IX Der Preis der Freiheit

Herrick umklammerte die Querreling der Benbow und spähte scharf in den beißenden, vom Sturm waagrecht gepeitschten Regen. Trotz seiner Größe nahm das 74-Kanonen-Schiff vorn und an der Luvreling so viel Wasser über, als sei es schon auf der Fahrt zum Meeresgrund. Selbst Herrick mit seiner in harten Jahren erworbenen Erfahrung hatte mittlerweile jedes Zeitgefühl verloren; kaum daß er sich noch an die Befehle erinnern konnte, mit denen er das Wüten des Sturms überschrien hatte.

Wolfe stolperte über die nassen Decksplanken und fluchte laut, bis er endlich seinen Kommandanten an der Reling erreicht hatte.

«Jetzt muß es bald soweit sein, Sir!«Wolfes rauhe Stimme klang kläglich im Heulen des Sturms und Donnern der See.

Herrick wischte sich übers tropfnasse Gesicht. Seine Haut brannte wie Feuer. Außerdem spürte er allmählich einen Zorn in sich wachsen, der gut zu diesem Unwetter paßte. Von Anfang an, seit sie Plymouth verlassen hatten, war ein Unglück nach dem anderen über seinen kleinen, aber wertvollen Geleitzug hereingebrochen. Zuerst hatte das andere 74er Linienschiff, die Nicator, zwei Mann verloren; gleich am ersten Tag waren sie über Bord gegangen, und obwohl Herrick ihren Kommandanten, Kapitän Valentine Keen, mochte und respektierte, hatte er ihn doch verwünscht, als er mühsam versuchte, das Geleit trotz allem zusammenzuhalten: fünf Handelsschiffe, bewacht von zwei 74ern und einer einsamen Fregatte. Herrick fand sich verbittert damit ab, daß er bei Tagesanbruch wahrscheinlich nur zwei davon in Sichtweite haben würde. Der Sturm war aus Osten mit der Plötzlichkeit eines Hurrikans über sie hergefallen, hatte ihre beschränkte Welt in ein

Inferno aus Gischt und Spritzwasser verwandelt und die Mannschaften so zermürbt, daß Herrick schließlich nachgeben und Befehl zum Beidrehen erteilen mußte; sie ließen sich treiben und hofften das Beste.

Wieder spürte er, wie sich Benbow unter seinen Füßen überlegte; das stark gereffte Großsegel und seine Rah stöhnten unter der Anstrengung, mit der das Schiff sich zu behaupten versuchte, unterstützt dabei von Männern, die jedesmal, wenn sie in die Toppen befohlen wurden, mit dem sicheren Tod rechneten.

Herrick fragte, ob Wolfe es mißbilligte, daß er noch immer keinen Flaggkapitän ernannt hatte. Der fragliche Offizier war durch einen Radbruch seiner Kutsche auf dem Weg nach Plymouth aufgehalten worden, und Herrick hatte beschlossen, nicht auf ihn zu warten. Er war so bald wie möglich ausgelaufen. Aber warum? Drängte es ihn, Gibraltar zu erreichen und die lästigen Handelsschiffe endlich loszuwerden? Oder hatte er seine vorläufige Ernennung zum Kommodore innerlich immer noch nicht akzeptiert,

wollte er die Bestätigung aus irgendeinem Grund hinausschieben, den er selbst nicht kannte?

Er rief:»Der Master behauptet, daß wir etwa fünfundzwanzig Meilen vor der französischen Küste stehen. «Er duckte sich vor einem Spritzwasserguß.»Aber weiß der Himmel, woraus der alte Grubb das schließt!»

Wolfe schnappte nach Luft, als eine Wand grünen Wassers durch die Webeleinen brach und sich über die ohnehin schon pitschnassen Wachgänger und Ausguckposten ergoß.

«Keine Sorge, Sir, wir werden die anderen schon wiederfinden, wenn der Wind nachläßt!»

Herrick zog sich an der Reling weiter. Falls der Wind nachließ. Man hatte ihm nur eine Fregatte, die Ganymede, mitgegeben, mehr konnte der Admiral nicht erübrigen. Herrick fluchte in sich hinein: Es war immer wieder dieselbe Chose. Das kleine, nur mit 26 Kanonen bestückte Schiff hatte noch dazu ein jämmerliches Debüt gegeben: Der Sturm wütete kaum eine Viertelstunde, und schon hatte sie ihre Großbramstenge verloren. Herrick hatte sie danach angewiesen, sich dichter unter Land zu halten. Dort war sie etwas geschützter und konnte eine Notstenge aufriggen, ehe der Sturm noch größeren Schaden bei ihr anrichtete.

Kurz danach hatte Herrick kein einziges Signal mehr absetzen können; der immer noch wachsende Sturm und der frühe Einbruch der Dunkelheit machten das unmöglich.

Wolfe hangelte sich neben ihn.»Der Master bleibt dabei, daß der Wind bis zum Vormittag rückdrehen wird, Sir!«Mit einem schrägen Blick musterte er seinen dickköpfigen Kommandanten.» Ganymede wird sich freikreuzen müssen, wenn er noch weiter dreht.»

Herrick fuhr herum.»Zum Teufel, Mr. Wolfe, das weiß ich!«Er nahm sich zusammen.»Der Konvoi ist zwar zerstreut, aber John Companys[13] Duchess of Cornwall kann sehr wohl selbst auf sich aufpassen, sie ist wahrscheinlich besser bemannt als unsere Ben-bow und mit Sicherheit ebensogut bestückt.»

Er dachte an Belinda Laidlaw, die auf dem mächtigen Ostindienfahrer segelte und dort relativ sicher war; so sicher jedenfalls, wie man bei einem Sommerorkan in der Biskaya, dicht unter einer feindlichen Küste, sein konnte.

