Neales Pritsche nieder. Der Verwundete hatte jetzt die Augen geschlossen und schien auch etwas ruhiger zu atmen.

Allday dachte an das französische Schiff, das sie nach Lorient bringen sollte. Mochte der Teufel wissen, wo Lorient lag. Ebensowenig scherten ihn die Musjöhs, wie er sie nannte. Aber ein Schiff war auf jeden Fall besser als eine Kutsche mit einem verdammten Rattenschwanz von Soldaten.

Immerhin wußte er, daß Lorient weiter nördlich lag; und damit ein bißchen näher an England.

Der kleine Kommandant stand wartend unter der Tür und sah Bo-litho an.»Es wird Zeit, M'sieu.»

Bolitho blickte sich noch einmal in dem Raum um, der so lange jhre Zelle gewesen war. Den bewußtlosen Neale hatte man auf einer Bahre festgebunden und, begleitet von Allday, schon am frühen Nachmittag weggeschafft. Ohne Neale und seine verzwe i-felten Versuche, das ihm entgleitende Leben festzuhalten, wirkte der Raum öde und leer.

Browne fragte:»Hören Sie den Wind?»

Auch das war ein schlechtes Vorzeichen. Neale war kaum eine Stunde weg gewesen, da hatte der Wind aufgefrischt. Das Wetter mit seinen Launen hatte sie in dem exponierten Festungsturm auch vorher stark beeinflußt, aber als sie sich jetzt an der Tür zusammendrängten, schien es sich eindeutig zu verschlechtern. Der Wind strich heulend um die Mauern und rüttelte an den kleinen Fenstern wie ein lebendes Wesen, auf der Suche nach ihnen, um sie zu vernichten.

Bolitho sagte:»Hoffentlich ist Neale inzwischen wohlbehalten an Bord.»

Der Kommandant führte sie die enge, gewundene Steintreppe hinunter, wobei seine Stiefel immer die richtige Stelle auf den ausgehöhlten Stufen fanden — wohl aus langer Gewohnheit.

Über die Schulter sagte er:»Heute abend oder nie. Das Schiff kann nicht warten.»

Bolitho lauschte dem anschwellenden Sturm. Kein Wunder, dachte er.

Als er vors Tor trat, wurde ihm der Gegensatz zu jenem warmen Augustmorgen, an dem er mit Browne zur hügeligen Küste spaziert war, dramatisch bewußt: Diesmal zogen graue schwere Wolken tief über ihnen dahin und ließen nur selten einen silberweißen Strahl Mondlicht hindurch, der die Szenerie in ein scharfes, verzerrendes Licht tauchte. Zwischen tanzenden Laternen schritten sie auf einen Kommandoruf zur Rückseite der Festung, hinter dem

Kommandanten her, der unbeirrt, auch ohne Laterne oder Mondlicht, seinen Weg fand. Sie schlugen denselben Pfad ein, den sie damals entdeckt hatten, doch diesmal, vom Sturm geschüttelt und in der Finsternis halb blind, hätte Bolitho sich darauf nie allein zurechtgefunden.

Er merkte, daß die Soldaten ihn beobachteten, und erinnerte sich an die letzten Worte des Festungskommandanten:»Ich entlasse Sie nicht wie Diebe, sondern wie Offiziere. Deshalb schließe ich Sie weder an Händen noch an den Füßen in Eisen. Aber wenn Sie zu fliehen versuchen.»

Angesichts der wachsamen Soldaten mit ihren langen Bajonetten konnte er sich weitere Erläuterungen sparen.

Browne meldete:»Jetzt geht es abwärts.»

Der Pfad machte einen Bogen nach rechts und fiel steil ab. Als sie in den Windschatten der Steilküste gelangten, wurde das Heulen des Sturms etwas schwächer.