Dulcie hatte ihr eine tüchtige Zofe für die Überfahrt besorgt, also war sie nicht allein. Trotzdem machte Herrick sich Sorgen. Frauen gehörten nicht auf die See, nicht einmal als Passagiere.

«Wenn ich nur wüßte. «begann er, unterbrach sich aber, ve rär-gert darüber, daß er seine größte Sorge beinahe laut ausgesprochen hätte: Richard Bolitho, vielleicht noch am Leben, mochte irgendwo in der Dunkelheit dort drüben in einem stinkenden französischen Verlies schmachten. Ober verlassen und sterbenskrank in einer einsamen Fischerhütte liegen.

Wenn er ehrlich war, mußte Herrick sich eingestehen, daß dies der wahre Grund dafür war, weshalb er Plymouth so hastig und ohne Flaggkapitän verlassen hatte. Er wollte die Reise nach Gibraltar und zurück schnellstens hinter sich bringen. Seit der Verlustmeldung von Styx waren keine Neuigkeiten mehr durchgekommen, nicht einmal Gerüchte über das Schicksal ihrer Besatzung. Vielleicht waren tatsächlich alle tot.

Eine See donnerte aufs Batteriedeck und brach sich an den festgezurrten Achtzehnpfündern wie an einer Reihe dunkler Felsen.

Vor Herricks geistigem Auge stand Bolithos Gestalt so klar da, als wettere er und nicht Wolfe diesen Sturm mit ihm ab.

Kurzangebunden sagte er:»Ich gehe nach unten, Mr. Wolfe. Aber rufen Sie mich sofort, wenn Sie mich brauchen.»

«Aye, Sir«, sagte Wolfe und sah Herrick kopfschüttelnd nach. Wenn der Verlust eines Freundes einen Mann so zerrütten konnte, dann verzichtete er lieber auf Freunde.

Er sah, daß sich der Wachoffizier unterhalb der Poop übergab und dabei vom abfließenden Spritzwasser wie ein Ertrinkender gebeutelt wurde. Gellend rief er:»Mr. Nash — Sir! Kümmern Sie sich freundlicherweise um Ihre Pflichten! Zum Henker mit Ihnen, Sir! Sie sind so fehl am Platz wie eine Hure im Beichtstuhl!»

Der unglückselige Leutnant verschwand unter der Poop, um den Rudergängern am Doppelrad beizustehen; wahrscheinlich fürchtete er Wolfes Zorn mehr als die Seetollheit.

In der großen Kapitänskajüte drangen das Jaulen des Sturms und das Donnern der See nur gedämpft durch die dicken Planken. Herrick ließ sich auf einen Stuhl fallen, und sofort sammelte sich auf der schwarz-weiß gewürfelten Bespannung unter ihm eine Wasserpfütze.

Er hörte seinen Steward in der Pantry hantieren und wurde sich seines leeren Magens bewußt. Seit Mittag des vorangegangenen Tages hatte er nichts zu sich genommen. Jetzt war er hungrig und durstig.

Aber nicht sein eigener Steward, sondern der schmächtige Oz-zard brachte ihm den Imbiß. Vorsichtig stellte er das Tablett neben Herricks Ellbogen und duckte sich wie ein ängstliches Tierchen, als das Deck wieder in ein Wellental sackte.

Herrick musterte ihn düster. Wie hätte er Ozzard trösten können, wenn er selbst Bolithos Verlust immer noch so schmerzhaft spürte wie eine offene Wunde? Er nahm einen Schluck Brandy und wartete darauf, daß er ihm Taubheit und Salzgeschmack aus der Kehle brannte.

Der Seesoldat vor der Tür störte ihn auf.»Midshipman der Wache, Sir!»

Müde wandte sich Herrick dem eintretenden Kadetten zu.»Was gibt's, Mr. Stirling?»

Der Junge war knapp vierzehn, hatte sich aber nach den ersten schwierigen Wochen auf der Benbow, seinem ersten Schiff, prächtig eingelebt. Seine Jugend und Gesundheit isolierten ihn wie Schutzschichten vor dem Drama, das sich rund um ihn abspielte.

«Empfehlung des Ersten Offiziers, Sir, und der Horizont wird schon heller.»

Hastig schweifte sein Blick durch die geräumige Kajüte, die im Vergleich zur Fähnrichsmesse unten im Orlopdeck ein Palast war. Wenn er sich alles gut merkte, konnte er es im nächsten Brief seinen Eltern erzählen oder — gleich nachher — seinen Kameraden während der Freiwache.

Herrick wäre das Kinn vor Erschöpfung um ein Haar auf die Brust gesunken.»Und der Wind?«blaffte er.

Der Junge schluckte krampfhaft.»Stetig aus Ost, Sir. Der Master glaubt, daß er jetzt bald nachlassen wird.»

«So, glaubt er das?«Herrick streckte sich gähnend.»Meistens behält er ja recht.»

Er merkte, daß der Midshipman den glänzenden Prunksäbel an der Wand anstarrte. Das erinnerte ihn an die Zeit, als Neale auf der alten Phalarope Midshipman gewesen war, an Adam Pascoe, der sich nach einem eigenen Schiff verzehrte, jetzt aber um seinen geliebten Onkel trauerte — und an die Dutzende, ja Hunderte junger Offiziersanwärter, die er im Lauf der Jahre hatte kommen und gehen sehen. Einige hatten inzwischen Kapitänsrang erreicht, andere den Dienst quittiert, um ihr Glück anderswo zu suchen. Und viele von ihnen waren nicht einmal so alt geworden wie der junge Stirling hier.