Sowie Bolitho stolperte, hörte er sofort ein metallisches Klik-ken hinter sich. Tatsächlich, ihre Bewacher waren auf der Hut und jederzeit bereit, beim ersten Fluchtversuch gezielt zu schießen.

Dann endlich hörten sie die See, die wild gegen den Strand anbrandete, sich für die Augen aber nur hier und da mit einem hellen Gischtstreifen zu erkennen gab. Bolitho ertappte sich dabei, daß er die Sekunden und Minuten zählte, als sei es ausschlaggebend, die Stelle genau zu erkennen, wo sie die Klippe verlassen und eine andere Richtung einschlagen würden.

Andere Laternen schwankten ihnen strandaufwärts entgegen, Stiefel stapften quietschend durch nassen Sand.

Bolitho hörte den Kiel eines Bootes im Flachwasser knirschen und fragte sich, wo das Schiff wohl geankert hatte. Das Vorland gab ihnen jetzt Schutz vor dem Wind, woraus zu schließen war, daß sich der Sturm nicht nur verstärkt hatte, sondern auch umgesprungen war. Wehte es jetzt aus Ost? Wahrscheinlich, obwohl man sich in der Biskaya auf nichts verlassen konnte.

Im Schein einer Laterne tauchte das Gesicht des Festungskommandanten aus dem Dunkeln auf.

«Leben Sie wohl, M'sieu. Wie ich höre, ist Ihr verwundeter Kapitän sicher an Bord der Ceres gelangt. «Grüßend griff er zum Hut und trat zurück.»Viel Glück.»

Der Lichtschein verschwand und mit ihm der Kommandant.

Eine fremde Stimme befahl grob:»In die chaloupe, schnell!»

Man führte, stieß oder zerrte sie zu einer Barkasse, und kaum hatten sie sich in ihrem Heck zwischen einige nur undeutlich erkennbare Matrosen gequetscht, da wurde der Bug schon in tieferes Wasser geschoben; wild schlugen die Riemen, um das Boot in Fahrt zu bringen.

Sowie sie aus dem Windschatten der Steilküste kamen, wurde die Fahrt zu einer Art Ritt auf dem Delphin. Das Boot hob sich und fiel schwindelerregend, die Mannschaft kämpfte — vom Bootssteu-rer an der Pinne zum äußersten getrieben — verzweifelt gegen Wind und Seegang an. Es war eine rauhe Nacht, die bald noch rauher werden mußte. Darüber war sich Bolitho klar. Er dachte an Neale, der hoffentlich in der vertrauteren Umgebung an Bord eines Schiffes, auch wenn es ein französisches war, inzwischen etwas mehr Ruhe gefunden hatte. Überhaupt war jetzt alles anders; es roch nach Teer und Rum, nach Salz und dem Schweiß der Seeleute, die mit ihrem Feind von altersher rangen, der See.

Also Ceres. Den Namen hatte er schon irgendwo gehört. Sie mußte eine der Fregatten sein, die als Blockadebrecher und Kuriere zwischen den französischen Flotten eingesetzt waren. Wenn die Franzosen erst die Kette der optischen Telegraphen weiter ausgebaut hatten, mußte der Dienst für diese Fregatten etwas leichter werden.

Browne griff nach seinem Arm, er blickte auf und sah den Umriß des französischen Schiffes vor und über sich in der Dunkelheit aufragen; um Steven und Ankertrosse kochte die See, als sei die Fregatte soeben erst aus der Tiefe emporgetaucht.

Nach drei vergeblichen Versuchen bekam der Buggast die Rüsten zu packen, das Fallreep schwang heran, und Bolitho sprang um sein Leben, ehe das Boot wieder unter seinen Füßen in das nächste tiefe Wellental absacken konnte; Browne folgte ihm ebenso.

Naß bis auf die Haut erreichten sie das Deck; die tropfenden Bootsmäntel, von denen Knöpfe und Rangabzeichen längst abgerissen waren, hingen ihnen von den Schultern wie die Lumpen einer Vogelscheuche.