Freundlich sagte Herrick:»Nehmen Sie den Säbel ruhig herunter und sehen Sie ihn sich an.»

Der Junge ging in seinem salz- und teerverkrusteten Bootsrock unter den aufmerksamen Blicken Herricks und Ozzards zur Wand hinüber, nahm den Säbel vorsichtig ab und drehte ihn langsam unter dem Licht der Lampe hin und her, um die eingravierten Worte und Verzierungen zu studieren.

Ehrfürchtig sagte er:»Ich wußte gar nicht, Sir — ich meine…«Mit glänzenden Augen wandte er sich um.»Er muß ein großartiger Offizier gewesen sein, Sir.»

Herrick fuhr auf.»Gewesen sein?«Bei seinem Ton zuckte der Junge so erschreckt zusammen, daß er gemäßigter fortfuhr:»Ja, Mr. Stirling, das war er. Mehr noch: ein großartiger Mann.»

Sorgsam hängte der Midshipman den Säbel zurück an die Wand.»Tut mir leid, Sir, ich wollte Sie nicht kränken.»

«Das haben Sie auch nicht getan, Mr. Stirling. Ich hoffte auf das Unmögliche und vergaß, daß es keine Wunder mehr gibt.»

«Ich — ich verstehe, Sir.»

Stirling zog sich zur Tür zurück, fest entschlossen, kein Detail in diesem Raum, kein Wort dieses Gesprächs mit dem Kommodore jemals zu vergessen.

Herrick sah ihm nach. Junge, du verstehst noch nicht die Hälfte, dachte er. Aber eines Tages, wenn du Glück hast und überlebst, wirst du mich wirklich begreifen.

Kurz darauf entfiel das Glas seinen erschlaffenden Fingern und zerschellte auf dem Boden Ozzard, der den Schlafenden nicht aus den Augen gelassen hatte, bückte sich nach den Scherben. Doch dann richtete er sich unvermittelt wieder auf und zog eine verächtliche Grimasse. Sollte doch der Steward des Kommodore die Bescherung wegräumen, dachte er. Er warf einen Blick zur Kombüsentür und verbannte Herricks Worte aus seinem Gedächtnis. Was Bolitho betraf, irrte sich der Kommodore. Alle irrten sich.

Ozzard schlich in die Kombüse und setzte sich in eine Ecke, hörte das Schiff um sich herum in allen Verbänden ächzen. Nein, er war Konteradmiral Bolithos Steward, niemandes sonst, und würde hier warten, bis er zurückkehrte. Basta!

Herrick eilte quer übers Achterdeck und spähte, von der Gischt fast geblendet, zu Wolfes hoher Gestalt bei den Finknetzen hinüber.

«Da, Sir!«rief Wolfe ihm entgegen.»Hören Sie?»

Herrick befeuchtete sich die Lippen und ignorierte die Neugier der Umstehenden. Ja, da war es wieder. Nun bestand kein Zweifel mehr.

«Kanonenfeuer«, sagte er heiser.

Wolfe nickte.»Leichte Schiffsartillerie, Sir. Wahrscheinlich Ganymede im Gefecht mit einem Fahrzeug ähnlicher Größe.»

Herrick stapfte das schräge Deck nach Luv hinauf und spähte angestrengt über die weißmähnigen Wellenkämme in das erste schwache Grau des Morgens.

«Na, Mr. Grubb?»

Der Master schürzte die Lippen, nickte aber.»Die Peilung stimmt, Sir. Unwahrscheinlich, daß sich ein anderes englisches Kriegsschiff hier aufhält.»

Wütend wie ein Tier in der Falle fixierte Herrick die wogende Wasserwüste.»Ist inzwischen eines unserer Schiffe wieder in Sicht gekommen?»

«Ich habe die Ausguckposten schon vergattert, Sir«, berichtete Wolfe.»Aber noch gibt es nichts zu melden.»

Wieder hörte Herrick das ferne Krachen, das wie Donner mit dem Wind heranrollte. Ja, das waren zwei Schiffe. Trotz des Sturms im Gefecht miteinander, weil sie sich wahrscheinlich rein zufällig begegnet waren.

«Irgendwelche Befehle, Sir?«erkundigte sich Wolfe.

«Bis wir Nicator sichten, bleiben wir beigedreht liegen, Mr. Wolfe. «Er wandte den Blick ab.»Andererseits aber…»

Wolfe verzog das Gesicht.»Stimmt, Sir, das ist ein großes Aber.»

Herrick kniff die Augen zusammen, als könne er dann die Umrisse der französischen Küste eher erkennen. Es würde eine halbe Ewigkeit dauern, gegen diesen Oststurm anzukreuzen. Aber andererseits konnte Ganymede bereits in einer verzweifelten Lage sein und dringend Hilfe benötigen. Wenn sie mit dem ersten Tageslicht die Mastspitzen der Benbow über die Kimm steigen sahen, mochte ihnen das frischen Mut geben und ihren Gegner verunsichern.

Kapitän Keen auf Nicator würde auch allein zurechtkommen. Sobald er erkannte, daß der Konvoi versprengt worden war, würde er sich mit seinem Linienschiff auf die Suche machen und seine verirrten Schützlinge wieder zusammentreiben.

Aber angenommen, Keen konnte nicht alle aufspüren, und das eine oder andere Handelsschiff mußte sich ohne Begleitschutz nach Gibraltar durchschlagen? Herrick gab sich keinen Illusionen hin. In diesem Fall konnte er die Bestätigung seines Kommodoreranges sofort vergessen, und auch jede künftige Beförderung würde nur noch in Dulcies Träumen existieren.

Sein Blick wanderte von Wolfe zu Grubbs klobiger Gestalt und dann zu dem junge Midshipman namens Stirling, der mit seiner Bewunderung für Bolithos Prunksäbel ahnungslos einen wunden Punkt berührt hatte. Dann glitt sein Blick nach vorn, über die ganze Länge des Schiffes hinweg. Seine Benbow. Wenn er sich entschloß, setzte er zweifellos auch sie aufs Spiel.

Wolfe starrte Herrick schweigend an; er ahnte, daß der Kommandant eine für sie alle wichtige Entscheidung traf.

Aber Grubb, der alte Salzwasserbuckel, der seinerzeit unbeirrt ein Lied gepfiffen hatte, als Lysander in die Schlacht gesegelt und rundum die Hölle losgebrochen war, der alte Grubb verstand.

Er brummte:»Wenn wir über Stag gehen, Sir, und auf Backbordbug…»

Herrick fuhr herum und starrte Grubb an. Hatte er sich erst einmal entschieden, war der Rest einfach.

«Einverstanden. «Und zu seinem hochgewachsenen Ersten Offizier sagte er:»Rufen Sie alle Mann an Deck, Mr. Wolfe. Wir setzen Segel. Lassen Sie aufentern und auch die Bramsegel setzen, bitte. «Er starrte zur Kimm, als der Sturm von querab wieder Kanonendonner herantrug.»Wollen mal nachsehen, was Ganymede da aufgespürt hat.»

Als die Pfeifen schrillten und Seeleute wie Soldaten auf Stationen eilten, wandte Herrick sich ab und schritt nach achtern. Am großen Rad blieb er kurz neben Grubb stehen, der seine Rudergänger auf die Kursänderung vorbereitete. Auch der junge Stirling stand da und kritzelte etwas auf eine Schiefertafel, während er darauf wartete, daß ein Schiffsjunge das Stundenglas umstülpte. Der Midshipman hob den Blick, als Herrick herantrat, und lächelte ihn an.

Mit einer Gelassenheit, die nur äußerlich war, musterte Herrick den Jungen.»Was amüsiert Sie so, Mr. Stirling?»

Stirlings Lächeln verblaßte unter Grubbs drohendem Blick, der ihm die Störung verübelte.

Aber dann faßte er sich ein Herz.»Sie sprachen vorhin von Wundern, Sir. Vielleicht gibt es sie doch noch?»

Herrick hob die Schultern.»Das wird sich zeigen. In der Zwischenzeit begeben Sie sich bitte auf die Focksaling und nehmen Sie ein Fernrohr mit. Hoffentlich sind Ihre Augen ebenso scharf wie Ihre Zunge.»

Grubb sah dem Midshipman nach, der mit einem hüpfenden Teleskop auf dem Rücken das Luv-Seitendeck hinunterannte.

«Du meine Güte, Sir, das verschlägt einem doch die Sprache! Diese jungen Flegel heutzutage haben keinen Respekt.»

Herrick wandte sich ihm zu und antwortete tiefernst:»Wir in ihrem Alter waren da ganz anders. Nicht wahr, Mr. Grubb?»

Herrick ging weiter und ließ einen breit grinsenden Grubb am Rad zurück. Als dieser den Blick seines Rudergängers spürte, brüllte er ihn an:»Aufgepaßt, du Faulpelz! Oder ich wecke dich mit der Pike, so wahr mir Gott helfe!»

Kurz danach ging die Benbow mit hart angebraßten Rahen durch den Wind, daß die Leestückpforten unterschnitten und das Deck schwindelerregend krängte.

Zufrieden lächelte Herrick in sich hinein, als er die Toppsgasten auf den oberen Rahen auslegen sah, während andere unten an Deck mit aller Kraft in die Schoten und Brassen einfielen, bis das Schiff den Bug zielstrebig dem Land zuwandte.

Sie mußten sich auf ein langsames und mühseliges Vorwärtskommen gefaßt machen, weil sie meilenweite Schläge in beide Richtungen segeln mußten, um jeweils eine Kabellänge Luvraum zu gewinnen.

Aber als Herrick so seine Leute beobachtete, den Stand jedes einzelnen Segels und den Druck im Rigg begutachtete, stieg in ihm langsam Genugtuung auf; er war froh, daß er nicht auf die Stimme der Vernunft gehört hatte.

«Voll und bei, Sir«, meldete der eine Rudergänger so erregt, als hätte Herricks Stimmung ihn angesteckt.»Süd zu Ost liegt an!»

Herrick sah zu Wolfe hinüber, der seine Anweisungen durch die lange Sprechtrompete brüllte. Mit den roten Haarsträhnen, die unter seinem salzfleckigen Hut hervorsahen, erinnerte er eher an einen Wikinger als an einen Marineoffizier.

Vielleicht war es ja schon zu spät, dachte Herrick. Oder nur vergeudete Zeit. Aber falls sie ein französisches Schiff erobern oder auch nur ein paar Franzosen gefangennehmen konnten, hörten sie vielleicht etwas von den Überlebenden der Styx. Das geringste Detail, selbst ein Gerücht, und die Sache hatte sich gelohnt.

Wolfe ließ seinen Trichter sinken und rief herüber:»Sobald der Wind es zuläßt, schütteln wir noch ein Reff aus, Sir.»

Herrick nickte. Endlich hatte Wolfe ihn begriffen.»Aye. Und zum Teufel mit den Konsequenzen!»

Wolfe hob den Blick zu den Toppsgasten, die hoch über seinem Kopf arbeiteten, und zu dem scharlachroten Wimpel, der vom Masttopp lang auswehte.

Von Konsequenzen hatte der Kommandant gesprochen. Die letzte und wichtigste davon war dort oben.