Bolitho spürte an Bord drängende Eile und das Bestreben, möglichst schnell Segel zu setzen. Deshalb vermerkte er mit Respekt, daß der französische Kommandant, den man über den Dienstrang seines Gefangenen sicherlich informiert hatte, sich die Zeit nahm, sie an der Schanzkleidpforte zu empfangen.

Aber auch das ging vorbei, und dann wurde Bolitho über Niedergänge und unter niedrigen Balkendecken hindurch nach unten in eine Welt geführt, die ihm nur allzu vertraut war.

Unter Deck wirkten die Schiffsbewegungen noch heftiger. Er glaubte zu spüren, wie die Fregatte an ihrer Ankertrosse zerrte, um endlich der gefährlichen Umarmung des Landes zu entkommen und die Sicherheit der offenen See zu gewinnen.

Als sie den letzten Niedergang ins Orlopdeck hinunterkletterten, hörte Bolitho das Gangspill oben klicken und vom Sturm halb verwehte Befehle, die das Ankerlichten und Segelsetzen begleiteten.

Im Halbdunkel eilten gebückte Gestalten an ihnen vorbei; Bo-litho erkannte dunkle Flecken auf den Decksplanken, die nur von Blut herrühren konnten. Kein frisches Blut, aber zu tief ins Holz eingesickert, um jetzt noch abgeschrubbt zu werden. Wie immer im Orlopdeck, dachte er grimmig. Hier im Lazarett des Schiffes arbeiteten Feldscher und Arzt, so gut sie konnten, während über ihren Köpfen die Kanonen brüllten und der Strom ihrer Opfer nicht abriß, die — auf rohen Holztischen festgebunden — auf die Säge oder das Wasser warteten.

Auf einer Koje zwischen den mächtigen Spanten erkannte Boli-tho den verwundeten Neale; daneben erhob sich Allday, um ihn so erleichtert zu begrüßen, als sei ihr Wiedersehen das einzige, was für ihn auf dieser Welt noch zählte.

Mit den Worten:»Das ist die Ceres, Sir, mit zweiunddreißig Geschützen«, empfing ihn Allday und führte sie alle zu einer Reihe alter Seekisten, die er mit Persenningen abgedeckt hatte, damit sie bequemer daraufsitzen konnten. Er fuhr fort:»Vor einiger Zeit geriet sie mit einem unserer Patrouillenschiffe aneinander. Der Koch hat mir von dem Gefecht erzählt. «Er grinste.»Ein Ire. Auf jeden Fall ist sie unterwegs nach Lorient. «Mit schräg gelegtem Kopf lauschte er auf Wind und See, die draußen gegen die Bordwand anstürmten.»Außerdem sind sie seither unterbemannt. Hoffentlich stranden sie, diese Hunde!«»Wie geht es Kapitän Neale?»

Allday wurde wieder ernst.»Manchmal glaubt er, wieder auf der alten Styx zu sein. Dann gibt er dauernd Befehle. Aber sonst verhält er sich ruhig.»

Mehr Geschrei oben an Deck und dann ein scharfes Überholen des Schiffes. Bolitho ließ sich auf einer Seekiste nieder und stützte sich mit dem Rücken gegen die Bordwand, als der Anker jetzt ausgebrochen wurde und die Ceres ihren Kampf um freien Seeraum aufnahm. Er bemerkte, daß Allday in einer Ecke alte Leinwand angehäuft hatte, aber längst nicht genug, um die Handschellen und Fußeisen zu verdecken, die mit Ketten und Ringbolzen an die Planken geschmiedet waren: wieder eine Mahnung, daß sie Gefangene waren und mit dem Schlimmsten zu rechnen hatten, falls sie sich aufsässig verhielten.