Bolitho stemmte die Schultern gegen die Spanten und verzog das Gesicht, als die Fregatte nach einem kurzen Gieren wieder voll ins nächste Wellental sackte. Das fühlte sich ja an, als käme der Bug nie wieder hoch. Als die Wasserwand gegen den Rumpf schlug, spürte Bolitho die Erschütterung so stark im ganzen Körper, als wäre das Schiff auf Grund gelaufen.

Immer wieder mühte er sich damit ab, das Geschehen an Deck nachzuvollziehen und auch die Maßnahmen, die jetzt drüben auf dem feindlichen Schiff für das Gefecht getroffen wurden. Die Ceres segelte zwar in Luv und hatte damit einen Vorteil, aber bei so steiler See konnte das auch hinderlich sein. Bolitho hörte gedämpftes Rufen, manchmal auch das Knirschen gequollenen Tauwerks in den Blöcken, und stellte sich vor, wie der französische Kommandant sein ganzes Können aufbot, um sich in eine günstige Position zu manövrieren.

Allday schlurfte zu einem Wasserfaß hinüber und füllte in aller Ruhe einen Becher für Neale. Dabei warf er einen Blick durch den nahen Niedergang nach oben und versuchte, den Sinn des Geschreis zu erraten. Die Gefechtsvorbereitungen verstand er natürlich, und auch die Wetterverhältnisse waren ihm klar.

Er wartete, bis das Deck wieder ruhig lag, und hastete zur Bordwand zurück. Während er sich mit einer Hand an der Koje festhielt und mit der anderen den Becher an Neales Lippen setzte, sagte er leise zu Bolitho:»Immer noch ziemlich rauhe See, Sir. Ich höre Wasser übers Batteriedeck waschen. «Mühsam grinsend fügte er hinzu:»Das wird die Frogs[14] ganz schön ins Schwitzen bringen.»

Browne zog die Knie fast ans Kinn und prüfte angeekelt seine Fußfesseln.»Wenn wir uns nur frei bewegen könnten!»

Vermehrtes Klappern der Handspaken und dumpfes Poltern über ihren Köpfen verriet ihnen etwas von den Anstrengungen der Mannschaft oben. Der Wind trieb sie immer näher auf die Gefahr zu, sie mußten also kämpfen, ob ihnen das nun paßte oder nicht.

Der Arzt und seine Gehilfen gruppierten sich wartend um ihren Operationstisch. Wie geduldige Geier, dachte Bolitho. Ihr Anblick hatte ihn noch immer demoralisiert.

«Hört mal!»

Sie lehnten sich so weit vor, wie ihre Ketten es zuließen, als eine metallisch klingende Stimme das tosende Duett von Wind und See überschrie.

«Rassemblez-vous ä la batterie de tribordl»

Browne nickte ruckartig.»Die Steuerbordbatterie soll als erste feuern, Sir.»

Allday biß die Zähne zusammen.»Obacht — jetzt geht's nach oben!»

Trotz seiner Warnung kam die bei der Aufwärtsbewegung des Schiffes abgefeuerte Breitseite überraschend und betäubend. Der Rumpf bäumte sich auf wie ein lebendes Wesen, die Decksplanken erbebten, fast einstimmig krachten die Kanonen; das Geschrei der Kanoniere ging unter im Quietschen der Lafetten und im dringlichen Kommandogebrüll vom Achterschiff.

Und noch einmal. Die Ceres schien sich scharf überzulegen, als ihre Kanonen abermals aufbrüllten. Tief unten im Orlopdeck, wo der infernalische Lärm komprimiert und noch verstärkt wurde, glaubte Bolitho, die Trommelfelle würden ihm platzen. Staub schoß aus den Planken, und den Niedergang herab kam Rauch gedriftet wie Nebel im Moor.

Einige Arzthelfer waren zusammengeschreckt und starrten nervös in den Rauch, andere machten sich mit Instrumenten und Eimern zu schaffen.

Heiser rekapitulierte Browne:»Zwei Breitseiten, Sir, aber keine Reaktion des Gegners.»

Bolitho schüttelte den Kopf zum Zeichen, daß er jetzt nicht sprechen wollte. Er fürchtete, daß ihm sonst etwas entging. Genau wie seine Gefährten konnte er die meisten Geräusche oben identifizieren: das Auswischen der Rohre, das Feststopfen der Ladung, die huschenden Schritte der Munitionsmänner, das unzusammenhängende Geschrei der Stückmeister, die ihr Ziel auffaßten.

Wie aber sah das andere Schiff aus? War es groß, war es klein?

Wieder einmal erschütterte eine Breitseite sie bis ins Mark. Daß sie nach Lee feuern mußten, war ein großes Erschwernis, dachte Bolitho. Bei diesem hohen Seegang mußten die Stückpforten fast unterschneiden, und wenn das gegnerische Schiff von einem kühlen Kopf geführt wurde, konnten die Franzosen kaum mit voller Erhöhung feuern.

Vereinzelte Jubelrufe oben, dann eine Breitseite mit länger auseinandergezogenem Feuer: immer zwei Schüsse und dann eine Pause von einigen Sekunden.

Erbost murmelte Allday:»Entweder trauen sich die Unsrigen nicht näher ran, oder die Franzosen haben sie schon entmastet.»

Bolitho sah den Kreis der Laternen schräg zur Decke hin kippen und so stehenbleiben, wie an unsichtbaren Fäden befestigt. Das Schiff legte sich stark über und schwang nur langsam wieder zurück. Also hatte der Kapitän gehalst, überlegte Bolitho, und lief jetzt einen etwas ruhigeren Kurs, auf dem er den Wind fast von achtern hatte. Offenbar hatte er sein Selbstvertrauen wiedergewonnen und nutzte die ganze Kraft des Sturms, um aus der Landabdek-kung zu kommen und den Feind einzuholen. Bolitho mußte seine Enttäuschung verbergen. Denn dies bedeutete, daß das andere Schiff entweder beschädigt oder den Franzosen hoffnungslos unterlegen war, an Bewaffnung ebenso wie an Manövrierfähigkeit.

Da schlug mit Krach und Donner eine Lawine aus Eisen in den Rumpf. Bolitho blieb vor Schmerz die Luft weg, als er hochgerissen wurde, so weit es seine Fesseln und Ketten zuließen. Halb betäubt sah er, daß sich das Orlopdeck mit Rauch und Lärm füllte.

Der Rumpf erbebte in allen Verbänden, als oben Stengen und Spieren zu Bruch gingen und aufs Deck krachten. Dann ein dumpfer Schlag, als sei eine Kanone umgestürzt. Stimmen überbrüllten das Getöse, verwandelten sich aber in jämmerliche Schmerzens-schreie, als eine zweite Breitseite — nur wenige Minuten nach der ersten — in den Rumpf krachte.

Im Rauch nur schlecht auszumachen, rutschten und hangelten sich Gestalten den Niedergang herunter; andere wurden rücksichtslos in den Lichtkreis der Laternen gezerrt. Die Arzthelfer erwachten zu fieberhafter Tätigkeit, als hätte der Blutgeruch sie aus ihre Trance gerissen.

Wieder legte sich das Deck ruckartig über: Die Franzosen erwiderten das Feuer. Noch einmal schlugen Kugeln ein, diesmal tiefer im Rumpf, und bald daraufhörte Bolitho das Quietschen der ersten Lenzpumpe.

Über dem Operationstisch hob und senkte sich ruckartig der Schatten des Chirurgen, das Lampenlicht reflektierte kurz von einer Messerschneide, dann von einem Sägeblatt. Unter seinen Händen wand sich eine nackte Gestalt, wurde aber von den Arzthelfern mit Aufbietung aller Kräfte niedergehalten.

Dann stürzte ein Mann aus dem Kreis um den Tisch und warf den amputierten Arm in einen abseits stehenden Eimer, als sei er ein Stück Abfall.

Wieder wurden schluchzende, schreiende Männer mit Gewalt ins Lazarett gezerrt oder getragen. Bolitho verlor jedes Zeitgefühl, selbst das frühe Morgenlicht verblaßte im Rauch und Dampf der Schlacht.

Die Kanonen schossen jetzt weniger systematisch, die Detonationen wirkten jedoch noch lauter; Bolitho folgerte daraus, daß der Gegner sehr nahe gekommen war und das Krachen zwischen den beiden Bordwänden widerhallte. Das Gefecht hatte eskaliert; bald mußte das Ende kommen.

Gebannt, mit schreckgeweiteten Augen, starrte Browne zu dem wie wahnsinnig arbeitenden Arzt hinüber. Er war kein junger Mann mehr, bewegte sich aber mit unglaublicher Energie. Er schnitt, sägte, nähte und winkte nach dem nächsten Verwundeten mit solcher Hast, daß ihn nicht einmal der Einschlag feindlicher Kanonenkugeln ablenken konnte. Seine Unterarme und die Schürze glänzten grellrot. Es war ein Bild des Grauens.

Gepreßt sagte Browne:»Allmächtiger Vater, gib, daß ich an Deck sterbe, wenn es soweit ist, und nicht in diesem Schlachthaus!»

Ein Chor warnender Schreie, dann atemberaubende Stille — und schließlich ein scheinbar endloser Donnerschlag: Ein ganzer Mast kam von oben und stürzte aufs Deck. Das Schiff bockte, als wolle es die tote Last abschütteln; Bolitho hörte Äxte auf das Gewirr der Wanten, Stage und Spieren einbauen, dann das schärfere Knattern von Gewehrfeuer und das Kläffen der Drehbassen.

«Nahkampf!«stieß er hervor.»Sie müssen gleich kommen.»

Wieder schrillten Schreie durch das Inferno, weitere Wrackteile polterten oben aufs Hauptdeck, und Bolitho wurde vom Scheuern und Klappern der gebrochenen Takelage an die letzten Augenblicke der Styx erinnert.

Wild um sich schlagend, fuhr Neale auf seiner Koje hoch und schrie:»Her zu mir, Leute! Haltet euch tapfer!«Blindlings holte er nach dem herbeieilenden Allday aus, aber der Schlag war so schwach wie der eines Kindes.

Allday knurrte:»Ich bringe Sie jetzt hier raus, Käpt'n. Also seien Sie ein artiger Junge.»

Im Zwielicht beugte er sich über zwei verwundete Seeleute, die von den Arztgehilfen bisher übersehen worden waren, und rollte den einen auf den Rücken. Aus der Kehle des Franzosen ragte ein Holzsplitter, so groß wie ein Seitengewehr, und der Mann starrte in qualvoller, stummer Agonie zu Allday empor. Mit rasselndem Atem sah er zu, als dieser ihm das Entermesser unter dem Gürtel hervorzog und es an sich nahm. Sein Kamerad war schon tot und außerdem unbewaffnet. Allday wandte sich von ihm ab und kehrte zu Bolitho zurück; er begann, mit der Spitze des Entermessers das Holz zu bearbeiten, in dem die Ringbolzen von Bolithos Fesseln saßen.