Allday richtete lauschend den Blick zur Decke.»Der Anker ist frei, Sir. Sie segeln hoch am Wind, schätze ich. «Scheinbar unzusammenhängend fügte er hinzu:»Es gibt reichlich zu trinken an Bord, Sir. Aber kein gutes Bier. «Angewidert rümpfte er die Nase.»Na ja, was kann man von denen auch erwarten?»

Bolitho blickte erst zu Neale, dann zu Browne hinüber. Beide waren eingeschlafen, wohlbehalten und sicher für den Augenblick in ihrer ureigenen Welt.

Rund um sie stöhnte und arbeitete das Schiff, jede Planke bis zum äußersten beansprucht in diesem Duell mit dem Sturm, der die Kraft der Rudergänger und das Können des Kapitäns zu verspotten schien. Ohne Pause donnerten die Seen gegen den Rumpf, und Bolitho konnte sich vorstellen, wie oben grünes Wasser über das Schanzkleid einstieg, über die Seitendecks rauschte und Unaufmerksame oder Übermüdete wie dürre Blätter in die Speigatten wusch.

Er dachte auch an Belinda, an sein Haus zu Füßen von Pendennis Castle, an Adam und seinen Freund Thomas Herrick. Während er noch versuchte, ihre Gesichter vor seinem geistigen Auge heraufzubeschwören, fiel er in den tiefen Schlaf der Erschöpfung.

Als er wieder zu sich kam, wurde er sich sofort einer Veränderung in seiner Umgebung bewußt. Er begriff, daß er mehrere Stunden lang geschlafen haben mußte, denn durch einen der Niedergänge fiel fahles Tageslicht.

Allday saß kerzengerade auf seiner Kiste, und auch Browne war wach, obwohl er sich noch die Augen rieb und gähnte.

Bolitho beugte sich vor und achtete genauer auf die Schiffsbewegungen. Was hatte ihn geweckt?

«Gehen Sie bitte zum Niedergang, Oliver«, wies er Browne an.»Und sagen Sie mir, ob Sie etwas Verdächtiges hören.»

Nervös erkundigte sich Allday:»Wir können doch nicht schon in Lorient sein, oder?»

«Nein. Bei diesem ablandigen Sturm und in so gefährlichen Gewässern müssen sie den doppelten Weg zum Kreuzen zurücklegen.»

Browne umklammerte eine Niedergangsstufe fester, als von Deck oben eine Stimme zu ihnen herunterscholl: «En haut les gahiers! En haut pour ferler les huniers!»

Browne kam hastig zurück, schräg nach vorn geneigt, um auf dem abschüssigen Deck das Gleichgewicht zu halten.

«Sie haben die Toppsgasten nach oben befohlen, um die Bramsegel aufzugeien.»

Bolitho hörte Getrappel über sich, als die Freiwache auf Stationen rannte, entsprechend diesem letzten Befehl. Aber er sah keinen Sinn darin. Unterbemannt, hatte Allday gesagt. Warum dann die Freiwache um ihren kostbaren Schlaf bringen und ausgerechnet jetzt Segel reffen? Wenn er doch nur hätte sehen können, was da draußen vorging!

Eine Laterne warf ihren gelben Schein auf die Niedergangstreppe, und Bolitho sah einen Leutnant mit zwei bewaffneten Decksoffizieren hastig zu ihnen kommen.

Der Leutnant war jung und offenbar sehr nervös. Aber seine beiden altgedienten Begleiter zierten sich nicht, ließen die Eisen um Bolithos Hand- und Fußgelenke schnappen und verfuhren ebenso mit Browne. Als sie sich auch Allday vornehmen wollten, schüttelte der Leutnant den Kopf und deutete auf Neale. Offenbar behielt Allday seine Bewegungsfreiheit, um den verwundeten Kapitän versorgen zu können.

Bolitho sah auf seine Fesseln nieder.»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, sagte er.