Begleitet von verwirrten und erschreckten Rufen, kamen weitere Verwundete herunter, aber diesmal wurden sie vorsichtiger behandelt. Bolitho erkannte einen abgewinkelten Arm, einen größer werdenden, dunkel glänzenden Fleck auf der Brust eines Mannes, dem ein schweres Kaliber zwischen die Rippen gefahren war, und er sah auch die Goldepauletten des Kommandanten funkeln.

Hinter ihm kletterten zwei Soldaten die Leiter herunter; Bolitho identifizierte ihre Uniformen: Marineinfanterie.

Sie hielten sich fern von den anderen, standen nur da, in den Fäusten die Musketen mit aufgepflanztem Bajonett, und starrten wortlos zu den Gefangenen hinüber. An ihrem Auftrag konnte kein Zweifel bestehen.

Der Arzt schnitt dem französischen Kapitän das Hemd vom Leibe, trat dann aber zurück und winkte seine Helfer herbei.

«Il est mort.»

Die leichter Verwundeten reckten die Hälse und spähten durch den Qualm zum Operationstisch, offenbar ohne zu begreifen. Das Schießen an Deck ließ nach, als sei auch den Männern dort oben der Schreck über den Tod des Kommandanten in die Glieder gefahren.

Und dann kam der dumpfe Aufprall und das mahlende Scheuern, mit dem das fremde Schiff sich knirschend längsseit legte.

Das Deck unter Bolitho krängte stark; wahrscheinlich hatte der andere Kommandant es so eingerichtet, daß der Wind die ve rkrüp-pelte Ceres gegen ihn drückte. Jetzt verhakten sich Riggs und Spieren in einer letzten, unlösbaren Umarmung.

«Hurra! Hurra!«Wildes, fast nicht mehr menschliches Geschrei oben.»Männer von Ganymede — mir nach!»

Als Antwort schlug klirrend Stahl auf Stahl, krachten vereinzelte Musketen- und Pistolenschüsse zum Getrappel vieler Füße.

Für die beiden Marinesoldaten mußte das ein Signal gewesen sein. Der Korporal, Bolitho am nächsten, hob die Muskete, das aufgepflanzte Bajonett funkelte im Licht, als er auf Neales Brust anlegte.

«Zu spät, Kumpel!«Allday sprang aus dem Schatten, das große Entermesser schon zum Schlag erhoben, und hieb es dem Soldaten quer ins Gesicht. Als der Mann fiel und sich in seinem Blut wand, griff Allday den zweiten Soldaten an. Auch dieser hatte angelegt, schien aber vor Schreck über das Schicksal seines Kameraden erstarrt zu sein.

«Hat dich verlassen, dein Mut, wie?«brüllte Allday. Mit dem ersten Schlag spaltete er ihm den Brustriemen; die Schneide drang so tief ein, daß der Soldat vornüber zusammenklappte; seine Schreie verstummten erst, als das Entermesser beim zweitenmal auf seinen exponierten Nacken niederfuhr.

Mit einem Würgen in der Kehle hatte Browne zugesehen. Überall um sie her gellten Schreie, Flüche und Schmerzgeheul. Und immer wieder das stählerne Klirren der Säbel, obwohl die Kämpfenden schon auf so blutbesudelten Planken standen, daß ihnen die Füße wegrutschten.

Allday klammerte sich mit einer Hand an Neales Koje und parierte mit der anderen jeden Versuch, dem Kranken nahe zu kommen. Eine Musketenkugel schlug nur zollbreit neben Bolithos Schulter in die Bordwand, und einmal wirbelte Alldays Schneide schützend wie ein Schild über Bolithos Kopf durch die Luft.

Ein Mann stürzte leblos den Niedergang herab, ein anderer schrie gellend, bevor ein Säbelhieb den Ton so abrupt zum Verstummen brachte, als sei eine Tür zugeschlagen worden.

Plötzlich stand ein britischer Marinesoldat am Fuß der Leiter, die weißen Breeches blutbeschmiert, die Augen unter dem wirren Haar vor Wahnwitz funkelnd. Er hielt die Muskete stoßbereit, das besudelte Bajonett zitterte.

Als er Allday mit seinem blanken Entermesser entdeckte, schrie er wild:»Hierher, Kameraden, hier leben noch ein paar von den Hunden!«Dann holte er aus.

Schulter an Schulter hatte Allday schon manchesmal mit den britischen Marinesoldaten gefochten. Aber noch nie hatte er ihre Angriffswut auf der anderen Seite erlebt.

Der Nahkampf hatte den Soldaten in einen Rausch versetzt, hatte ihn toll gemacht, bis er von blinder Mordlust getrieben wurde. Allday wußte, den konnte er mit erklärenden Worten nicht bremsen. Hinter ihm stolperten noch mehr Briten den Niedergang herunter, und er begriff: Wenn er nicht sofort reagierte, war er in der nächsten Sekunde ein toter Mann.

«Halt, du verdammter Idiot!«Alldays Kasernenhofton bremste den Seesoldaten mitten im Ausfall.»Schneide den Offizieren hier die Fesseln durch, oder ich schlage dir den Schädel ein!»

Offenen Mundes starrte der Soldat ihn an. Und dann begann er zu lachen — lautlos, aber so heftig, daß sein ganzer Körper krampfhaft zuckte. Es schien kein Ende zu nehmen.

Ein englischer Leutnant erschien mit blutigem Säbel und sah sich so mißtrauisch im Orlop um, als wittere er weitere Gefahren. Ungeduldig stieß er den hysterischen Seesoldaten beiseite, starrte erst Neale an und dann die anderen.

«Um Gottes willen — schafft diese Gefangenen hier an Deck! Aber macht schnell, der Kommandant hat schon den Rückzug befohlen.»