Das Schiff legte sich noch stärker über, während das Getöse über ihnen anwuchs: Stimmen überschrien einander, Blöcke quietschten gellend wie angestochene Schweine. Offenbar hatte der Kommandant ein Wendemanöver versucht, aber nicht geschafft. Dies immerhin ließ sich aus der ganzen Aufregung schließen. Ohne die Bramsegel mußte er… Plötzlich fuhr Bolitho in die Höhe, so weit seine Ketten das zuließen.

Er begriff: Der französische Kommandant wollte ungesehen bleiben. Deshalb hatte er die obersten Segel wegnehmen lassen, damit sein Schiff von ferne gegen den tobenden Hintergrund der Brecher schlechter auszumachen war.

Wie zur Bestätigung seiner Überlegungen hörte Bolitho den Ruf von oben:» Tout le monde ä son poste! Branlebas de combat!»

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Browne ihn an.»Sie machen klar zum Gefecht, Sir!»

Der Lärm schwoll noch an, als die Besatzung die Trennwände und Hängematten abzuschlagen begann, als die Kanonen auf ihren Lafetten in eine Position rumpelten, in der sie besser geladen werden konnten.

Ungläubig starrten die Gefangenen im Orlop einander an.

Dann brach es aus Allday heraus:»Mein Gott, das muß ein Uns-riger sein, Sir!»

Mit eingezogenen Köpfen rannten wieder schattenhafte Gestalten an ihnen vorbei. Laternen wurden angezündet und an die Decke gehängt, wo sie in großen Kreisen frei schwangen; weitere Kisten wurden herbeigezerrt und mitten auf dem Deck festgezurrt. Schwach schimmerten lange Schürzen im spärlichen Licht und eine funkelnde Batterie chirurgischer Instrumente, die Gehilfen des Schiffsarztes bereitlegten.

Niemand kümmerte sich um die drei Männer im Schatten oder um den vierten auf seiner schwankenden Koje.

Wieder zerrte Bolitho an seinen Fesseln. Also stand ihnen das Schlimmste noch bevor. Von einem englischen Kriegsschiff besiegt, zusammen mit dieser Fregatte auf den Meeresgrund zu fahren, das schien ihm der furchtbarste aller denkbaren Tode.

Das Deck richtete sich etwas auf, ein Arztgehilfe lachte leise, aber ohne Humor. Selbst er mußte wissen, daß das Schiff nur deshalb auf ebenerem Kiel lag, weil der Kommandant wieder mehr Segel hatte setzen lassen. Also hatte sein Versteckspiel nichts genützt. Dem Schiff stand eine Gefecht bevor, in dem die Sanitäter hier unten bald so viel zu tun bekommen würden, daß sie sich um die Gefangenen nicht mehr kümmern konnten.

Neale riß die Augen auf und rief mit überraschend klarer Stimme:»Wache! Holt den Schiffsprofos!«Aber niemand reagierte oder starrte Neale auch nur verwundert an.

Bolitho lehnte sich zurück und rüstete sich innerlich.»Allday!»

«Sir?»

«Mach dich bereit.»

Allday sah sich im schwach erleuchteten Krankenrevier um, konnte aber nirgends eine Waffe oder eine Axt entdecken. Trotzdem sagte er heiser:»Bin jederzeit bereit, Sir. Nur keine Sorge.»

Das Warten zerrte an den Nerven; ein Arztgehilfe rannte im Lichtkreis der Petroleumlampe auf und ab wie ein Tier im Käfig.

«Chargez toutes les piecesl»

Das war der Befehl zum Laden der Kanonen; als hätte er nur darauf gewartet, schritt der Arzt aus dem Krankenrevier hinüber zum Tisch unter den pendelnden Lampen.

Bolitho befeuchtete sich die trockenen Lippen und dachte sehnsüchtig an einen kühlen Trunk.

Wieder einmal hatten andere darüber entschieden, was ihm die nächsten Stunden bringen würden.

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