Ein Seemann eilte mit einem Spieß herbei und brach damit die Ringbolzen aus dem Holz; dann wurden Bolitho und Browne auf die Füße gezogen.

«Folgt mir!«befahl der Leutnant barsch.»Und zwar ein bißchen plötzlich!»

Bolitho streifte die Handschellen ab und sagte zu zwei Matrosen, die Neale aus seiner Koje hoben:»Das ist Kapitän John Neale von der Fregatte Styx.«Als der Leutnant sich gereizt umwandte, fuhr er fort:»Ich fürchte, Ihren Namen habe ich nicht verstanden, Mr. -?»

Jetzt, da der Wahnsinn des Gefechts langsam von ihnen abfiel, achteten die umstehenden Enterer auf den Wortwechsel, und einige grinsten sogar über die Verlegenheit ihres Anführers.

Der Leutnant funkelte Bolitho an.»Ich Ihren auch nicht, Sir!«schnarrte er.

Browne, der seinen verkrampften Muskeln noch nicht traute, machte einen ersten vorsichtigen Schritt auf den Leutnant zu. Wie er es schaffte, wußte er später nicht mehr, aber Allday schwor, er hätte nicht mit der Wimper gezuckt.

«Vor Ihnen steht Konteradmiral Bolitho«, sagte Browne kühl.»Sind Sie jetzt zufrieden, Sir — oder haben Sie vor, heute jeden ranghöheren Offizier anzublaffen, der Ihnen begegnet?»

Errötend stieß der Leutnant seinen Säbel in die Scheide.»Ich — ich bitte um Entschuldigung, Sir«, stammelte er.

Bolitho nickte ihm zu und ging mit steifen Beinen zur Niedergangsleiter. Hoch über seinem Kopf konnte er die Luke erkennen, die aufs Batteriedeck führte. Sie war so ungewohnt hell, daß das Schiff völlig entmastet sein mußte.

Fest umklammerte er den Handlauf, um das Beben seiner Finger unter Kontrolle zu bekommen.

«Sie haben sich gut gehalten«, sagte er zu dem Leutnant.»Aber ich hörte, daß Sie > Ganymede< riefen?»

Der Leutnant wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. Er zitterte wie im Fieber — jetzt, da alles vorbei war. Das Entsetzen über das, was er gesehen und getan hatte, würde später kommen.

Aber die eingedrillte Disziplin gab ihm Halt.»Aye, Sir«, erwiderte er und riß sich zusammen.»Wir sind von der Ganymede und gehören zu einem Geleit unter Kommodore Herrick.»

Sekundenlang konnte Bolitho den Mann nur anstarren. Das war doch Irrsinn! Er mußte genauso verrückt sein wie vorhin der Seesoldat in seinem Blutrausch.

«Vielleicht kennen Sie den Kommodore?«Der Leutnant war unter Bolithos Blick zusammengezuckt.

«Ich kenne ihn gut, ja.»

Langsam einen Fuß über den anderen setzend, stieg Bolitho ans Licht. Er kam an schmutzigen, keuchenden Enterern vorbei, die sich grinsend auf ihre Waffen stützten und ihm zunickten.

Dann erblickte er das englische Schiff, das von Draggen längs-seit gehalten wurde. Ein Midshipman rannte drüben nach achtern, um dem Kommandanten zu berichten, wen sie im Orlopdeck der Ceres entdeckt hatten.

Kurz darauf eilte der Kommandant ihm entgegen und begrüßte ihn freudestrahlend.»Willkommen, Sir, willkommen! Ich bin stolz, daß mein Schiff Ihnen zu Diensten sein konnte. «Mit einer Geste des Bedauerns wies er auf die Schäden im Rigg und an Deck.»Er war uns an Feuerkraft überlegen, deshalb habe ich ihn zu einer Verfolgungsjagd verlockt. Danach…«Er zuckte die Achseln.»Es war reine Erfahrungssache. Die Franzosen haben gute Schiffe, aber glücklicherweise nicht so gute Seeleute wie wir.»

Bolitho sah sich an Deck von Ganymede um und holte tief Atem. Es konnte nicht wahr sein. Im nächsten Augenblick würde er in der Zelle erwachen oder in der engen Kutsche.

Der Kommandant ließ sich in seinem Bericht nicht stören.»Wir haben zweimal feindliche Segel gesichtet, aber die Schiffe blieben auf Distanz. Trotzdem, fürchte ich, müssen wir unsere Prise hier aufgeben. Der Wind hat gedreht.»

«An Deck! Segel in Lee voraus!»

Der Kommandant fuhr herum.»Zurück an Bord mit den Enterern«, befahl er scharf.»Und dann laßt die Hulk abtreiben. Die wird keinem mehr gefährlich.»

Wieder erklang die Stimme des Ausguckpostens im Masttopp:»Es ist ein Linienschiff, Sir. Die Benbow!»

Bolitho schritt quer übers Deck zu Neale hinüber, den man bis zum Eintreffen des Schiffsarztes dort hingelegt hatte.

Neale starrte in den blauen Himmel und flüsterte:»Wir sind frei, Sir. Und zusammen.»

Mühsam hob er den Arm und umklammerte Bolithos Hand mit aller Kraft, die ihm noch verblieben war.

«Mehr wollte ich nicht, Sir. Nur noch das.»

Auf Neales anderer Seite kniete Allday und bemühte sich, die Augen des Sterbenden vor der grellen Morgensonne zu schützen.

«Beruhigen Sie sich, Käpt'n. Jetzt fahren wir nach Hause.»

Aber Bolitho fühlte die Hand in seiner erschlaffen. Er wartete, dann beugte er sich vor und drückte Neale die Augen zu.»Da ist er schon, Allday. Er ist schon daheim.»

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